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Ran
Die Götter weinen ...
Eine gewaltige, prächtige
Landschaft tut sich vor unseren Augen auf. Das satte Grün der Wiesen, die
sich über ein teils leicht hügeliges, oft aber steiles, bergiges Gelände
in die Unendlichkeit auszuweiten scheinen, öffnet den Blick auf eine Landschaft,
die etwas Überwältigendes hat. Ein alter Eber läuft um sein Leben.
Männer auf Pferden in blauen, grünen, roten und gelben Rüstungen
jagen den Eber und erlegen ihn. Diese Farbenpracht vermittelt etwas von der
Größe der Natur, aber auch von der Größe der Männer,
die sich in ihr bewegen. Samurai. In einem nach oben offenen Zelt versammeln
sie sich nach der Jagd, essen, trinken und reden. Der Eber ist zu alt, um ihn
zu verspeisen. Man hat ihn gejagt um der Jagd willen.
Am Ende des Films ist dies alles
verschwunden. Kaum noch etwas erinnert an diese Anfangssequenz. Die Dunkelheit
beherrscht den Raum. Finsternis hat die Erde bedeckt. Es ist dieser starke Kontrast,
der die Geschichte, basierend auf Shakespeares "King Lear", beherrscht.
Es ist diese Zwiespältigkeit von Bewunderung und Verachtung, von Licht
und Schatten, von Größe und Niedertracht, von Eingebundenheit in
die Natur und Brutalität der menschlichen Natur, die sich wie ein roter
Faden in aller epischen Breite durch den Film spinnt.
Akira Kurosawas Alterswerk aber
glänzt wie seine früheren Filme, oft sogar noch mehr. Die Geschichte
von Betrug und Selbsttäuschung, Verrat und Treue, Macht, Intrige, Verschlagenheit,
Liebe und Hass spielt im 16. Jahrhundert, in einem Zeitalter, das mit dem Begriff
frühe Neuzeit nur unzureichend bezeichnet werden kann - eine Zeit des Übergangs,
des Umbruchs. Die Feuerwaffen sind bereits erfunden und im Einsatz. Sie töten
besser als Pfeil und Bogen und das Schwert. Das alte System der sich bekämpfenden
Fürsten und ihrer Samurai scheint sich ein letztes Mal aufzubäumen,
während am Horizont - noch nicht wirklich sichtbar - eine neue Zeit sich
anzukündigen scheint, eine Zeit von der die Akteure noch nichts wissen,
nicht einmal etwas ahnen.
Hidetora (Tatsuya Nakadai), der
alt gewordene Fürst, sitzt mit seinen ehemaligen Widersachern, den Fürsten
Ayabe (Jun Tazaki) und Fujimaki (Hitoshi Ueki), mit denen er Frieden geschlossen
hat, und seinen drei Söhnen nach der Jagd zusammen. Er ist müde geworden
und hat eine Entscheidung getroffen. Sein ältester Sohn Taro (Akira Terao)
soll sein Nachfolger werden, der Herr über die erste Burg, und seine zwei
anderen Söhne, Jiro (Jinpachi Nezu) und Saburo (Daisuke Ryu), sollen als
Herren der zweiten bzw. dritten Burg mit Taro die Einheit des Geschlechts der
Ichimonji wahren. Während Taro und Jiro Hidetora ihre Ergebenheit erweisen,
ihm danken und sogar Hidetora bitten, doch in seinem Amt zu bleiben, widerspricht
der jüngste Sohn Saburo seinem Vater. Er nennt ihn senil und schwachsinnig.
In einer Welt, in der es keine Menschlichkeit und keine wirkliche Treue mehr
gebe, wolle Hidetora seinen heuchlerischen Brüdern die Macht übergeben?
Das sei mehr als unklug. Hidetora ist erbost über dieses Verhalten Saburos
und verbannt ihn, zusammen mit dem Samurai Tango (Masayuki Yui), der Saburo
zustimmt.
Nur Fürst Fujimaki ist beeindruckt
von der Wahrheitsliebe und Offenheit Saburos und bittet ihn auf seine Burg und
darum, seine Tochter zur Frau zu nehmen.
Taro kehrt zurück zu seiner
Burg. Seine Frau Kaede (Mieko Harada) stachelt ihn auf, die ganze Macht an sich
zu reißen. Sie will sich rächen - rächen dafür, dass Hidetora
einst ihre ganze Familie umbringen ließ. Sie will, dass Taro seinen Vater
gänzlich entmachtet und auch seinen Bruder Jiro tötet. Taro zwingt
seinen Vater, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem Hidetora auf seine letzten
Befugnisse verzichtet. Enttäuscht und verbittert verlässt Hidetora
Taros Burg und hofft, bei seinem Sohn Jiro angemessen aufgenommen zu werden.
Doch auch Jiro spekuliert auf
die ganze Macht. Er verweigert Hidetoras Leibwache den Zutritt zur zweiten Burg
und erwidert seinem Vater, er müsse den Befehlen Taros als dem neuen Oberhaupt
der Familie gehorchen. Hidetora verlässt auch Jiros Burg und zieht - verführt
von dem Verräter Ikoma (Kazuo Kato) - in die dritte Burg, die jedoch Taro
und Jiro erobern. Während der blutigen Schlacht, in der Hidetoras treue
Leibgarde und alle seine Leute ermordet werden, lässt Jiro Taro hinterrücks
ermorden. Hidetora allein überlebt. Jiro lässt ihn - trotz der Warnungen
seiner Samurai - gehen. Und fortan irrt Hidetora - nur begleitet von dem treuen
Tango und dem Narren Kyoami (Peter) - verbittert und der geistigen Umnachtung
nahe, durch das Land, das ihm einst gehörte.
Finsternis hat die Erde bedeckt.
Und es ist Kaede, die nun Jiro dazu bewegen will, alle zu töten, die ihrer
Rache im Weg stehen, einschließlich der Frau Jiros, Sué (Yoshiko
Miyazaki), und deren Bruder, dem blinden Tsurumaru (Mansai Nomura). Nur Tango
weiß, was zu tun ist. Er will Hidetora dazu bringen, sich mit seinem dritten
Sohn Saburo zu versöhnen. Doch Hidetora, der inzwischen weiß, wie
schändlich er Saburo behandelt hat, wie falsch er seine beiden anderen
Söhne eingeschätzt hat, will vor Scham seinem Sohn nicht begegnen ...
Obwohl "Ran" - das japanische
Wort für Chaos - im 16. Jahrhundert spielt und auf Shakespeares "King
Lear" fußt, artikuliert Kurosawa in seiner Interpretation der Geschichte
- nicht das erste Mal - eine bittere, fast apokalyptische Sicht auf unsere Zivilisation.
Man kann "Ran" aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln sehen, etwa
als Vater-Sohn-Geschichte, fast in einem biblischen, alttestamentarischen Sinn.
Das ist "Ran" sicherlich auch. Aber diese Vater-Sohn-Geschichte ist
eingebettet in einen größeren, gesellschaftlichen, alle Aspekte der
Zivilisation umspannenden Rahmen.
Der alt gewordene, 70jährige
Hidetora hat in der Zeit, bevor die Geschichte des Films beginnt, sein Leben
damit verbracht, dem Geschlecht der Ichimonji die unumschränkte Macht zu
garantieren. Etliche Fürsten hat er besiegt, sie und ihre Leute getötet,
u.a. auch die Familien Kaedes und Sués, den beiden Frauen, die er mit
seinen beiden ältesten Söhnen vermählt hat. Sués Bruder
Tsurumaru ließ er am Leben, aber nicht, ohne ihm die Augen ausstechen zu lassen.
Seitdem lebt Tsurumaru einsam in einer verlassenen Hütte. Im Gegensatz
zu seiner Schwester Sué, die als überzeugte Buddhistin keinerlei
Rachegelüste hegt, kämpft Tsurumaru innerlich mit seinem Hass, ist
wegen seiner Blindheit aber unfähig, selbst Rache nehmen zu können.
Nur der Drittgeborene Hidetoras,
Saburo, und der Samurai Tango haben erkannt, dass diese Welt, in der es nur
um Macht und Einfluss geht, in der keine Menschlichkeit herrscht und in der
Treue nur noch eine leere Worthülse ist, diese Welt, die Saburos Vater
mit geschaffen hat, dem Untergang verfallen ist. Sué hingegen hat sich
in die innere Welt der Kontemplation zurückgezogen. Und es ist kein Wunder,
dass Hidetora nicht versteht, nicht verstehen kann, dass Sué keinen Hass
gegen ihn empfindet. Hidetora, so kann man auch sagen, versteht die Welt nicht
mehr, die er selbst reproduziert hat. Wie ein einsam Umherirrender sucht er
(vergeblich) nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Saburo und Tango haben genau erkannt,
dass Jiro und Taro die Söhne ihres Vaters sind. Das, was sie von ihrem
Vater gelernt haben, das, was einzig zu zählen scheint, ist der Kampf um
die absolute Macht. Saburo hingegen hat von Hidetora gelernt, dass Schluss sein
muss mit diesem Leben. Hidetora hatte sich mit den anderen Fürsten Ayabe
und Fujimaki versöhnt. Doch diese Versöhnung war eher Ausdruck seiner
Altersmüdigkeit, denn der Überzeugung, eine andere Welt aufzubauen.
Saburo hingegen weiß, dass diese Welt der Machtkämpfe nur mit ihrer
eigenen Vernichtung enden kann.
Kurosawa zeigt aber auch, dass
Verrat, Intrige und Rache unabdingbare Folge dieser Welt des absoluten Machtanspruchs
sind. Zuerst verrät Ikoma, einer der Samurai Hidetoras seinen Herrn, Kaede
kennt nur noch einen Sinn ihres Lebens: Rache, und Jiro und Taro kennen nur
die Intrige als Mittel, ihre eigene Macht zu installieren. Beide Söhne
- und das erkennt Hidetora lange nicht - sind Kinder ihres Vaters. Ganz ähnlich
wie in Coppolas Paten-Trilogie in Bezug auf das soziale System der Cosa Nostra
stellt Kurosawa das soziale System von Fürsten, Samurai und Gefolgsleuten
und deren Ehrbegriffe nicht nur in Frage, sondern entblößt es als
Lüge und Betrug. Die Söhne verraten den Vater, die Getreuen verraten
ihren Fürsten, die Opfer - selbst einmal Täter wie Kaede - üben
sich in grenzenlosem Hass und in ebenso grenzenloser Rachsucht - aber eben nicht
mit dem Ziel der Abschaffung dieses grausamen Systems, sondern mit dem der Reproduktion
dieses Machtgefüges mit sich selbst an der Spitze.
Einer der wenigen Helfershelfer
in diesem System, der eine Ahnung davon hat, wie dieses System funktioniert
und welche Folgen es zeitigt, ist Kurogane (Hisashi Igawa), ein Samurai Jiros,
der erkennt, welchen furchtbaren Einfluss Kaede auf Jiro hat, die versucht,
nach der Ermordung Taros ihre Rache an der Familie Ichimonji mit Hilfe von Jiro
fortzusetzen. Aber Kurogane, der Mühe hat, seine verinnerlichten Ehrbegriffe
aufrechtzuerhalten, schert aus dem System nicht aus; er kann dies nicht, weil
er - im Gegensatz zu Tango und Saburo - nicht über den Tellerrand dieses
Systems hinausschauen kann.
Kurosawa arbeitet zudem mit dem
Mittel der Ironie, einer tragischen Ironie, wenn man so will, in Gestalt des
Narren Kyoami, der die Machenschaften und das Verhalten der Fürsten und
Samurai mit Spott überzieht. Aber im Verlauf der Geschichte muss auch der
Narr begreifen, dass Spott und Ironie angesichts dessen, was sich ereignet,
der Tragik des Geschehenen nicht mehr beikommen kann. Der Narr, neben Saburo
und Tango der einzige, der Hidetora treu ergeben ist, ist verzweifelt angesichts
des Schreckens, der das Land überzieht. Trotzdem wird auch bezüglich
dieser drei Personen deutlich, was Kurosawa unter wirklicher Treue versteht.
Es ist nicht jene scheinheilige Vasallentreue des Systems, nein. Es ist die
Offenheit und Wahrheitsliebe Saburos gegenüber seinem Vater; es ist die
ehrliche, aber kritische Ergebenheit Tangos; und es ist die ironische, aber
von tiefer Zuneigung geprägte Treue des Narren Kyoami. Diese Art von Treue
ist geprägt von Vertrauen und Zuneigung - auch zu dem alten Hidetora und
trotz seiner furchtbaren Vergangenheit.
"Ran" ist von einer
Endzeitstimmung geprägt. Die Versöhnung zwischen Hidetora und Saburo
kann beider Tod nicht mehr verhindern. Das Geschlecht der Ichimonji stirbt aus.
Der Tod, die Verwüstung, die Vernichtung stehen am Ende von "Ran".
So wie jedes "Tausendjährige Reich" dem Untergang geweiht ist
und immer war, so wahr ist es auch, dass es sich auf andere Weise immer wieder
reproduziert - und Berge von Leichen hinterlässt. Diese pessimistische
Sicht des Regisseurs wird im Film überzeugend dargestellt.
Als zum Schluss Kyoami die Götter
beschimpft, entgegnet ihm Tango: Die Götter weinen über die Dummheit,
die Mordgier und die Machtbesessenheit der Menschen. Die Religion hat - einmal
mehr bei Kurosawa - ihren Einfluss längst verloren. Das düstere Bild,
das er zum Schluss präsentiert, zeigt den blinden, einsamen Tsurumaru.
Alle die sind tot, die er liebte, seine Schwester Sué auch. Alle die
sind tot, die dafür verantwortlich sind. Fast alle die sind tot, die gegen
die Unmenschlichkeit etwas tun wollten. Am Leben ist ein Blinder, der einsam auf
einem Felsvorsprung steht, ein Narr, der seine Fähigkeit zur Ironie verloren
hat, und ein Samurai, der des Kämpfens überdrüssig geworden ist.
Die Poetik, die Bildersprache
und die Kraft seiner Figuren machen "Ran" zu einem auch heute noch
sehenswerten, erschreckenden, berührenden Film. Erwähnt werden muss
noch die exzellente Musik von Tôru Takemitsu, die dem Genuss des Films
das berühmte i-Tüpfelchen "aufsetzt".
DVD
Die
DVD von Universal Pictures bietet den Film in einer exzellenten Bild- und Tonqualität.
Und auch wenn diese Edition ohne Bonusmaterial geliefert wird, sprechen doch
dieser epochale Film und seine Geschichte für sich selbst. Der Film kann
in englischer, deutscher und japanischer Sprache genossen werden sowie mit deutschen,
englischen und niederländischen Untertitelspuren. Die DVD kostet bei amazon
und "2001" derzeit € 9,99.
Ulrich Behrens
Dieser Text
ist zuerst erschienen bei:
Ran
(Ran)
Japan 1985, 160 Minuten
Regie: Akira Kurosawa
Drehbuch: Akira Kurosawa, Hideo Oguni, Masato Ide, nach William
Shakespeares "König Lear"
Musik: Tôru Takemitsu
Kamera: Asakazu Nakai, Takao Saitô, Masaharu Ueda
Schnitt: Akira Kurosawa
Ausstattung: Shinobu Muraki, Yoshirô Muraki
Darsteller: Tatsuya Nakadai (Fürst Hidetora Ichimonji), Akira
Terao (Taro Ichimonji), Jinpachi Nezu (Jiro Ichimonji), Daisuke Ryu (Saburo
Ichimonji), Mieko Harada (Kaede, Frau Taros), Yoshiko Miyazaki (Sué,
Frau Jiros), Hisashi Igawa (Kurogane, Vertrauter Jiros), Peter (Kyoami, der
Narr), Masayuki Yui (Tango), Kazuo Kato (Ikoma, Gefolgsmann Hidetoras), Norio
Matsui (Ogura, Gefolgsmann Taros), Mansai Nomura (Tsurumaru, Bruder Sués),
Takeshi Katô (Fürst Ayabe), Hitoshi Ueki (Fürst Fujimaki)
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