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Die
purpurnen Flüsse
Geometrie
des Schreckens
Was
am Anfang getrennt ist, kommt am Ende zusammen. Hoch oben auf den Bergen über
Grenoble feiern die beiden Kommissare ein Happyend. Nicht nur, dass sie ihre
jeweiligen Fälle gelöst hätten, es war letztlich nur ein einziger.
Und doch liefen kurz vorher, vor dem Showdown, noch vier Personen über
die Skipiste. Die umgekehrte Übung bekommt also auch ihr Recht, aus einer
Einheit wird eine Zweiheit als Zwilling. Legt man diese beiden geometrischen
Figuren (Dreiecke) übereinander, so bekommt man in der Mitte ein Zentrum.
Im Zentrum des Plots des Films steht der Tausch. Im Zentrum des Films dagegen
eher Unordnung. Da hilft es auch nicht, dass der ältere der Ermittler,
Niémans (Jean Reno), immer so gelassen ist, manchmal auch so dummschlau.
Aber
es geht ja von einem Spektakel zum nächsten, da gibt es keine Atempause,
jede Szene ein neuer Ort, darüber hinaus parallele Ermittlungen zunächst
getrennt scheinender Fälle, totgefahrene Schulmädchen und handamputierte
Leichen mit Glaskugelaugen, Grabesschändungen auf Friedhöfen, überall
herumjoggende Studentengenies, eine irre Mutter im ewigen Untertagebau eines
Nonnenklosters, Polizisten, die nicht so genau zwischen privat und dienstlich
unterscheiden können und ständig väterliche Fürsorge und
Informationspflicht einklagen, Louis-de-Funès-Dorfpolizist-Trottel, die
erst gar nicht in die Ermittlungen einbezogen werden (das würde empfindlich
die geometrische Doppelfigur beeinträchtigen), und nicht zuletzt eine völlig
wahnsinnige nationalsozialistische Berguniversität, die empfindlich an
ihrer sackgassenhaften Reproduktionsmethode leidet und es doch nicht lassen
kann, gefährliche Liebschaften im gefängnishaften Spiegelsaal des
Lesesaals massenhaft entstehen zu lassen.
Es
ist also einiges los in diesen eisigen Regionen. Dann kommen über logischerweise
sich einstellende Assoziationen auch noch andere Filme ins Spiel, so etwa „Das
Schweigen der Lämmer“
in der Kreuzigungsszene und „Sieben“ wegen
der Schnitzeljagdmethode. Hin und wieder fragt man sich, ob die Methode des
Spurenlegens der Wahnsinn ist, aber das ist nur eine Zusatzirritation, die sich
mit den anderen gut verträgt. Es gibt noch ein anderes Zentrum des Films,
und das ist da, wo der Tausch sich auch bei den beiden Polizisten bemerkbar
macht, indem sie sich gegenseitig mit Informationen austauschen. Von da an geht
es aufwärts mit der Suche, an Spannung, aber auch an realen Höhenmetern.
Eine der vielen brachialen Untersuchungsmethoden – die zweite Grabschändung
– bestätigt den Verdacht von Niémans, dass den Fall nur lösen
kann, der ihn auslöste und durch die Morde überhaupt erst publikumswirksam
zum Fall machte, die Studentin, die den ersten Toten fand. Wenn alles beim alten
geblieben wäre, hätte sie gar nicht studieren müssen, was ja
hier eher ein Fluch ist als ein aufklärerischer Segen, sondern hätte
mit ihrer (Zwillings)Schwester die Alm bestellt. Das Schicksal wollte es anders,
aber da es menschlich gepfuscht hat und es auch ein paar Verantwortliche gibt,
können sich die Schwestern immerhin rächen, genauer gesagt die dunkle
Hälfte dieses entwendeten Paars. Aber erst, wenn auch dieser Spiegel zerbrochen
ist, kann das Ende gut werden, in Form eines ungleichseitigen Dreiecks.
Dieter
Wenk
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Frankreich
2000 - Originaltitel: Les Rivières pourpres - Regie: Mathieu Kassovitz
- Darsteller: Jean Reno, Vincent Cassel, Nadia Farès, Dominique Sanda,
Karim Belkhadra, Jean-Pierre Cassel, Didier Flamand, François Levantal
- Länge: 102 min. - Start: 19.4.2001
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