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Rhythm
Is It!
Soziales Wohlfühlkino
Die Stadt ist groß,
mal glänzend, oft dreckig, bisweilen leicht anarchisch und immer pleite.
Natürlich ist es Berlin, Moloch mit Tradition. Hier, wo manche Schulen
mehr angehende Lebensversager („Berliner Härte“) als PISA-Primi entlassen,
fand ein Projekt statt, wie es in Deutschland wohl einzigartig ist: Schüler
diverser „Problemviertel“ durften in Zusammenarbeit mit dem Berliner Symphonieorchester
unter Leitung Sir Simon Rattles Strawinskys Le
Sacre du Printemps
aufführen. Diese ungewöhnliche Form der Sozialarbeit ist in der Dokumentation
Rhythm
Is It!
festgehalten worden – nicht immer zum Vorteil des ehrbaren Projekts.
Drei Monate, von
den ersten Proben bis zum großen Abend der Aufführung, hat das Team
um Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch 250 Schüler (25 Nationen)
aus 5 fünf Berliner Grund- und Hauptschulen begleitet. Zu sehen sind kleine
Berliner Originale, unbewegliche Coach-Kartoffeln, störrische Vertreter
einer abgeschriebenen Schicht. Plump und undiszipliniert fordern sie ihren Tanzlehrern
zunächst vor allem Nerven ab. Eine Stunde konzentrierter, geschweige fruchtbarer
Übung scheint in den ersten Wochen utopisches Ziel. Doch unbeirrbar halten
die idealistischen Choreographen an ihrem Ziel fest, entflammen schließlich
die Begeisterung einiger ihrer Eleven.
Die Euphorie ist
auch auf das Filmteam übergesprungen. Mit bedingungsloser Hingabe erzählt
es Erfolgsgeschichten am laufenden Band, vollbrachte und werdende. Die vollbrachten:
Sir Simon Rattle, der Schirmherr, ein großer Geist, der sein frühes
Anderssein strahlend als Weg zum Erfolg deutet. Royston Maldoom, ein ehemaliges
Problemkind, das im Ausdruckstanz seinen Weg aus Isolation und Misstrauen gefunden
hat. Die werdenden: Marie, Berliner Schnauze, gewitzt, aber von koketter Faulheit
befallen. Olayinka, ein Kriegswaise aus Nigeria, der durch das Projekt Freunde
und Kraft gewinnt. Schließlich Martin, ein Entfremdeter, der seinen Weg
zum Leben wiederfindet. Solche Viten sieht man gerne. Sie leisten Rattles These
von der sozialen Funktion der Musik Vorschub – „rhythm is it!“, die uralte Neigung
des Menschen zur Musik, die alle Schranken überwindet.
Dabei gehen den
Beteiligten jedoch leicht die Pferde durch. Jedes Kind sei groß, jeder
könne es schaffen, so das Credo des Projekts. Wie gerufen kommt da die
blockierende Skepsis und falsche Einschätzung der Schullehrer, die die
Kinder nicht teilen. Dieser penetrante Geniekult ist unangebracht; nicht zufällig
werden allein die wenigen Herausragenden gezeigt, auch noch der Spaß der
Vielen, die statt zum Unterricht zu den Proben gehen dürfen. Was und wie
viel das Projekt in der Breite und auf Dauer gebracht hat, bleibt fraglich;
nach der Uraufführung endet die Dokumentation im Freudentaumel. Dass ein
Großteil der Schülerschaft mit geringer Qualifikation, aber überhöhter
Erwartungshaltung seinen Platz in einer täglich komplexer werdenden Berufswelt
finden muss, wird in einem Projekt, in dem jeder alles schaffen kann, souverän
übergangen. Von realistischer Zukunftserwartung keine Spur.
Zweifel erlaubt
der auf Bestätigung ausgerichtete Duktus der Dokumentation nicht. Leichtfertig
wird stattdessen der gebotene Respekt vor der Leistung der Beteiligten mit der
beschränkten Effektivität und Bedeutung des Projekts vermengt; es
fehlt das Nüchterne und Mahnende in der so wirksamen und stringenten Dokumentation.
Der Zuschauer verlässt folglich beruhigten Gewissens den Kinosaal: Ja,
es gibt sie noch, die gesellschaftlichen Kräfte des Landes, die eine Antwort
auf brennende soziale Fragen kennen – Rhythm Is It!
Thomas Hajduk
Rhythm
is it!
Deutschland
2003 - Regie: Thomas Grube, Enrique Sánchez Lansch - Darsteller: Simon
Rattle, Royston Maldoom, Susannah Broughton, Volker Eisenach, Olayinka Shitu,
Martin Eisentraut, Marie Theinert - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge:
104 min. - Start: 16.9.2004
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