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Phantom (1922)
Eben noch hatte Friedrich Wilhelm Murnau dem Erlebnis
der subjektiven Filmerfahrung mit “Nosferatu” eine neue Dimension verpasst. Die expressionistische
Kameraführung bog die Mise-en-scene für den Hauptdarsteller und manifestierte
seine Ängste im Bildfokus. Psychologische Beweggründe wurden endlich
nach außen getragen und damit begreiflich gemacht. Die Entwicklung des
Filmes hatte einen Quantensprung vollzogen.
Doch schon kehrt der deutsche Regisseur in das bürgerliche
Kleinstadtleben zurück, verlässt also die sichere Umarmung des Phantastischen,
die ihm als Medium für den Manifestationsvorgang des Psychologischen diente.
Eine klassische Tragödie nimmt nun ihren Lauf - Liebe, Vertrauen, Hass
und in erster Linie Unsicherheit, veranschaulicht durch eingefärbte Bilder,
die dem Katalog für Farbsymbolik entsprechen. Gerhart Hauptmanns literarische
Vorlage verfilmt Murnau unverkennbar mit dem Hintergrund eines ehemaligen Fliegers
aus dem Ersten Weltkrieg. Beeinflusst durch dort erlebte Schrecken, trägt
er diese Erlebnisse in die vermeintliche Intaktheit des Kleinstadtlebens hinein
und entlarvt die makellose Fassade als maroden Schutzwall. Die Erkenntnisse
der Moderne, im Bürgertum ihre fundierte Basis wissend, werden auf den
Kopf gestellt; mitnichten hat der Mensch die totale Kontrolle über seine
Umwelt.
Dem falschen Helden der Geschichte widerfahren durch
und durch unvorhergesehene Dinge. Er ist Opfer der Willkür seines eigenen
Schicksals und so erleben wir einen Alfred Abel in der Hauptrolle, der als gutmütiger
Lorenz mit aufgerissenen Augen durchs Leben geht und den Ereignissen stets einen
Schritt hinterher ist, bloß noch auf sie reagieren kann. Zeigt ein Professor
Interesse an Lorenz’ Gedichten, hält sich Lorenz selbst noch für einen
Träumer und nicht mehr. Hat Lorenz dann endlich begriffen, dass er die
Chance hat, mit seinen Träumereien berühmt zu werden, spielt auf einmal
der Verleger nicht mehr mit - er mag die Arbeiten nicht. Überquert Lorenz
in einem Moment noch nichtsahnend die Straße, wird er schon im nächsten
von einer Kutsche angefahren. Und so wie er sich in des Eisenwarenhändlers
Tochter verliebt hat, die in der Kutsche sitzt, macht der Eisenwarenhändler
seinen Heiratsplänen einen Strich durch die Rechnung. Dem zunehmenden Kontrollverlust
des Mannes, der zu Anfang noch unbeschwert vor sich hin träumte und keinerlei
schwerwiegende Sorgen verspürte, folgt man minutiös. Seine Welt fällt
schon schnell zusammen wie ein Kartenhaus. Auf Gleichmäßigkeit und
sich wiederholende Muster ist kein Verlass mehr.
Zur Verdeutlichung des Verfalls von Lorenz’ Zurechnungsfähigkeit
bedient sich Murnau dann wieder seiner expressionistischen Wurzeln in Form von
Bildmanipulationen. Bewegt sich das Stummfilmwerk zu Beginn scheinbar noch sicher
durch seine klassische Aufteilung in Akte und die eingeschnittenen Textpassagen,
in Szene gesetzt mit gewöhnlichen Gesprächsszenen, verwandelt sich
das Visuelle in zunehmend nicht einzuordnende Darstellungen. Beginnend bei Tagträumen
und Erinnerungen an den Kutschenunfall, die auch mit Abblenden und Überbelichtungseffekten
als solche dargestellt werden, schmiegt sich die Phantasie des Protagonisten
schon bald in das bislang so glattgebügelte Abbild der Realität. Hier
fährt eine Geisterkutsche über den Pflasterstein und wirft den (volltrunkenen?)
Lorenz zu Boden; da biegen sich die Hausfassaden zu Lorenz hinunter und bedrohen
ihn, schüchtern ihn ein, verkörpern sie doch sein Gewissen, das mit
ganzer Seele unrein ist.
Dabei genügt nur ein Blick in die Augen einer
schönen Frau, um den Zerstörungsprozess in Gang zu bringen, der am
Ende typischerweise den Tod als reinigende Katharsis zur Folge hat. Die Tatsache,
dass die Sicherheit, in die sich das Vorstadtleben unbedarft wiegt, von dieser
einen, zudem ausgesprochen unberechenbaren Variable abhängig sein kann,
wird mit vollem Gewicht in die Waagschale geworfen, um aus ihr das ganze Ausmaß
der Fragilität der hier gezeigten Welt zu gewinnen. Denn der arme Dichter
Lorenz ist keineswegs die einzige Figur, die in der Erzählung auf die einschlagende
Erkenntnis stößt; er wird gar selbst zum Überträger der
Ängste, beispielsweise für seine Tante, die Lorenz als einzigen guten
Menschen auf der Welt bezeichnet, bis er sich unverhofft als “Lump” herausstellt.
Daraus folgt, dass Murnau diesmal weniger subjektiv-zentriert
vorgeht als gewohnt, ist seine Hauptfigur, deren Wahrnehmung nichtsdestotrotz
äußerst expressiv umgesetzt wird, doch nur der Auslöser einer
ganzen Kette, die sich durch das gesamte Dorf zieht. Das titelgebende “Phantom”
vollzieht damit eine Transgression vom Individuum ins Kollektiv hinein. Am Anfang
ist es Einer, der im Geiste eine Veränderung erfährt; am Ende stehen
Dutzende von Menschen vor den Trümmern, von denen sie unverhofft übermannt
wurden.
Dass der Geschichte schließlich doch noch ein
versöhnlicher Epilog angehangen wird, muss mit damaligen Konventionen des
Filmemachens zu tun haben; es war offenbar vonnöten, den Charakter am eigenen
Leibe die Erkenntnis mit Akzeptanz begegnen zu lassen und die Läuterung
als erfolgreich anzusehen. Nach heutigem Verständnis ein unnötiger,
wenn nicht gar ärgerlicher Zusatz; ohnehin aber ein sehr plötzlicher
Schritt in den Sonnenschein hinein, der kaum weiter erklärt wird und den
man so einfach zu akzeptieren hat.
“Phantom” stammt aus einer Zeit, als der deutsche
Film durch typisch deutsche Inszenierung zu einer berüchtigten Instanz
geworden war und dem Filmwesen entscheidende Impulse gab. Ob dem tatsächlich
so war - daran besteht hier keinerlei Zweifel. “Nosferatu” wurde zum überlebensgroßen
Meilenstein des Friedrich Wilhelm Murnau; “Phantom” führte die dort gewonnenen
Erträge in die Bürgertumstragödie hinein und übertrug sie
auf etwas, das glaubte, mit dem Fortschritt von Technik und Wissenschaft seien
die letzten Fragezeichen ausgelöscht worden - und das sich irrte.
Sascha Ganser
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: www.ofdb.de
PHANTOM
Deutschland
1922. – Regie: Friedrich Wilhelm Murnau. – Buch: Thea von Harbou, nach dem Roman
(1922) von Gerhart Hauptmann in der „Berliner Illustrirten Zeitung“; nicht genannt:
Hans Heinrich von Twardowski. – Kamera: Axel Graatkjaer (Photographische Leitung),
Theophan Ouchakoff. – Musik: Leo Spies (Originalkomposition); Ernst Krenek.
– Bauten: Hermann Warm, Erich Czerwonski, nach Entwürfen von Hermann Warm.
– Kostüme: Vally Reinecke.
Darsteller:
Alfred Abel (Lorenz Lubota), Frida Richard (Seine Mutter), Aud Egede Nissen
(Melanie, seine Schwester), Hans Heinrich von Twardowski (Hugo, ein jüngerer
Bruder), Karl Etlinger (Buchbindermeister Starke), Lil Dagover (Marie, seine
Tochter), Grete Berger (Frau Schwabe, Pfandleiherin), Anton Edthofer (Wigottschinski),
Ilka Grüning (Die Baronin), Lya de Putti (Melitta, ihre Tochter), Adolf
Klein (Eisenwarenhändler Harlan), Olga Engl (Seine Frau), Lya de Putti
(Beider Tochter), Heinrich Witte (Ein
Amtsdiener),
Wilhelm Diegelmann (?), Eduard von Winterstein (?), Arnold Korff (?).
Produktion:
Uco-Film GmbH, Berlin (Uco-Film der Decla-Bioscop AG, Berlin). – Produzent:
Erich Pommer. – Aufnahmeleitung: Hermann Bing. – Drehorte: Decla-Bioscop-Atelier,
Neubabelsberg und Freigelände. – Drehzeit: Mai bis September 1922. – Zensur:
3.11.1922, B. 6698, 6 Akte, Jugendverbot. – Zensurlänge: 2.905 m. – Uraufführung:
13.11.1922, Berlin, Ufa-Palast am Zoo (zu Ehren des 60. Geburtstags von Gerhart
Hauptmann); Breslau, Ufa-Theater am Tauentzienplatz; Kinostart: 20.11.1922.
Anmerkung:
Die Aufführung am 20. November 1922 in Berlin war eine Fest-Veranstaltung
zugunsten notleidender Schriftsteller unter dem Protektorat der Reichsregierung.
Alfred Kerr hielt eine Ansprache. Dem Ehrenkomitee gehörten an: Ludwig
Berger, Carl Bulcke, Julius Elias, Gustav Frenßen, Johannes Guter, Thea
von Harbou, Paul Oskar Höcker, Bernhard Kellermann, Fritz Lang, Thomas
Mann, F. W. Murnau, Edwin Redslob, Gabriele Reuter, Hermann Warm, Fedor von
Zobeltitz.
Kopie:
Filmmuseum München, 2.740 m
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