Pigs Will Fly
Psycho Slam
Als der Polizist Laxe von seiner Berliner Plattenbausiedlung nach San
Francisco umsiedelt, sieht er sich mit einer Welt konfrontiert, die ihm
unangenehm fremd und anziehend zugleich erscheint. Laxe, der seine Frau
mehrfach krankenhausreif geschlagen hat, dem ein Disziplinarverfahren
droht und der seinen Kopf von all diesen Dingen frei bekommen will,
flüchtet zu seinem Bruder in eine Stadt, die sich, zumindest in Eoin
Moores Darstellung, nicht größer von dem tristen Berliner Vorortleben
unterscheiden könnte. Der Bruder ist Dichter, wohnt mit einer lesbischen
Freundin und der Punk-Ausreißerin Inga aus Hannover in einer alternativen
Wohngemeinschaft, die versucht, den Geist der ehemaligen Hippie-Metropole
in einer Mélange aus Pseudo-Kunst und Bohème-Idealen aufrechtzuerhalten.
Schnell wird deutlich, daß Moore zwei Lebenskonzepte gegeneinander
ausspielt: auf der einen Seite der sensible Intellektuelle, der tagsüber
auf dem Flohmarkt Schrott verkauft und sich abends in Poetry Slams den
Frust von der Seele rezitiert. Auf der anderen der Prolet, der die
gleiche Angst in sich trägt wie sein Bruder, diese aber mit
unkontrollierbaren Wutausbrüchen gegen Frauen zu besiegen sucht. Dieser
nicht ausgelebte Konflikt zwischen den Brüdern verteilt zwar auf den
ersten Blick sehr deutlich die Sympathien zugunsten des Künstlertypen,
der sich durch Reflexion zumindest einen intellektuellen Zugang zum
Umgang mit der eigenen Vergangenheit erarbeitet hat, entlarvt dessen
Lebenskonzept aber auch als Flucht in eine Traumwelt. Vielmehr versucht
Moore dem Zuschauer zu vermitteln, daß der selbst auferlegte kalte Entzug
der eigenen Gewalttätigkeit ein deutlich höheres Maß an Kraft und Stärke
erfordert als die Flucht in die Kunst, die gleichsam als Flucht in eine
Kunstwelt gedeutet werden kann.
Als sich Laxe in Inga verliebt und der Weg in eine neue, bessere Zukunft
geebnet scheint, weiß der Zuschauer längst, daß der Film auf seinen
finalen, schrecklichen Höhepunkt zusteuert. Selbst der Tod des Vaters,
der als tyrannischer, prügelnder Ehemann nach und nach als die Wurzel der
psychischen Schäden und der unvermittelt auftauchenden Brutalität Laxes
präsentiert wird, kann den Weg in ein neues, besseres Leben nur
zeitweilig ebnen - zu festgefahren sind die eingeprägten
Verhaltensschemata. In einer der wenigen wirklich schlechten Szenen
dieses Films droht Laxe seiner Frau, sie totzuprügeln. Er sieht sich mit
erhobener Faust gespiegelt im Porträt des jüngst verstorbenen Vaters und
erschrickt. Zum Glück verzichtet der Regisseur im weiteren Verlauf des
Films auf solch mißlungene Erklärungsversuche, sondern konzentriert sich
weiterhin auf die scheinbare Selbsttherapie seines Protagonisten, die
letztendlich nur ein Abstieg in die Hölle ist.
Die Metapher im Titel des Films, die fliegenden Schweine, kann als klare
Absage an den Glauben an einfache Erklärungen gedeutet werden, die man
dem Film im ersten Moment selbst unterstellen mag. Doch das dramatische,
offene Ende zeigt, daß es Moore nicht darum geht, ein Sozialdrama zum
Gutmenschenfilm zu machen, sondern sich ausschließlich auf die
Darstellung menschlichen Leids zu konzentrieren, aus dem es allem
Anschein nach keinen Ausweg gibt. In der letzten Einstellung des Films
sieht man durch die Augen Laxes mit taumelndem Blick auf einen Fluß - ob
er springen wird, bleibt auf den ersten Blick offen. Der Lauf des Flusses
aber soll den Zuschauer darauf hinweisen, daß Laxes Leben weiterhin
seinen gewohnten Weg gehen wird. Es wird weitere Opfer geben. Die
Schweine werden nicht mehr lernen zu fliegen.
Sascha Seiler
Dieser Artikel ist zuerst erschienen im:
Pigs Will Fly
D 2002. R,B,S: Eoin Moore. B: Nadya Derado. K: Bernd Löhr. S:
Oliver Gieth. M: Kai-Uwe Kohlschmidt, Warner Poland, Chris Whitley. P: Workshop BdR, ZDF. D: Andreas Schmidt, Thomas Morris, Laura Tonke,
Kirsten Block u.a. 102 Min. Piffl ab 9.1.03