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Ratcatcher
Wie
aus dem Nichts
Ja!
Ja! Ja! Dies ist ein Wunderfilm, und er gibt jedem, der gezweifelt hat, den
Glauben ans Kino zurück. Der Kritiker hat nichts zu kritisieren; er muß
über die Peinlichkeitsschwelle und von eigenen Gefühlen berichten.
Nicht mal auf eine Filmographie kann man ausweichen. Es gibt keine.
Lynne
Ramsay, Kamerastudentin aus Schottland, hat mit Ratcatcher
ihren ersten langen Film gemacht. Gedreht mit nichts als mit jugendlichen Laien.
Dokumentarisch, voll inszeniert, magisch-poetisch ausbrechend. Sollen wir jetzt
etwa über soziale Problematik in Glasgower Working-Class-Quartieren schwadronieren?
Oder über die Ästhetik des Genre-Crossover? - Nä, pfui, feig
wär das, wenn's ehrlich sein könnte: Nach Ratcatcher
sieht man die Welt, den Film inklusive, mit anderen Augen. Ohne daß man
im Fachbereich 9 angeleitet werden müßte, ein soziales Krisenexperiment
zu veranstalten.
Und
man erinnert sich, wie es im Alter von zwölf Jahren war, als einem, vielleicht
nur momentweise, zum ersten Mal die Familie fremd vorkam, als man entdeckte,
daß die großen Mädchen Brüste hatten, und als man irgendwo
ganz für sich den Ort suchte und fand, wo man glücklich war, allein
und voll vager Hoffnung. In Ratcatcher
hat James, 12, diesen anderen Blick. Für die Regisseurin Ramsay ist es
der Kamerablick. Wir sind in einem Bilder-Film.
Wir
sehen: An einem dieser Kanäle im Glasgow der 70er Jahre sitzen Kids und
schnappen Ratten. Es könnte auch sein, daß sie die Ratten sind, die
man schnappt. Bilder haben es an sich, daß sie mehrdeutig sind. Der Film
hat starke Bilder; es wird darüber weniger wichtig, wie der Plot geht.
Also lassen wir das. Nehmen wir lieber die Totale. Hinter dem Kanal stehen die
Sozialbauten mit ihren viel zu kleinen Wohnungen. James hält es da nicht
aus. Außerdem setzt sich am Ufer Margaret Anna neben ihn; sie nimmt seine
Hand und legt sie auf ihren bloßen Oberschenkel. Sie ist einen Kopf größer
und zwei Jahre älter. Die Szene ist erotisch unbestimmt, aber bestimmt
intensiv. Jedenfalls ist das wieder eins dieser Bilder zum bittersüßen
Herzklopfen.
Nun
ist es wahr, daß das, was wir sehen, emotional aufgeladen wird, weil wir
als Zuschauer gleich zu Beginn Zeugen eines schrecklichen Geheimnisses werden.
James, was hast du getan?? Das andere Geheimnis, warum Ratcatcher
im Kino so richtig schön mitnimmt, habe ich nicht ergründen können.
Vielleicht liegt es daran, daß man dort mit James und Margaret Anna allein
ist. Kein akzeptierender Jugendarbeiter, kein wohlmeinender Pädagoge, keine
Elterngeneration. Wir sind allein.
Wir
sind weit weg von Betroffenheits- oder sonstiger Leidkultur. Die Rattenschnapper
brauchen weder Bemitleidung noch Aufdieschultergeklopfe. Auf dem Arsenals Film
Forum in Riga waren wir in der Jury der internationalen Filmkritik tief beeindruckt,
gerührt, hingerissen, stumm, also eigentlich alles, was sich schlecht in
Worte fassen läßt. Immerhin ist die Bildsprache international. Drum
einigten wir uns, geheim über den Film abzustimmen, der den Wettbewerbspreis
bekommen sollte. Ergebnis: Wir waren einer Meinung gewesen. Jeder hatte für
Ratcatcher
votiert, egal ob aus Armenien, aus Italien oder aus Lettland. Wir waren glücklich.
Unbehaglich war uns nur, dieses große Gefühl in Worte zu fassen.
Die Begründung für den Wettbewerbspreis gebe ich lieber nur im Originalenglisch
der Jury wieder: "for a fresh and truthful debut showing how a young boy's
soul matures in a harsh world".
Ich
wag's jetzt doch, frei übersetzt: Mit Ratcatcher
zeigt sich auf frische und wahrhaftige Weise, wie Balsam auf junge Zuschauerseelen
träufelt, zerschrumpelt in wüster Mainstreamwelt.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen im:
Ratcatcher
GB
1999. R,B: Lynne Ramsay. K:
Alwin Küchler. S:
Lucia Zuchetti. M:
Rachel Portman. P:
Holy Cow Film Production.
D:
William Eadie, Tommy Flanagan, Mandy Matthews, Leanne Mullen u.a. 93 Min. Kairos
ab 11.1.01
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