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Rattennest
L'art pour L'art
- im besten Sinn
Es beginnt wie ein film noir.
Eine Frau mit angsterfülltem Gesicht rennt nachts auf einer Straße
und versucht, irgendein Auto anzuhalten, zunächst vergeblich. Sie ist barfuß
und hat einen hellen Regenmantel an. In ihrer Verzweiflung stoppt sie einen
Sportwagen, der ihr ausweichen muss und fast einen Unfall verursacht. In dem
Wagen sitzt Privatdetektiv Mike Hammer (Ralph Meeker), der über den erzwungenen
Halt wenig erfreut ist. Aber er nimmt die junge Frau, die sich Christina Bailey
(Cloris Leachman) nennt, mit. Er erfährt, dass Christina aus der Psychiatrie
geflohen ist. Nur wenig später werden beide von einigen Männern gestoppt
und mit Gewalt verschleppt. Und wiederum kurze Zeit später findet sich
Hammer im Krankenhaus wieder. Man hat die beiden in seinem Auto einen Abhang
hinunter gefahren. Während Hammer schwer verletzt überlebt, ist Christina
tot.
Die besten Voraussetzungen für
einen Kriminalfilm. Und so geht es auch weiter. Was folgt ist tatsächlich
ein film noir. Doch Robert Aldrich macht in der Darstellung seiner Figuren auch
von (fast) Anfang an klar, dass er über den film noir weit hinausgeht.
Manches Mal erscheinen die Darsteller eher wie Charaktermasken, die nur noch
repräsentieren, für etwas stehen, etwas zum Ausdruck bringen, aber
keine wirklichen und wirkenden Personen mehr zu sein scheinen. Die Rollen werden
zu Rollen per se, für sich, Rollen als Rollen.
Die Ausgangsszenen generieren
so etwas wie eine Initialzündung für eine alt bekannte Story: Ein
private eye, ein Mann, der von Natur aus neugierig scheint, will wissen, was
hinter der Sache steckt, obwohl gar nicht eher Zielscheibe der Unbekannten war,
sondern eine Frau, mit der Hammer nichts zu tun hatte und von der er schon gar
keinen Auftrag angenommen hatte. Trotzdem: Man hat ihn fast getötet. Allein
das reicht. Und er will wissen, warum Christina ermordet wurde.
Die Polizei vernimmt ihn, glaubt,
Hammer verheimliche ihr etwas, was Christina ihm erzählt haben könnte.
Er erfährt, dass selbst die Behörden in Washington sich für den
Fall interessieren. Das macht Hammer nur noch neugieriger. Und als Lt. Murphy
(Wesley Addy) ihm die Lizenz entzieht (weil er nicht will, dass Hammer auf eigene
Faust ermittelt) und warnt, er wolle ihn nicht mit der Waffe in der Hand erwischen,
ist Hammer erst recht nicht mehr zu halten.
Mit Unterstützung seiner
Sekretärin und Geliebten Velda (Maxine Cooper) erfährt er vom Verschwinden
eines wissenschaftlichen Mitarbeiters einer Zeitung namens Diker. Und weitere
Dinge geschehen, die Hammer nicht mehr ruhen lassen: Er selbst wird auf der
Straße von einem Mann mit einem Messer angegriffen. Sein bester Freund
Nick (Nick Dennis), der eine Autowerkstatt betreibt, wird ermordet, nachdem
schon zuvor ein anonymer Anrufer Hammer ein "Geschenk" angekündigt
hatte: einen neuen Sportwagen, in dem allerdings zwei Bomben versteckt sind.
Schließlich stößt
Hammer auf einen Gangster namens Evello (Paul Stewart), auf einen mysteriösen
Dr. Soberin (Albert Dekker) und eine Frau (Gaby Rodgers), die ihm offenbar helfen
will ...
Was als film noir beginnt, entwickelt
sich im Laufe der Handlung zu einer immer mysteriöseren Geschichte, in
der ein Koffer ins Zentrum des Interesses rückt, der berühmte MacGuffin,
bzw. dessen Inhalt, der sich am Schluss des Films uns zeigt und keinen Zweifel
mehr daran lässt, dass uns hier im wahrsten Sinn des Wortes ein Licht aufgehen
soll. Der film noir entpuppt sich schon fast als Karikatur seiner selbst. Das
Geheimnis, das der Koffer lüftet, entlüftet zugleich unser Gehirn,
demonstriert uns, wie beliebig Geschichten im Kino erzählt werden können
- im positiven Sinn des Wortes. "Kiss Me Deadly" ist Film um des Films
willen, Kino um des Kinos willen, l'art pour l'art - im besten Sinn des Wortes.
Es ist völlig gleichgültig,
was sich in dem Koffer befindet, hinter dem Behörden wie Verbrecher hinterher
sind, um den herum sich Intrigen spinnen, Verrat und Betrug begangen wird usw.
Alle und alles scheint verdächtig, vom kleinsten Betrüger bis zu den
Regierungsbeamten. Hauptsache, die Handlung geht voran, Hauptsache, die Figuren
sind in Bewegung, Hauptsache, es bleibt spannend. Und wie selten in einem anderen
Film kündigt sich in "Kiss Me Deadly" (mit dem wieder einmal
dämlichen deutschen Titel "Rattennest") der Übergang vom
film noir zu einer amerikanischen Variante der nouvelle vague an. Fast könnte
man auf die Idee kommen, ein Vorläufer Quentin Tarantinos zitiere in einem
Fort bekannte und weniger bekannte Figuren, Stile, die ganze mise en scene des
film noir bis dato, um zu zeigen, worauf er beruhe, wie er funktioniere - bis
der Koffer enthüllt, wie Kino überhaupt funktioniert.
Mike Hammer ist nicht Humphrey
Bogart oder Robert Mitchum. Aber Ralph Meeker zitiert in seiner Rolle diese
"Typen" des film noir. Und es gibt die geheimnisvolle Blonde, Gaby
Rodgers als Gabrielle, wie die liebende Schwarzhaarige, Maxine Cooper als Velda
- zwei Frauen als Gegensatzpaar. Es gibt das unscheinbare Opfer, die schöne
Unbekannte Christina. Last but not least gibt es die mysteriösen Kriminellen,
die kaum etwas preisgeben, es sei denn, man zwingt sie dazu - Soberin und Evello.
Und es gibt die Handlanger, den skurrilen Charlie Max (Jack Elam) und den brutalen
Sugar Smallhouse (Jack Lambert) - alles in allem Zitate, Charaktermasken, aber
eben doch funktionierende Einheiten in einem Kriminalfilm.
Trotzdem also - und gerade das
ist ja das spannende an
"Kiss Me Deadly" - funktioniert Aldrichs
Film eben auch als Krimi mit Suspense - nur mit dem Unterschied, das letztlich
alles "schief" geht. Keiner bekommt, was er will.
Die Schlussszene leuchtet uns
an, blendet geradezu, brennt uns den Sand aus den Augen, lässt uns wieder
sehen, wo wir sind und warum wir im Kino sind. Wie eine Bombe schlägt sie
ein und um sich. Und wie Hammer selbst verdutzt ins Pseudo-Inferno schaut, blicken
wir ebenso verdutzt auf einen Film, der uns zeigen will, ganz unverblümt
und ganz unprätentiös, warum wir Kino brauchen.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Rattennest
(Kiss Me
Deadly)
Regie:
Robert Aldrich
Drehbuch:
A. I. Bezzerides, nach dem Roman von Mickey Spillane
Kamera:
Ernest Laszlo
Schnitt:
Michael Luciano
Ausstattung:
William Glasgow, Howard Bristol
Darsteller:
Ralph Meeker (Mike Hammer), Albert Dekker (Dr. Soberin), Paul Stewart (Carl
Evello), Juano Hernandez (Eddie Yeager), Wesley Addy (Lt. Murphy), Marian Carr
(Friday), Maxine Cooper (Velda), Cloris Leachman (Christina Bailey), Gaby Rodgers
(Gabrielle), Nick Dennis (Nick), Jack Lambert (Sugar Smallhouse), Jack Elam
(Charlie Max)
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