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Petits
Frères
Eine Szene, die ironischste und vielleicht traurigste,
spielt auf einer Rolltreppe am U-Bahn-Eingang. Zwei der Jungs, die man zuvor
näher kennen gelernt hat, schwadronieren darüber, wie sie sich ihre
Zukunft vorstellen. Ihr Traum vom Erfolg: Gangster werden, das was ihre großen
Brüder sind, schnelle Autos fahren, eher keine Jobs, die Verlängerung
des Lebens, das man sie ohnehin schon leben sieht, nur im größeren
Format. Die Rolltreppe fährt während dieser sehr lebendigen Dialoge
nach unten, aber die beiden trotzen ihr, erzählen sich, wie toll ihr Leben
werden wird, nach oben stapfend, wo sie helles Tageslicht erwartet.
Begonnen hat alles mit einem Stiefvater, der nicht
zu ertragen ist. Talia packt ihren Pitbull und flieht ins Ungefähre, wo
vielleicht ein Freund wohnt. Der ist nicht da und die Gegend (sie selbst kommt
aus Belleville, aber der Name trifft's nicht ganz) ist nicht die beste. Damit
hat der Film seine beiden Orte gefunden, Belleville, der Ort der dysfunktionalen
Familie, vor der man nur nur flüchten kann, und die Banlieue-Siedlung,
deren Gesetze Talia, schmerzlich, kennen lernt. Sie bekommt Unterschlupf, aber
man stiehlt ihr den Hund. Sie gewinnt Freunde, aber es sind justament die Diebe.
Eine ungewohnte, aber sehr strenge Sozialordnung gilt in der Siedlung: es gibt
die Großen und die Kleinen, die ihnen zuarbeiten. Männer haben Rechte,
die Frauen nicht haben. Nicht zuletzt ihr Selbstbewusstsein macht Talia zu einem
(allerdings: Ehrfurcht einflößenden) Fremdkörper:
man tauft sie neu, auf den Namen Tyson.
Um Geld dreht sich alles, aber die Ökonomie
ist eine geradezu eruptive: kleine und größere Verbrechen sind Zäsuren
dieser Ökonomie, die von der Zeitökonomie kaum zu unterscheiden ist.
In der Regel passiert nichts. Man sitzt herum, schwadroniert. Nur die Diebstähle
halten das ganze in Schwung, verhindern die Apathie. Die Suche nach dem Hund,
von dem alle, bis auf Tyson, wissen, wo er ist, kommt als Zeitvertreib gelegen.
Sinnvoll ist sie natürlich so wenig wie alles andere. Ilies aber verliebt
sich und mit der Liebe tritt so was wie Ethik in den Vordergrund. Der Hundediebstahl
ist unrecht, die Kompensation ist zunächst geld-, und geschenkförmig,
zunächst auch der erste Kuss, bloße Belohnung, aber dann kommt das
durcheinander und Ilies ist hilflos. Tyson aber auch.
Am Ende steht eine großartige Szene. Alles
ist zuende, Tyson muss ins Heim, vorher aber erfolgt eine Initiation erster
Güte. Man klaut sich, reine, phantasievolle Bricolage, einfach ein Ritual
aus einer anderen Welt, das Brautkleid und die Zeremonie, errichtet es neu innerhalb
einer Welt, die nach den Maßstäben der anderen, der offiziellen Welt
längst zerfallen ist. Jacques Doillon gönnt seinen Figuren diesen
Moment, belässt es dabei. Das Heim können wir uns denken.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jump Cut
Petits
Frères
PETITS
FRÈRES
Frankreich
- 1998 - 92 min. - Erstaufführung: 9.3.2000
Regie:
Jacques Doillon
Buch:
Jacques Doillon
Kamera:
Manuel Teran
Musik:
Oxmo Puccino
Schnitt:
Camille Cotte
Darsteller:
Stéphanie
Touly (Talia)
Iliès
Sefraoui (Iliès)
Mustapha
Goumane (Mous)
Nassim
Izem (Nassim)
Rachid
Mansouri (Rachid)
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