zur startseite
zum archiv
Raining
Stones
Da geht einer seinen Weg
Für
Andreas Thomas und die Filmzentrale:
Da ist so etwas wie Stolz und Unverbrüchlichkeit, ja Ehre in den Filmen des Briten Ken Loach („Riff-Raff“, 1990; „My Name is Joe“, 1998; „Bread and Roses“, 2000; „The Navigators“, 2001; „Sweet Sixteen“, 2002). Nicht jene hehren Prinzipien der oberen Klassen, die aus den predigtgleichen Verlautbarungen aller Art in Festreden und Elogen hervorquellen. Nein. Loachs Figuren gehören einer anderen Welt an, einer, in der über Stolz nicht geredet, kein Wort verloren wird. Stolz ist hier etwas, das mit Personen verbunden ist wie Arme und Kopf, etwas Gewachsenes, das in seiner Substanz kaum erschüttert werden kann.
Loachs
Figuren sind keine Engel und keine Teufel; es sind reale Menschen aus der working
class bzw. der „non-working class“, Arbeitslose, Arme, Labour-Anhänger
der alten Sorte, die aber auf Labour nicht mehr viel geben, weil sich deren
Funktionäre der neuen Linie einer Intelligenz verschrieben haben, Funktionäre,
die mit den Lebensbedingungen in den Ghettos und Arbeitersiedlungen am Rande
der großen englischen Städte kaum mehr etwas zu tun haben (wollen),
Träumer einer heilen Welt, die das permanente Unheil ebensowenig kennen
(wollen) wie die Lebendigkeit und die Chancen sehen, die in den Menschen schlummern,
die hier leben.
Bob
(Bruce Jones) ist so ein stolzer Mensch in einer jener nordenglischen Städte.
Er ist arbeitslos, geht stempeln und bringt seine Familie – Frau Anne (Julie
Brown) und Tochter Coleen (Gemma Phoenix) – mehr schlecht als recht über
die Runden. Mindestens 80 Pfund kosten Kleid, Schleier, Schuhe für Coleens
Erstkommunion. Woher soll er das Geld nehmen, wenn nicht stehlen? Der örtliche
Pater Barry (Tom Hickey) rät ihm, gebrauchte Kleidung, die aber noch gut
in Schuss ist, zu leihen. Doch Bob will, dass seine Tochter genauso schön
in eigenen Kleidern die Erstkommunion begeht wie alle anderen Kinder auch. Anne
ist schon verzweifelt. Wie will er das bezahlen, wenn die Familie schon so kaum
über die Runden kommt und eine Rechnung sich auf die andere stapelt?
Ist
Bob das Musterexemplar eines starrsinnigen Menschen, der wider alle Realität
handelt? Nein, Bob besitzt das, was man Eigensinn nennt, Eigensinn, der sich
erhält wider alle historischen und sozialen Entwicklungen. Bob ist nicht
etwa realitätsfremd. Aber er ist auch keiner, der sich und seine Familie
und Freunde verrät oder für ein paar Silberlinge verkauft. Diese Haltung
liegt ihm sozusagen im Blut.
Bobs
Freund Tommy (Ricky Tomlinson) geht es nicht viel anders. Auch er ist arbeitslos.
Was er nicht weiß, ist, dass seine Tochter nicht, wie sie behauptet, Parfum
und Cremes verkauft, sondern Rauschgift. Ein Hammel soll Geld bringen. Tommy
und Bob stehlen ihn irgendwo auf einer Weide aus einer Herde heraus. Das bisschen
Geld, das sie für das Tier bekommen, bringt beide nicht weiter. Und dann
wird auch noch Bobs Wagen gestohlen. Er versucht sich als Rausschmeißer
in einer Disco und verliert seinen Job gleich wieder, als er einen Dealer, den
er mit Tommys Tochter gesehen hat, angreift. Die beiden Männer lassen sich
für einen anderen Job anheuern: Rasenstücke stehlen auf dem Golfplatz
der lokalen Konservativen.
All
das bringt Bob keine 80 bis 100 Pfund. Und so leiht er sich schließlich
Geld von einem örtlichen Wucherer namens Tansey (Jonathan James), der keine
Skrupel kennt, um sein Geld samt hohen Zinsen wieder einzutreiben. Das bekommen
Bobs Frau und Tochter zu spüren. Kurz nach Tanseys Besuch bei ihnen ist
der Wucherer tot ...
Ken
Loach ist „verliebt“ in seine Handlung. Der 90 Minuten lange Film vergeht „wie
im Flug“, und hinterlässt in seiner Intensität und mit seinen eindrucksvollen,
von Barry Ackroyd fotografierten Bildern eben doch viel an Emotionalität
und Sympathie für seine Charaktere. Das hat seinen Grund auch darin, dass
diese Charaktere weder überzeichnet sind, noch die Handlung theatralisch
überhöht wirkt. Pater Barry zum Beispiel ist ein Mann, der über
die Nöte seiner Kirchgänger genau Bescheid weiß und sich nicht
hinter katholischer Dogmatik versteckt, um sich aus allem herauszuhalten. Im
Gegenteil: Er hilft Bob in einer existentiellen Notlage genau so, wie der es
braucht. Katholizismus ist für Barry in aller erster Linie Arbeit vor Ort
und nicht Predigt hehrer Lehren.
Auch
Tommy, Bobs Freund, wird von Ricky Tomlinson zwar als Zweckoptimist gespielt,
der auf alle möglichen zum Scheitern verurteilten Ideen kommt, aber als
einer, dem die Verzweiflung genauso im Gesicht geschrieben steht wie, dass er
jedes Mal nach einer Niederlage im Kampf gegen die Verarmung wieder auf den
Boden der Tatsachen zurückfindet. Die Solidarität zwischen den beiden
Freunden wie die zwischen den Familien ist keine gespielte, aufgesetzte, sondern
eine, die aus der Handlung, aus dem Leben der Figuren entwickelt wird. Zudem
ist „Raining Stones“ keine bierernste Abhandlung über die Nöte englischer
Arbeiterfamilien, im Gegenteil, ein (nicht nur) unterschwelliger Humor schwingt
fast den ganzen Film über mit.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in der filmzentrale
Raining
Stones
(Raining
Stones)
Großbritannien
1993, 90 Minuten
Regie:
Ken Loach
Drehbuch:
Jim Allen
Musik:
Stewart Copeland
Director
of Photography: Barry Ackroyd
Schnitt:
Jonathan Morris
Produktionsdesign:
Martin Johnson
Darsteller:
Bruce Jones (Bob), Julie Brown (Anne), Gemma Phoenix (Coleen), Ricky Tomlinson
(Tommy), Tom Hickey (Pater Barry), Mike Fallon (Jimmy), Jonathan James (Tansey),
Christine Abbott (May), Geraldine Ward (Tracey), William Ash (Joe), Matthew
Clucas (Sean)
Internet
Movie Database:
http://german.imdb.com/title/tt0107920
Weitere
Filmkritik(en):
„Chicago
Sun-Times“ (Roger Ebert) (3,5 von 4 Punkten):
http://www.suntimes.com/ebert/ebert_reviews/1994/04/917677.html
„Movie
Reviews“ (James Berardinelli) (3,5 von 4 Punkten):
http://movie-reviews.colossus.net/movies/r/raining_stones.html
©
Ulrich Behrens 2004 für filmzentrale.com
zur startseite
zum archiv