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Red
Road
Exzess
der Sichtbarkeit
In ihrem Filmdebüt "Red Road"
erzählt Andrea Arnold von einer Frau, die als professionelle Kontrolleurin
die Kontrolle verliert und zu begehren beginnt.!
Jackie (Kate Dickie) hat alles im Blick.
Buchstäblich. Sie arbeitet in der CCTV-Zentrale von Glasgow, beobachtet
auf vielen Monitoren, was die Überwachungskameras in der Stadt ununterbrochen
aufnehmen. Mit einem Joystick - keine ganz unschuldige Metapher auch in diesem
Fall - kann sie die Kameras drehen und, sobald sie etwas entdeckt, das bedrohlich
aussieht, an Gesichter und einzelne Szenen heranzoomen und so die Distanz zum
Geschehen da draußen, das ihr die Kameras medial vermitteln, verringern.
Dann aber geschieht, was nicht geschehen
dürfte. Ein Mann (Tony Curran), den sie kennt, hat vor der Kamera, von
der er nichts ahnt, Sex mit einer Prostituierten. Dieses Bild, das sie sieht,
von dem Mann, den sie kennt, betrifft und affiziert sie ganz persönlich.
Und so wird Jackie von der Beobachterin zur Akteurin. Sie geht hinaus. Jackie
verlässt den Beobachtungsposten, der ihr Kontrolle, Distanz und Sicherheit
gewährt und sucht die Interaktion. "Red Road" heißt die
Straße, in der der Mann, dem sie folgt, in einem Hochhaus lebt. Sie sucht
wiederholt Kontakt. Erst aus der Distanz, dann aus der Nähe. Dann aus nächster
Nähe: Sie hat, der Film stellt es denkbar explizit dar, Sex mit dem Mann,
der ihr auf dem Bildschirm erschien. Versteckt bleibt zunächst die heimliche
Absicht dahinter.
Die eigentümliche Glätte der
Montage, die den Film prägt, irritiert. Dabei ist alles sehr schnell geschnitten,
aber die Figuren erschließen, so wie die Kamera und der Schnitt sie präsentieren,
nicht den Raum. Es gibt keine Jump Cuts, also absichtlich verstörende Schnitte
in die Bewegung der Figuren hinein. Bild wird stattdessen an Bild gefügt,
so schnell, dass diese Fügung beinahe nahtlos erscheint. Unzählige
Ellipsen, die aber unmarkiert bleiben. Es entsteht der Eindruck des Gleitenden,
so zart sind die vielen Schnitte, dass auch die Differenz zwischen objektiven
und subjektiven Beobachtungsbildern beinahe verwischt.
Was es aber ist, das Jackie, ihren Blick,
ihren Körper in einer seltsamen Form von Begehren an diesen Mann fesselt,
bleibt im Rücken sozusagen des Exzesses der Sichtbarkeit für den Betrachter
vorderhand unklar. Wir werden lange nicht aufgeklärt, wir werden genötigt,
unseren Blick und unsere Neugier an Jackie zu heften und zu sehen, wie sie dem
Mann, den sie beim Sex in der öffentlichen Kamera zugewandter Privatheit
beobachtet hat, in sein Privatleben folgt. So strukturell interessant das eigentlich
ist - mit ihrer Heimlichtuerei verdirbt die Drehbuchautorin Arnold den Film.
Denn die faszinierende Logik des Begehrens, das auf objektive Blicke obsessive
Schritte folgen lässt, wird in erster Linie dramaturgisch missbraucht:
zum Spannungsaufbau. Die Spannung aber in dieser recht schnöden Form -
was ist die Vorgeschichte der Beziehung zwischen Jackie und dem von ihr beobachteten
Mann? - kommt dem Interesse, das den Blicken und Wünschen zu gelten hätte,
nicht entgegen, sondern in die Quere. Man möchte gar nicht wissen wollen.
Die Ausgangsszenarien von "Red Road"
bestechen in ihrer Dialektik: Die Kontrolle und der Kontrollverlust, der objektive
und der traumatisierte Blick, die Distanz und die Nähe. Wie aber das Drehbuch
die Verhältnisse zueinander in Beziehung setzt und auf eine letztlich banale
Auflösung zulaufen lässt, diskreditiert eine Konstellation, die am
Anfang so außerordentlich viel verspricht. Allerdings ist die Chance noch
nicht ein für allemal vertan. Interessanterweise ist der Film nämlich
Teil eines experimentellen Projekts, hinter dem der dänische Exzentriker
Lars von Trier mit seiner Zentropa-Firma steckt. Drei Filme sind geplant mit
einem festen Set von im vorhinein - und zwar
von Anders Thomas Jensen und Lone Scherfig - entworfenen Charakteren. Was sie
verbindet, wie sie sich entwickeln, bleibt den AutorInnen und RegisseurInnen
der drei Filme überlassen. Andrea Arnolds "Red Road" ist der
erste dieser Filme. Die anderen beiden stecken noch in der Produktion: Man darf,
um eine Enttäuschung auf hohem Niveau reicher, hoffen, dass sie mehr aus
ihren Figuren machen.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
am 16.07.2008. in: www.perlentaucher.de
Red
Road
Großbritannien
/ Dänemark 2006 - Regie: Andrea Arnold - Darsteller: Kate Dickie, Tony
Curran, Martin Compston, Natalie Press, Paul Higgins, Andy Armour, Carolyn Calder,
John Comerford, Jessica Angus - FSK: ab 16 - Fassung: O.m.d.U. - Länge:
113 min. - Start: 17.7.2008
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