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Pretty
Baby
Schwierige Wege
Irgend jemand entdeckte die Fotografien eines
bis dahin unbekannten Mannes namens E. J Bellocq. Der hatte im zweiten Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts den Rotlichtdistrikt von New Orleans, Storyville, fotografiert
(1). Die Forschungen von Al Rose über diesen Distrikt waren die zweite
Quelle, die den französischen Regisseur Louis Malle dazu anregten, 1978
einen damals heftig umstrittenen Film zu drehen. Er erzählt die Geschichte
der 12jährigen Violet (gespielt von der damals fast gleichaltrigen Brooke
Shields), eines Mädchens, das gegen Ende des ersten Weltkrieges in einem
der Bordelle in Storyville aufgewachsen war.
Die wunderbare, dezente und doch
en detail gehende Kamera Sven Nykvists (der für Ingmar Bergman gearbeitet
hatte) führt uns in die Räumlichkeiten des "gehobenen" Bordells
von Nell (Frances Faye). Nell, bestimmt 70 Jahre alt, trinkt Absinth und nimmt
Kokain. Sie trägt eine Perücke, ist über die Maßen angemalt,
wenn sie nicht gerade im Bett liegt, und hat ab und zu auch noch einen Freier.
Der Blick fällt auf die 12jährige Violet. Sie ist hier aufgewachsen
wie ihre Mutter Hattie (Susan Sarandon), die gerade nach einer äußerst
schmerzhaften Geburt einen Sohn zur Welt bringt - Vater unbekannt -, und deren
Mutter, die auch als Prostituierte gearbeitet hatte.
Violet kennt keine andere Umgebung
als das Freudenhaus. Und Violet ist ein äußerst intelligentes Mädchen
mit einer genauen Beobachtungsgabe. Sie kennt alles und alle in diesem Haus,
alle Schliche, alle Tricks und alle Verhaltensweisen der Huren gegenüber
ihren Freiern. Nur ab und an hat sie Spielkameraden, den rothaarigen Red Top
(Matthew Anton) oder Nonny (Von Eric Thomas). Die meiste Zeit allerdings treibt
sich Violet in den Räumen des zweistöckigen Bordells herum.
Eines Tages erscheint der Fotograf
E. J. Bellocq (Keith Carradine) im Bordell. Er will die Prostituierten fotografieren,
Eindrücke sammeln. Nell erlaubt ihm dies, und Bellocq hält sich stundenlang
im Bordell auf - allerdings nie, um sich der Dienste einer der Huren zu bedienen.
Am liebsten fotografiert er Hattie. Zwischen ihr und Violet kommt es des öfteren
zum Streit. Hattie träumt, wie die meisten Prostituierten, davon, eines
Tages ein besseres Leben zu führen, einen reichen Mann zu heiraten usw.
Violet ist von Bellocq fasziniert, weil er anders zu sein scheint als die Freier,
die das Bordell bevölkern.
Und dann ist es soweit: Violet
wird den Freiern vorgestellt. Wer am meisten bietet, soll ihr erster Kunde werden.
400 Dollar bietet ein Mann mittleren Alters - und so wird Violet entjungfert.
Kurze Zeit später lernt Hattie
einen Mann kennen, der sie heiraten und nach St. Louis mitnehmen will - ein
reicher Mann, der auch den kleinen Sohn Hatties akzeptiert. Allerdings erzählt
Hattie diesem Mr. Fuller (Don Hood), Violet sei ihre Schwester; erst später,
wenn sich beide eingewöhnt hätten, würde sie Fuller die Wahrheit
erzählen und Violet nachholen. Violet bleibt im Bordell - und arbeitet
weiter als Prostituierte.
Als sie eines Tages verprügelt
wird, weil sie den schwarzen Jungen Nonny mehr aus Spaß verführen
will - die Missachtung der Rassentrennung ist auch im Bordell ein Sakrileg -,
flüchtet sie in das Haus Bellocqs, um dessen Geliebte zu werden. Bellocq
aber schwankt zwischen seiner potentiellen Rolle als Ersatzvater und seiner
Faszination für Violet als (viel zu junge) Frau ...
Die Proteste gegen den Film, der
in Cannes ausgezeichnet wurde, sind nur vor dem Hintergrund einer (nicht einmal
mit Prüderie erklärbaren) falschen Moral und Doppelmoral sowie christlich-fundamentalistischer
Überzeugungen zu verstehen. Denn der Film selbst ist in keiner Weise voyeuristisch,
das heißt er bedient nicht im mindesten voyeuristische Erwartungen. Im Gegenteil: Malles Geschichte und
die Kamera Nykvists sind in dieser Hinsicht zurückhaltend, ja man kann
sagen äußerst respektvoll und distanziert. Im Mittelpunkt steht Violet,
ein Kind, das nichts anderes kennt als das Bordell, das dort geboren und aufgewachsen
ist. Und Malle verfolgt, wie ein junges Mädchen sich unter diesen Umständen
entwickelt.
Jenseits jeglicher moralischer
Urteile und Verurteilungen geht es Malle nicht um die ethische Wertung des Verhaltens
der Beteiligten. Er will - und das Spiel der jungen Brooke Shields lässt
dies mehr als deutlich werden - bebildern und erzählen, was in einem Mädchen
wie Violet vorgeht. Das Ergebnis ist logisch und erschreckend zugleich. Für
Violet kann es (zunächst jedenfalls) keine andere Perspektive geben als
die, die ihre Mutter und Großmutter auch hatten: Arbeiten als Prostituierte.
Weder die Freier - vom einfachen Handwerker und Farmer bis zum Senator oder
Marineoffizier -, noch die Prostituierten, noch der u.a. Scott Joplins Ragtime
spielende "Professor" (Antonio Fargas), noch die Puffmutter Nell,
noch die schwarzen Hausangestellten, noch Hattie, noch Bellocq werden in Malles
Film irgendeiner Beurteilung unterworfen.
Für alle Beteiligten sind
Atmosphäre, soziales Verhalten, Bordellriten usw. Normalität. Man
mag innerlich dagegen aufbegehren, protestieren oder sonst Abneigung gegen den
"Missbrauch" von Violet empfinden. Den Blick richtet Malle nicht darauf, sondern
ganz auf Violet selbst.
In der Beziehung zwischen Violet
und Bellocq, einem ruhigen, aber auch entschlossenen, einsamen Mann, über
dessen Motive, im Bordell zu fotografieren nichts bekannt ist, vertieft sich
der Blick auf Violet. Er ist fasziniert von ihr, und zugleich ist ihm bewusst,
dass die Normalität des Bordells für ein 12jähriges Mädchen
keine Gültigkeit besitzen dürfte. Seine eigene Faszination ist zwiespältig.
Einerseits sieht er in Violet ein Kind in der Pubertät, andererseits fasziniert
ihn Violet als angehende Frau. Diese Zwiespältigkeit spiegelt sich in Violet
selbst. Sie spielt mit gleichaltrigen Kindern, auch mit der Puppe, die Bellocq
ihr geschenkt hat, doch zugleich begreift sie sich, ja empfindet sie sich als
Frau neben den anderen Frauen im Bordell. Sie will Bellocq heiraten, seine Geliebte
sein, seine Frau. Sie ist "zu erwachsen" für ihr Alter - könnte
man auch sagen. Dieser innere Zwiespalt aber führt nicht dazu, dass Violet
etwa in psychische Abgründe gerät oder gar in Depressionen verfällt.
Sie "geht" mit ihrem Leben so um, wie es ist.
Ihre Sozialisation mag uns "nicht
passen", uns widerstreben. Aber all das nützt nichts.
Das Erschreckende der Geschichte
ist nicht so sehr irgendeine Form von Missbrauch. Man kann das Aufwachsen von
Violet natürlich so werten; nur würde diese Bewertung eben zu kurz
greifen. Storyville ist Teil einer Gesellschaft, in der Prostitution zur Normalität
gehört. Dass Sexualität zur Ware geworden ist, ist nichts Neues in
der Moderne. Sie ist Teil der Moderne - ob uns das passt oder nicht. Die Verhältnisse
im Bordell spiegeln "nur" die Verhältnisse der Gesellschaft,
in der alles käuflich geworden ist. Dass ein12jähriges Kind in diese
Käuflichkeit mit einbezogen wird, mag uns erschaudern lassen. Doch es liegt
gewissermaßen in der Logik einer Gesellschaft, in der alles nur in Geld
gewogen wird. Violet empfindet dies als normal. Und wie soll sie es auch anders
empfinden? Ihre Sozialisation bedingt diese Normalität.
Und doch ist Malle nicht so naiv, das
Publikum mit diesem Schrecken zu entlassen. Bei allem Verständnis für
sämtliche Beteiligte der Geschichte zeigen doch die Szenen im Haus Bellocqs
und die Schlussszene, wie langsam aber sicher sozusagen die Natur gegen die
Kultur rebelliert. Das Spiel mit der Puppe bei Bellocq wie auch die Schlussszene
auf dem Bahnhof, als Hattie und ihr Mann Violet mit nach Hause nehmen wollen,
zeigt uns in Violets Gesicht die dramatische Spannung eines so jungen Lebens,
in der eine "normale" Kindheit schon weitgehend verloren zu sein scheint.
Es ist diese Rebellion des Natürlichen, des Anthropologischen gegen eine
Kultur des allseits Käuflichen, die eine Rückkehr, oder besser: eine
Umkehr möglich erscheinen lässt. Für Violet beginnt zugleich
mit diesem Schluss des Films eine neue Form der Sozialisation sowie eine Reflexion
ihrer bisherigen Sozialisation. Zumindest besteht hier für sie eine große
Chance. Denn sie hat - trotz oder gerade wegen des Lebensraums Bordell und Storyville
- in sich eine Kraft geradezu getankt, die für ihr weiteres Leben sehr
bedeutsam sein wird.
Verlierer dieser Geschichte ist
in gewisser Weise Bellocq, der eine Tochter wie eine Frau verloren hat - das
heißt etwas auf Dauer Unmögliches.
Man sieht auch, wie wenig moralische
Kategorien hier helfen, um eine solche Geschichte zu beurteilen. Ein feines
Gefühl für die Hauptfigur des Films ist jedenfalls in jeder Hinsicht
hilfreicher.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
(1) Vgl. z.B. J. Bellocq: New Orleans
Photographs, Verlag: Jonathan Cape, 1996; Nell Kimball, Stephen Longstreet,
E. J. Bellocq: Memoiren aus dem Bordell, Frankfurt am Main 1999.
Pretty
Baby
(Pretty Baby)
Regie: Louis
Malle
Drehbuch:
Polly Platt, Louis Malle
Musik: Gerald
Wexler, Scott Joplin
Kamera:
Sven Nykvist
Schnitt:
Suzanne Fenn
Ausstattung:
Trevor Williams
Darsteller:
Brooke Shields (Violet), Keith Carradine (E. J. Bellocq), Susan Sarandon (Hattie),
Frances Faye (Nell), Antonio Fargas (Professor), Matthew Anton (Red Top), Diana
Scarwid (Frieda), Don Hood (Alfred Fuller), Susan Manskey (Fanny)
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