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Das
Reich und die Herrlichkeit
Diese
Kamera! Allein für die wunderbare Kameraarbeit von Alwin H. Kuchler lohnt
es sich sicherlich, Michael Winterbottoms neuen Film The
Claim
(Das
Reich und die Herrlichkeit)
anzusehen. Die Kamera scheint in diesem Werk fast so etwas wie die Seele der
Protagonisten zu sein. In geschlossenen Räumen ist sie ihnen nah, so nah
mitunter, daß die Figuren und Gegenstände zu impressionistisch anmutender
Unschärfe verschwimmen. Die Gesichter füllen in Großaufnahmen
die Leinwand, die kleinsten mimischen Änderungen werden wahrgenommen. Ein
wenig erinnert das an Egoyans Das
süße Jenseits
(The
Sweet Hereafter),
in dem dieser die Großaufnahme für sich entdeckt, und, wie er einmal
gesagt hat, erkannt hat, daß in ebendieser Einstellungsgröße
die Essenz des Kinos liegt.
Die
Gesichter der Personen bergen ein Geheimnis, das ihnen die nahe Kamera nicht
entreißt, dem sie aber so nahe kommt, daß eine im Kino seltene Intimität
zwischen Schauspieler und Zuschauer entsteht. Wenn die Figuren nun die Innenräume
verlassen und verloren zu gehen drohen in der weiten, schneebedeckten Landschaft
sowie in ihren eigenen Emotionen, ihrer unglücklichen Verliebtheit, den
Wirrungen des Plots, dann läßt auch dies die Kamera den Kinozuschauer
merken. Die Leinwand ist weiß, ganz und gar weiß. In dieser der
Leinwand ureigenen Farbe und zugleich der Farbe des Schnees drohen die Protagonisten
zu verschwinden, einsame dunkle Punkte auf der fast schmerzhaft hellen großen
Fläche. Dann wieder teilt der Schnee die Leinwand diagonal, die eine Hälfte
in blendendem Weiß, die andere im gleißenden Blau des Himmels.
Und
welche Farben der Schnee bei Winterbottom annehmen kann! Nicht einfaches Weiß
nur, im Widerschein des alles vernichtenden Feuers wird der Schnee orangerot,
fast leuchtend. Die zweite große Stärke von The
Claim
neben der Kamera , das sind die kleinen, surrealen Momente. Wenn da nach der
Explosion einer mit Nitroglyzerin beladenen Kutsche ein brennendes Pferd durch
den Schnee läuft beispielsweise, dann ist das von einer ganz ähnlichen
Ästhetik wie das große Vorbild bei Dali oder die brennenden Kühe
in Tim Burtons Mars Attacks, nur eben ohne deren Slapstick-Wirkung. Ähnlich
surreale Kraft entfaltet das Bild, wenn aus einem Innenraum durch ein Fenster
hinaus gefilmt wird, und dann ganz plötzlich der ganze Raum sich zu bewegen
beginnt, weil das Haus von zahllosen Pferden durch die verschneite Berglandschaft
gezogen wird, in einem Kraftakt wie er einst schon das Schiff über den
Berg bewegte in Herzogs Fitzcarraldo.
Auch
die Geschichte von The
Claim
ist wundervoll erzählt, langsam, ohne dabei durch bloßes Schweifen
in den Bildern langweilig zu werden, wird die Geschichte erzählt vom Bürgermeister
Dillon (Peter Mullan), der seine Stadt verliert, weil die Eisenbahn nicht durch
sie, sondern durch die Talebene gelegt wird, die Geschichte von der Tochter
des Bürgermeisters, Hope (Sarah Polley), die nicht weiß, daß
er ihr wahrer Vater ist, und die sich in einen der Landvermesser verliebt, die
Geschichte von der tuberkulosekranken Mutter Sarahs, gespielt von Nastassja
Kinski, und die kleineren Geschichten zahlreicher anderer Figuren. Daß
das Epos dabei als Western verkauft wird, hat sicherlich teilweise seine Berechtigung.
Von den eigentlichen Genreelementen, die den Western einst ausmachten ist allerdings
in The
Claim
kaum mehr etwas geblieben. Zu viele kleine, fast labyrinthische, Innenräume
gibt es, die eher an das klassische Melodram erinnern, zu wenige eindimensionale
good und bad guys. Natürlich, die ausschweifenden Außenaufnahmen
sind als bestimmendes Charakteristikum geblieben und vermitteln auch tatsächlich
eben das Gefühl von Weite und Freiheit, das den Western berühmt werden
ließ, wenn auch hier nicht die glühende Hitze der Steppe, sondern
vielmehr die eisige Hochebene zu sehen ist.
Winterbottom
aber macht es sich nicht zu einfach und erschöpft sich in diesen Genreelementen;
er setzt vielmehr immer wieder Kontrapunkte, eben die eingangs erwähnten
Innenaufnahmen oder kleinen Verschiebungen und Irritationen der Narration, wie
das gezogene Haus es ist. The
Claim
ist ein sehr guter Film, ein unterhaltsames Epos, und noch dazu eine Augenweide.
Benjamin
Happel
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt's im archiv mehrere Texte
Das
Reich und die Herrlichkeit
Großbritannien
/ Kanada 2000 - Originaltitel: The Claim - Regie: Michael Winterbottom - Darsteller:
Peter Mullan, Wes Bentley, Milla Jovovich, Nastassja Kinski, Sarah Polley, Julian
Richings, Sean McGinley, Marie Brassard - Länge: 120 min. - Start: 8.11.2001
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