zur
startseite
zum
archiv
Der
Pianist
(drei
Kritiken von G. Seeßlen)
Traum
vom Leben
Es
gibt Geschichten, die man aus drei Gründen einfach erzählen muß.
Weil sie wichtig sind für einen selbst, weil sie wichtig sind für
die Welt und weil sie sonst in keiner anderen Erzählung enthalten sind.
Eine solche Geschichte ist die von Wladyslaw Szpilman, die er unter dem Titel
»Das wunderbare Überleben« aufgezeichnet hat. Seine Geschichte
ist die vom Schmerz, vom Leiden des Verlustes, von der Einsamkeit, vom Hunger
und der Angst, und davon, wie das Leben durch ein, zwei Wunder gerettet wird.
Jedenfalls wenn man die bloße Existenz von Menschen in der Organisation
der Unmenschlichkeit und des Mordes durch die Nazis ein Wunder nennen wollte.
»Das wunderbare Überleben« ist eine Geschichte, die wahrscheinlich
niemand glauben würde, wenn sie nicht wirklich geschehen wäre.
Es
gibt Filme, denen bringt man nach einigen Minuten ein tiefes Vertrauen entgegen,
ungefähr wie bei der seltenen Begegnung mit einem Menschen, von dem man
weiß, daß er sich weder verstellen noch ins Zeug werfen muß.
So ein Film ist »Der Pianist«, den Roman Polanski nach »Das
wunderbare Überleben« gedreht hat. Man weiß sofort, daß
dieser Regisseur diesen Film hat machen müssen. Vielleicht aus biographischen
Gründen, vielleicht aus künstlerischen Gründen, vielleicht weil
es auch beim Filmemachen die kleinen Wunder gibt: Polanski hilft mit seinem
Film eine Geschichte zu verstehen, die sonst vielleicht vergessen worden wäre.
»Der Pianist« hilft aber auch, Polanski und seine Filme besser zu
verstehen, ihre verzweifelte Komik, ihre poetische Metaphysik.
Dabei
gibt es in dem Film nichts Sensationelles, keine waghalsigen Verstöße
gegen filmische Konventionen, möglicherweise nicht einmal einen ausgeprägten
historischen Erkenntniswert. Nur diese eine, wunderbare Geschichte von Wladyslaw
Szpilman, der 1939, als Deutschland Polen den Krieg erklärte, als Pianist
beim Warschauer Rundfunk bescheidenen Ruhm genießt. Er und seine Familie
machen alle Stationen des Leidens der Juden mit: die Konfiszierungen des Besitzes
und der Wohnung, die Kennzeichnung mit dem blauen Davidstern, das Berufsverbot,
die Umsiedlung ins Ghetto, Krankheit, Hunger und dann die Transporte ins Lager.
Bei der Verladung ermöglicht einer der jüdischen Polizisten ihm die
Flucht; Wladyslaw Szpilman kommt in einem Bautrupp unter, beteiligt sich an
der Vorbereitung zum Aufstand und muß dann wieder fliehen. Die polnische
Untergrundorganisation kann ihn in einer leeren Wohnung gleich bei der Ghettomauer
verbergen, seine letzte Flucht führt ihn zurück ins leere, zerstörte
Ghetto. Dort wird er von einem SS-Mann gefunden. Daß der ihn nicht verrät,
sondern sogar noch Lebensmittel in sein Versteck bringt, ist das letzte der
Wunder, die ihn am Leben ließen. Dafür, daß er auch seinem
Lebensretter noch das Leben retten kann, reicht der Vorrat an Wundern nicht
mehr.
Polanski
erzählt diese Geschichte (die man unbedingt auch lesen sollte!) geradlinig,
genau und immer aus der direkten Nähe zu seinem Protagonisten. Bewundernswert
ist dabei das Maß der erzählerischen Mittel, das der Regisseur findet.
Polanski malt jedes Detail, die Dinge, die Körper, die Gesichter, und er
schafft einen Blick, der zugleich die Enge der ständigen Gefangenschaft
und Flucht, und die Endlosigkeit des Terrors einbezieht. Jede Einstellung, jeder
Schnitt konstruiert den Zusammenhang zwischen dieser einen wunderbaren Geschichte
und der historischen Wahrheit der Todesmaschine. Es ist der Traum vom Leben
noch mehr als der vom Überleben, der uns berührt. Wladyslaw findet
in seinem Versteck ein Klavier, und gleichzeitig weiß er, daß er
keinen Ton darauf spielen darf, um sich nicht zu verraten. So schweben seine
Finger über den Tasten, und nur er und wir hören die Musik. Ein Hinweis
vielleicht, wenn auch keine Antwort auf die Frage, die Szpilman am Ende seines
Berichts stellt: »Von morgen an mußte ich ein neues Leben beginnen.
Aber wie, wenn hinter einem nur der Tod lag? Welche Lebenskräfte konnte
man aus dem Tod schöpfen?«
Das
ist eine Frage an die Kunst. »Der Pianist«, eine Geschichte, gewiß,
eine Lebensstudie, die durch den großartigen Schauspieler Adrien Brody
ein Gesicht bekommt, ein Meisterwerk der Angemessenheit, kann keine Antwort
geben. Aber in Filmen wie diesem gelingt es uns gelegentlich, über sie
nachzudenken. Und darüber, wie wenig vergangen die Vergangenheit ist.
Note:
1-
Georg
Seeßlen
Dieser
Artikel ist zuerst erschienen in: strandgut
Die
Seele im System
Roman
Polanskis "Der Pianist" oder: Wie schön darf ein Film über
den Holocaust sein?
Wir
haben Begriffe, ohne es begreifen zu können. Wir haben Erzählungen,
die dramaturgisch versagen müssen, wenn sie dem Kern der Wahrheit nahe
kommen. Wir haben Dokumente und Bilder, die vor unseren Augen zerfallen in die
furchtbare Banalität des Bösen und in eine alles übersteigernde
Ikonografie des Grauens. Es ist unmöglich, die Geschichte des deutschen
Faschismus, die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa,
die Geschichte des Holocaust in unsere Kultur einzuschreiben, als Begriff, als
Erzählung, als Bild und gar als Einheit von alledem. Und doch ist es eine
der wenigen guten Seiten dieser Kultur, dass wir nicht aufhören, es zu
versuchen. Mit allen Mitteln, mit allen Medien, die wir haben. Eines davon ist
die Form des populären Spielfilms, die man auch als Erzählen in einer
Bildwelt beschreiben könnte oder als Versuch, das Antlitz und den Leib,
den Namen und die Seele des Menschen zu finden in einem System der Dinge, der
Zeichen und der Beziehungen. Es sind die Spuren des Menschen, die das Kino in
seiner Ikonografie sucht, was vielleicht immer auch heißt: Seine Schönheit
entsteht aus der Revolte des Menschlichen gegen die Zeichen.
Der
Spielfilm muss vom Faschismus und vom Holocaust in Bildern erzählen, die
sich nicht erweitern, kaum verändern lassen und deren Evidenz die größte
Ressource des Kinos zu vernichten droht: die Ambiguität. Das Bild der Täter:
die geschniegelten Uniformen, die Stiefel und Reitpeitschen, die Hunde, die
bellenden Stimmen, das breitbeinige Stehen im Schmutz. Die Waffen, die sie zücken,
um wahllos, aber nicht ohne System zu morden, die widerwärtigen Späße.
Das Bild der Opfer: die trostlosen Baracken, das elende Ghetto. Körper,
von Hunger, Krankheit und Gewalt gezeichnet, Blicke, die immer nur nach der
Überlebenschance suchen und das Grauen nicht begreifen können. Und
dazwischen: die Bilder, in denen dies alles eingefroren scheint. Das Eingangstor
von Auschwitz, die Güterwaggons, in die die Menschen schlimmer als Vieh
gepfercht werden, eingebrannte Nummern auf der Haut, säuberlich gestapelte
Haufen persönlicher Besitztümer, Stacheldraht und Elektrozaun, dann
die Todeskammern.
Diese
Ikonografie des Grauens ist in sich weder wahr noch falsch. Sie "funktioniert"
furchtbarerweise in billigen Sado-Comics, in patriotischen Kriegsfilmen, in
trostreichen historischen Seifenopern ebenso wie in der authentischen Montage,
in einer Kunst der Erinnerung und der Menschlichkeit. Sie "funktioniert"
in der Welt der Täter und in der Welt der Opfer. Das Erzählen in der
Ikonografie des Grauens kann, wo es gelingt, zur Errettung von Menschen führen,
zur Errettung der Person, die die Nazis vernichten wollten, eine andere Form
der Errettung auch jener Person, die die Verbrechen beging. Aber jede Erzählung,
die die Ikonografie des Grauens benutzt, ist auch Teil eines Prozesses der Gewöhnung,
der Trivialisierung. Wenn wir im Kino die Ikonografie des Grauens verwenden,
dann müssen wir zugleich von den Grenzen des Kinos sprechen.
Und
noch einen anderen Punkt gilt es zu berücksichtigen: Der historische Faschismus
war selbst auch eine gewaltige Bildermaschine, er produzierte selbst eine Ikonografie,
die von den Massenaufmärschen über die faschistische Zeichenlehre
zur scheinbar so harmlosen Kinounterhaltung der Ufa führte. Wir sehen genügend
Filme, die auf diese faschistische Ikonografie hereinfallen, manche davon offensichtlich
mit bester Absicht gedreht. Man muss indes einiges vom Kino und einiges von
der Geschichte verstehen, um genau bestimmen zu können, was ein Bild des
Faschismus und was ein faschistisches Bild im Kino ist.
Aufstand
gegen die Ikonografie
Holocaustfilme
sind unmöglich. Holocaustfilme sind notwendig für das, was wir mittlerweile
"Erinnerungskultur" nennen. Es kommt einzig und allein auf die Intention
und das Können der Künstler an, die die schwere und notwendige Aufgabe
auf sich nehmen, die vorhandenen Bilder so zu montieren, dass etwas sichtbar,
erkennbar, spürbar, erleidbar wird. Dass der Mensch in ihr gerettet wird.
Und was das anbelangt, war Roman Polanski der Künstler, der in der Autobiografie
des polnischen Pianisten Wladyslaw Szpilman genau die Erzählung gefunden
hat, die Ikonografie des Grauens mit aller Sorgfältigkeit noch einmal für
das Kino zu konstruieren und sie zugleich zu befragen. Polanski, der als Kind
aus dem Krakauer Ghetto flüchtete und dessen Mutter von den Nazis ermordet
wurde, folgt Szpilman von einem Versteck im Warschauer Ghetto über eine
Odyssee durch verschiedene Wohnungen bis zu seinem letzten Schlupfwinkel im
Warschau der letzten Kriegstage. In dieser untergegangenen Stadt, für deren
Zerstörung Polanski Bilder von ungeheurer Trost- und Hoffnungslosigkeit
findet, ist es ausgerechnet ein deutscher Hauptmann, der den Musiker in seinem
Versteck mit Nahrung versorgt - und so gewissermaßen dem letzten Warschauer
Juden das Leben rettet. Es gibt in diesem Film keine Abschweifungen, keine Brechungen
und Revolten des Materials. Es ist ein filmisches Gebet für den Menschen.
Und die Haltung des Künstlers darin können wir wohl als eine selbstbewusste
Form der Demut bezeichnen.
Nun aber funktioniert das Kino nicht so einfach als Kunstwerk;
es steckt zu viel Gesellschaft im langen Weg von der Idee über die Produktion
bis zum Sehen eines Films. Warum, nur zum Beispiel, wird Steven Spielbergs Schindlers Liste zu einem gesellschaftlichen Ereignis, und Andrzej Wajdas Karwoche bleibt nachts in den dritten Programmen des deutschen Fernsehens
gerade für eine Minderheit sichtbar? Nein, so einfach, wie wir sie uns
machen könnten, ist die Antwort nicht. Spielbergs Film steht für eine
Bewegung in der Mitte der Gesellschaft; nicht nur der Film, auch seine Entstehung,
die Person seines Schöpfers stehen als Metapher dafür, wie man Verantwortung
gegenüber der Geschichte akzeptiert, ohne einen radikalen Bruch zu provozieren.
Etwas Ähnliches gilt für den Erfolg von Roberto Benignis Das Leben ist schön. Wir sehen nicht nur eine sehr menschliche Komödie in der
Ikonografie des Grauens, über deren ästhetisch-moralische Methode
wir, wie bei all diesen Versuchen, auch streiten können; wir sehen einem
Clown, einem Kindmann der populären Kultur, dabei zu, wie er zur Erinnerung
innehält und wie er uns dazu anleitet, zur Erinnerung innezuhalten. Wajda
dagegen steht für die Kunst, die immer verantwortungsvoll mit ihrem Material
umgegangen ist und die tröstlichen Lügen der popular culture nie akzeptierte.
Den
populären Filmemachern gelingt also, was dem solitären Kunstwerk auch
im Kino nicht gelingen kann: Sie schreiben die Erinnerung in die populäre
Mythologie ein. Sie retten die visuelle Erinnerung für Menschen in unserer
Kultur, die für die Kunst noch nicht bereit oder für sie vielleicht
sogar verloren sind. Aber zur gleichen Zeit sind diese Filme auch in höchster
Gefahr, aus der Ikonografie des Grauens ein Genrebild zu machen. Vielleicht
nun bietet Polanskis Der
Pianist
so etwas wie eine Brücke zwischen den beiden Segmenten, der Filmkunst und
der populären Kinokultur.
Die
wirkungsvollsten Holocaustfilme der letzten Jahre waren verbunden dadurch, dass
sie immer einen Rest von Identifikation, von Rettung und Erlösung bewahrten
und durchaus als Märchen gesehen werden können. Aber sie geben stets
die Grenzen ihrer eigenen Fähigkeiten zur Wahrheit wieder. Mit Szenen,
die von der story (in der es Sinn und Erlösung gibt) zur history führen
(deren Sinn allein in der Arbeit der Trauer und dem ewigen Prozess liegen mag,
der dem Faschismus und seinen Verbrechen gemacht werden muss) - und zugleich
deren Unvereinbarkeit bezeichnen.
Der
Vorhang vor der Geschichte
In
diesen Szenen bricht sich das Märchen, brechen sich alle Erzählweisen
des populären Films: In Das
Leben ist schön
zeigt sich Horst Buchholz in der Rolle des deutschen KZ-Arztes als Monster,
obwohl wir ihn doch auch "als netten Menschen" kennen gelernt haben.
In Schindlers
Liste
ist es das kleine Mädchen im roten Mantel, das nicht gerettet wird, obwohl
der Film es doch auserwählt hat. Zwei Momente der (für uns) enttäuschten
Hoffnungen, die den Pakt der Tröstungen nachhaltig stören. Momente,
in denen Benigni und Spielberg zeigen, dass ihre Geschichten der Hoffnung in
Wahrheit vor einer großen Hoffnungslosigkeit spielen. Auf den ersten Blick
scheint im Überlebensmärchen von Der Pianist eine solche Verbindung
der Ent-Täuschung zwischen story und history zu fehlen. Doch bei Polanski
ist dieses Angebot gleichsam radikalisiert, indem sich die zwei radikalsten
Ausnahmen begegnen: das aus eigener Kraft überlebende Opfer und der aus
eigener Kraft gegen sein System handelnde Täter. Sie tragen den Bruch zwischen
der Dramaturgie der persönlichen Rettung und der historischen Erfahrung
einer Welt ohne Rettung, also zwischen dem Menschen und der Ikonografie, in
sich selbst. Nicht die Ikonografie bestimmt hier das Verhalten der Menschen,
wie wir es nach den Konventionen dieser Kinogleichung von story und history
gewohnt sind, sondern umgekehrt jeder einzelne Mensch ist durch sein Verhalten
an der Entstehung der Ikonografie des Grauens beteiligt. Sie existiert weder
als abstraktes System noch als transzendentales "Schicksal"; sie setzt
sich vielmehr zusammen aus den moralischen Entscheidungen und dem Erleiden jedes
Einzelnen - etwa wenn Szpilmans Geschwister beschließen, den Eltern in
die Deportation zu folgen. Was Polanski bewerkstelligt, ist eine Trennung von
Ikonografie und Inhalt. Die deutsche Uniform, in der Szpilman vor den russischen
Befreiern auftaucht, macht nicht den Menschen, auch wenn man wegen eines falschen
Mantels erschossen werden kann. Die einfache Erkenntnis, dass man einen Mantel
trägt, weil man friert, nicht um eine Seite zu wählen, ist ein Schlüsselhinweis
für die Trennung von Mensch und Zeichen. Tatsächlich also benutzt
Polanski die Ikonografie nicht nur, er zersetzt sie auch.
In
einer Filmerzählung, die, obwohl sie vom "wunderbaren Überleben"
eines Einzelnen handelt, wenig Raum für Hoffnung gibt, entsteht auf diese
Weise Schönheit durch die Aura des Leibhaftigen und Einzigartigen im Menschen,
die sich in Der Pianist ausbreitet, weit über die Leinwand hinaus. So mag
sich neben den Fragen "Wie komisch darf ein Holocaustfilm sein?" und
"Wie melodramatisch darf ein Holocaustfilm sein?" eine dritte stellen:
"Wie schön darf ein Holocaustfilm sein?" Wird hier nicht die
Trauer, der symbiotische Schmerz, das bildhafte Mitleiden zu einem ästhetischen
Genuss? Der Film gibt auf diese Frage keine Antwort. Aber er ist eine Antwort.
In einer langen Kette von Filmen, die das individuelle Leben gegenüber
der Ikonografie erretten wollen, ist er möglicherweise der schönste,
weil er so viel Erfahrungen und Schmerzen des Kinos bei der Suche nach dem verlorenen
Menschenbild in der Ikonografie des Grauens zusammenfasst. Vielleicht ist Der
Pianist
andererseits auch der erste Film einer neuen Kette, in der man mit dieser Ikonografie
anders, bewusster, genauer umgehen wird können.
Man
beginnt die Wahrnehmung von Polanskis Film mit dem Empfinden einer sehr klassischen
Bilderwelt, aber mit dem Fortschreiten der Erzählung verändert sich
unser Blick. Die Ikonografie des Grauens wird wie ein Vorhang vor der Geschichte
weggezogen. Sie wird nicht von Zeichen, sondern von Menschen gemacht. 1942 und
2002.
Georg
Seeßlen
Dieser
Artikel ist zuerst erschienen in: Die Zeit
Der
Pianist
Die
Frage, wie der Holocaust darzustellen sei, muss sich jeder Film zum Thema neu
stellen. Mit seiner Adaption der Erinnerungen von Wladyslaw Szpilman, die in
Cannes die Goldene Palme erhielt, ist Roman Polanski eine beeindruckend maßvolle
Arbeit geglückt: eine Erzählung, die nie die Perspektive des Opfers
verlässt.
Es
gibt Geschichten, die man aus drei Gründen einfach erzählen muss.
Weil sie wichtig sind für einen selbst, weil sie wichtig sind für
die Welt, und weil sie sonst in keiner anderen Erzählung enthalten sind.
Eine solche Geschichte ist die von Wladyslaw Szpilman, die er unter dem Titel
"Das wunderbare Überleben" aufgezeichnet hat. Seine Geschichte
ist die vom Schmerz, vom Leiden des Verlustes, von der Einsamkeit, vom Hunger
und der Angst, und davon, wie das Leben durch ein, zwei Wunder gerettet wird.
Jedenfalls wenn man die bloße Existenz von Menschen in der Organisation
der Unmenschlichkeit durch die deutschen Faschisten ein Wunder nennen wollte.
"Das wunderbare Überleben" ist eine Geschichte, die wohl niemand
glauben würde, wenn sie nicht wirklich geschehen wäre.
Es
gibt Filme, denen bringt man nach einigen Minuten ein tiefes Vertrauen entgegen.
So ein Film ist Der
Pianist,
den Roman Polanski nach "Das wunderbare Überleben" gedreht hat.
Man weiß sofort, dass dieser Regisseur diesen Film hat machen müssen.
Vielleicht aus biografischen Gründen, vielleicht aus künstlerischen
Gründen, vielleicht weil es auch beim Filmemachen die kleinen Wunder gibt:
Polanski hilft mit seinem Film eine Geschichte zu verstehen, die sonst vielleicht
vergessen würde, Der Pianist hilft aber auch, Polanski und seine Filme
besser zu verstehen, ihre verzweifelte Komik, ihre poetische Metaphysik.
Dabei
gibt es in Der
Pianist
nichts Sensationelles, keine waghalsigen Verstöße gegen filmische
Konventionen, möglicherweise nicht einmal einen ausgeprägten historischen
Erkenntniswert. Nur diese eine, wunderbare Geschichte von Wladyslaw Szpilman,
der 1939, als Deutschland Polen den Krieg erklärte, als Pianist beim Warschauer
Rundfunk bescheidenen Ruhm genießt. Er und seine Familie machen alle Stationen
des Leidens der Juden mit: die Konfiszierungen des Besitzes und der Wohnung,
die Kennzeichnung mit dem blauen Davidstern, das Berufsverbot, die Umsiedlung
ins Ghetto, Krankheit, Hunger und dann die Transporte ins Lager. Bei der Verladung
ermöglicht einer der jüdischen Polizisten ihm die Flucht; Wladyslaw
Szpilman kommt in einem Bautrupp unter, beteiligt sich an der Vorbereitung zum
Aufstand und muss dann wieder fliehen. Die polnische Untergrundorganisation
kann ihn in einer leeren Wohnung gleich bei der Ghettomauer verbergen, aber
auch im Untergrund gibt es nicht nur gute Menschen; so beraubt ihn einer seiner
letzten Habseligkeiten und unterschlägt die für ihn bestimmten Lebensmittel.
Seine letzte Flucht führt Wladyslaw Szpilman zurück ins leere, zerstörte
Ghetto. Dort wird er in seinem Versteck in einem ausgebrannten Haus von einem
deutschen Offizier gefunden. Dass der ihn nicht verrät, sondern sogar Lebensmittel
bringt, ist das letzte der Wunder, die ihn am Leben lassen.
Polanski
erzählt diese Geschichte (die man unbedingt auch lesen sollte!) gradlinig,
genau und immer nahe an seinem Protagonisten. Bewundernswert ist dabei das Maß
der erzählerischen Mittel, das der Regisseur findet. Polanski malt jedes
Detail, die Dinge, die Körper, die Gesichter, und er schafft einen Blick,
der zugleich die Enge der ständigen Gefangenschaft und die Endlosigkeit
des Terrors einbezieht. Jede Einstellung, jeder Schnitt konstruiert den Zusammenhang
zwischen dieser einen wunderbaren Geschichte und der historischen Wahrheit der
Todesmaschine. Es ist der Traum vom Leben noch mehr als der vom Überleben,
der uns berührt. Wladyslaw findet in seinem Versteck ein Klavier, darf
aber keinen Ton darauf spielen, um sich nicht zu verraten. So schweben seine
Finger über den Tasten, und nur er und wir hören die Musik. Ein Hinweis
vielleicht, wenn auch keine Antwort auf die Frage, die Szpilman am Ende seines
Berichts stellt: "Von morgen an musste ich ein neues Leben beginnen. Aber
wie, wenn hinter einem nur der Tod lag? Welche Lebenskräfte konnte man
aus dem Tod schöpfen?"
Die
Frage, wie das alles darzustellen sei, die Verfolgung, Folterung, Ermordung
der Juden durch die deutschen Nazis – sie stellt sich auch hier. Sie stellt
sich mit jedem Roman, mit jedem Dokument, mit jedem Film wieder. Natürlich
hat Polanski dabei eine Vorlage zur Verfügung gehabt, die einen ganz eigenen
Erzählgestus aufweist. Wladyslaw Szpilman schrieb seine Erinnerungen gleich
nach dem Krieg, ohne eine Phase der Reflexion und der Abgleichung der Erinnerungen.
Die Erzählung setzt sich aus Augenblicken zusammen, der Blick hat noch
nichts vom Staunen und Entsetzen verloren, das sich von Station zu Station des
Leidens steigert, ohne schon ein Ganzes, ein System zu entwerfen, und ohne vollständig
im Grauen das Groteske verdrängen zu können. Man kann natürlich
nicht von Komik sprechen, nicht einmal Ironie ist das richtige Wort. Es ist
eine Beobachtung, die sich noch keine moralische und ideologische Konvention
anverwandelt hat. Und das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum Szpilmans
Buch so ungelitten ist: Er verschweigt auch die jüdischen Verbrechen im
Ghetto nicht, sieht den Widerstand genau so deutlich wie die polnische Kollaboration.
Das Buch und der Film machen keinem System den Prozess, analysieren keine historischen
Zusammenhänge; sie stellen das Leben auch unter den extremsten Bedingungen
als eine Abfolge von Entscheidungen dar. Das Wunder besteht in nichts anderem
als in Entscheidungen für das Leben. Das ist vielleicht keine Antwort,
aber eine Präzisierung der Frage: Welche Lebenskräfte kann man aus
dem Tod schöpfen?
Das
ist eine Frage an die Kunst. Der
Pianist,
eine Geschichte, gewiss, eine Lebensstudie, die durch den großartigen
Schauspieler Adrien Brody ein Gesicht bekommt, ein Meisterwerk der Angemessenheit,
kann keine Antwort geben. Aber in Filmen wie diesem gelingt es uns gelegentlich,
über sie nachzudenken. Und darüber, wie wenig vergangen die Vergangenheit
ist.
Was
ein Spielfilm uns über Faschismus und Holocaust sagen kann, ist durch seine
Grammatik und seine Dramaturgie begrenzt. Weder das Ausmaß noch die Struktur
der Wirklichkeit sind zu erreichen, und der Vorrat an Fabeln und Metaphern,
die uns durch einen Ausschnitt das Ganze erahnen lassen, scheint erschöpft.
Aber ein Spielfilm kann etwas, was ihm zugleich zum Fluch werden kann und ihn
befähigt, die ungelöste Frage – Wie war Auschwitz möglich? Und
wie können wir leben, nach Auschwitz? – neu zu stellen. Ein Spielfilm kann
uns für Augenblicke in das Geschehen hineinversetzen. Wir erproben hier,
wie es wäre, in dieser Hölle zu sein, als Opfer, manchmal sogar als
Täter. Wir können die Schnittstellen erleben, zwischen dem System
und dem Einzelnen, dem Schicksal und der Entscheidung. Dorthin gelangt kein
Begriff, dorthin gelangt kein wissenschaftliches Modell. Dorthin kann man nur
durch ein revivre, durch die zweite Wirklichkeit des Films gelangen. Polanski
nähert die beiden Wirklichkeiten einander mehr an als es die meisten anderen
Filme zu diesem Thema tun, indem er die Perspektive seines Protagonisten nie
verlässt. Eines Menschen, der leidet. Eines Menschen, der sich immer wieder,
manchmal mit allerletzter Kraft, für das Leben entscheidet.
Georg
Seeßlen
Dieser
Artikel ist zuerst erschienen in: epd film
Zum
Film „Der Pianist“ gibt’s im archiv
der filmzentrale auch Kritiken anderer Autoren
Der
Pianist
The
Pianist
F/D/PL/GB
2002. R:
Roman Polanski. B:
Ronald Harwood (nach Wladyslaw Szpilmans Erinnerungen). P:
Roman Polanski, Robert Benmussa, Alain Sarde. K:
Pawel Edelman. Sch: Herve de Luze. M: Wojciech Kilar. T: Jean-Marie Blondel.
A: Allan Starski. Ko: Ann Sheppard. Sp: Christian Künstler. Pg: R.P. /Runteam
Limited/Studio Babelsberg/Heritage Films. V: Tobis. L: 148 Min. FBW: wertvoll.
Da: Adrien Brody (Wladyslaw Szpilman), Thomas Kretschmann (deutscher Offizier),
Frank Finlay (Vater), Maureen Lipman (Mutter), Ed Stoppard (Henryk), Julia Rayner
(Regina), Jessica Kate Meyer (Halina), Emilia Fox (Dorota), Ruth Platt (Janina).
zur
startseite
zum
archiv