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Populärmusik
aus Vittula
„Her life was saved by Rock’n’Roll“
wusste einst im letzten Jahrhundert Lou Reed von einer gewissen Jenny zu berichten
(„Rock & Roll“) und auch, dass sie das Streben ihrer Eltern nach materiellem
Reichtum eher nachrangig einschätzte. Wim Wenders und viele andere der
um 1945 Geborenen haben in der Folge diese biografische Selbstbeschreibung topoihaft
aufgegriffen, wann immer es darum ging, den emphatischen Augenblick der „Befreiung“
vom Muff der 1000 Jahre auch der Nachkriegsgesellschaft zu fixieren. Selbst
in der Hagiografie von „1968“ stellt der „Rock’n’Roll“ eine entscheidende Grenze
zwischer Kaderpolitik und antiautoritärer Revolte dar: Hier lustfeindliche
SDS-Teach-Ins, Politökonomie-Seminare, die blauen MEGA-Bände und die
RAF; dort Drogen, die „Kommune 1“, der „Blues“ und die „Umherschweifenden Haschrebellen“.
Nun ist „Rock´Roll“ ein
weites Feld für Privatmythologien: Mancher befreite sich zum Hüftschwung
Elvis Presleys, manchem reichte dazu bereits Bill Haley, später waren es
vielleicht die Rolling Stones oder The Who, vielleicht auch Ton Steine Scherben
oder die Sex Pistols. Und auch der iranischstämmige Regisseur Raza Baghers
hat in seiner Verfilmung des erfolgreichen Romans „Populärmusik aus Vittula“
von Mikael Niemi brillante Bilder für diesen Augenblick der Befreiung gefunden:
Als Mitte der 60er Jahre zum ersten Mal die Single „Rock’n’Roll Music“ der Beatles
erklingt, gerät die kleine, überschaubare Welt der jugendlichen Protagonisten
Matti und Niila aus den Fugen. Die Jungen werden buchstäblich aus den Fängen
der Schwerkraft entlassen und in eine neue Wirklichkeit geschleudert. Ende der
70er Jahre wird es heißen: „Dies ist ein Akkord, dies ein anderer, dies
ein dritter. So, nun geh’ los und gründe (d)eine Band!“
Um diese vielleicht zumindest
generationell verallgemeinerbare Erfahrung geht es auch in „Populärmusik
in Vittula“, allerdings unter fast schon grotesk erschwerten sozialen und klimatischen
Bedingungen. Vittula ist ein Ort im schwedisch-finnischen Niemandsland, wo die
archaischen, rauhen Sitten einer traditionellen Männergesellschaft herrschen.
Hier besteht der Alltag aus Arbeit und selbstzerstörerisch-ritueller Freizeitgestaltung,
die fast immer in Wettbewerb und Kräftemessen umschlägt: Ob Fingerhakeln,
Saunagänge oder Sex - alles wird inspiriert durch das damit stets einhergehende
Saufen von hochprozentigem »Sprit«. Es ist ein Leben am Rande der
Zivilisation und Kunstformen wie Popmusik fallen hier umstandlos unter das Verdikt,
»Knapsu« (unmännlich, verweichlicht) zu sein. Man kann sich
nun überlegen, ob derlei soziale Sanktionen der »Populärmusik«
förderlich sind oder nicht. Für Matti und Niila, pubertierende Rockfans,
gibt es freilich nichts zu überlegen: Sie gründen mit Unterstützung
ihres eigenwilligen Musiklehrers - Rock’n’Roll Highschool
- eine Band, die sich mit wechselndem Erfolg daran versucht, irgendwie nach
den großen Vorbildern zu klingen und vielleicht auch so »cool«
auszusehen. Das ist nicht ganz einfach, wenn man seine Bühnenerfahrungen
auf völlig outragierten Jägervereinsversammlungen sammeln muss, falls
man nicht gerade von seinem degeneriert-brutalen Vater verprügelt wird.
Früher oder später, soviel steht fest, muss man raus aus dieser provinziellen
Wüstenei - vielleicht Richtung Süd-Schweden.
Der Iraner Reza Bagher hat es
immerhin geschafft, dieser durchaus skurrilen und schrägen und auch nostalgischen
Geschichte jeglichen Charme auszutreiben, indem er die Bevölkerung von
Vittula auf geradezu fiese und menschenverachtende Art und Weise als perverse
Freakshow vorführt. Man wähnt sich fast bei Gerhart Hauptmann: Allumfassender
Alkoholismus, degenerierte Primitivität, stumpfsinniger Traditionalismus
und krude Sexualität sind nur einige der Dinge, die hier pittoresk als
Hintergrund einer fahrig inszenierten Coming-of-age-Geschichte aufgefahren werden.
Die latente väterliche Gewaltdrohung, die Niilas Vater Isak stets präsent
hält, schlägt in mehreren Szenen in offene Gewalt um und zerstört
unmotiviert, aber nachhaltig den Tonfall der bis dahin zwar bizarren, aber immerhin
auch manchmal komischen Geschichte. Episode reiht sich ohne jedes Gespür
für Timing an Episode: hier ein Besuch afrikanischer Christen in der Kirche
von Vittula, wo die Gemeinde derart konsterniert reagiert, dass der Begriff
Rassismus ein intellektueller Euphemismus wäre, dann wieder ein ausgewalztes
Wettrennen zwischen dem radfahrenden Musiklehrer und dem Schulbus, dann wieder
psychedelische Abenteuer der beiden Freunde.
Irgendwann wird bei soviel Konfusion
alles völlig egal: Warum verwandelt sich der schmuddelige Hausierer plötzlich
in eine glamouröse Transe? Weshalb ist der Geist der verstorbenen Großmutter
so hartnäckig? Sind die degenierten Männer von Vittula vielleicht
doch nur Opfer der Verhältnisse, die nach Aufklärung hungern? Gibt
es einen qualitativen Unterschied zwischen dem Komasaufen eines Jagdvereins
und der jugendlichen Rock’n’Roll-Extase? All diese Fragen interessieren Bagher
nicht die Bohne. Warum sollte man auch irgendeinen Gedanken vertiefen, wenn
man in derselben Zeit zwei, drei schräge Einfälle zusammenklatschen
und sie seiner verrohten Klientel zum Entertainment vorwerfen kann? Welch Geistes
Kind dieser Film ist, zeigt der Rahmen der Geschichte: Ein Bergsteiger mit einer
Urne hat einen Berg erklommen, küsst vor Freude den Boden am Gipfel und
klebt mit seinen Lippen am eisigen Untergrund fest. Am Ende des Films wird er
einen Ausweg aus seiner Malaise wählen, der symbolisch zeigt: Befreien
muss sich jeder selbst. Am Schluss von „Populärmusik aus Vittula“ weiß
man zumindest eines ganz sicher: Rock’n’Roll ist mausetot.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: film-dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Populärmusik aus
Vittula
Schweden / Finnland 2004 - Originaltitel: Populärmusik från Vittula - Regie: Reza Bagher - Darsteller: Max Enderfors, Andreas af Enehielm, Björn Kjellman, Jarmo Mäkinen, Kati Outinen, Göran Forsmark - FSK: ab 12 - Länge: 100 min. - Start: 19.1.2006
Eine DVD des Films erscheint am
29.9.06 bei goodmovies/pifflmedien
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