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Ein
Geheimnis, das ein Film ist, und eine Kraft, die eine Frau ist
Am
Abend des 8. Jänner 2004, als bekannt wurde, dass Ingrid Thulin in einem
Spital in Schweden 74-jährig gestorben war, sah ich sie im Filmmuseum in
Wien gerade zum ersten Mal. Sie spielte die einzige weibliche Rolle in Ingmar
Bergmans Kammerspiel "Der Ritus" - die Schlüsselrolle des Films.
Erst in Relation zu ihr werden die drei anderen Protagonisten leserlich, ihr
Charakter reicht tief ins Geheimnis hinab, das im Herzen dieses Films liegt
und auf das er unaufhaltsam zusteuert.
Das
war mein erster Bergman-Film. Und als ich den Saal verlassen habe, hat nur noch
ein undifferenzierter Anglizismus in meinem Kopf herumgespukt: Mind-blowing
war das, was ich gerade gesehen hatte, wenn ich mir auch nicht ganz sicher war,
was
genau ich
da gesehen hatte: Ein Geheimnis, in das man Einsicht erlangt zu haben glaubt,
ohne es erklären zu können. Eine Sehnsucht und eine Angst davor, die
man beide gespürt hat, ohne benennen zu können, wonach und wovor.
Mal sehen.
Meine
große Chance ist ja, dass ich außer "Wilde Erdbeeren",
den ich noch am selben Abend gesehen habe, keinen anderen Bergman-Film kenne.
Das hier soll also keine Spurensuche in einem komplexen wie komplexbehafteten
Werk werden, in dem man in den Sechzigern und Siebzigern vor lauter Interpretationen
kunstbeflissener Exegeten die Filme nicht mehr sehen konnte: Weder Gott noch
Freud sollen als Zeugen aufgerufen werden und wenn ich mit dem Zerklauben von
Allegorien anfange, dann möge man mir die rote Karte zeigen, und ich soll
fürderhin mein Leben in Sack und Asche als elender Dylanologe fristen.
Durchaus
im Sinne der Bergman-Retrospektive, die zur Zeit (Jänner/Februar 2004)
im Filmmuseum Wien stattfindet und auf eine Neu-Entdeckung dieses Werks abzielt,
das keineswegs gemeinsam mit seinen Interpretationen gealtert ist, soll hier
der Versuch unternommen werden, sich einem einzelnem Film Bergmans "von
außen" zu nähern. Eine Ermittlung, die ihr Spiegelbild im zu
besprechenden Film hat: Ein Richter (Erik Hell) ermittelt hier in einem namenlosen
Land gegen eine vagabundierende Künstlergruppe - Sebastian (Anders Ek),
Thea (Ingrid Thulin) und ihren Mann Hans (Gunnar Björnstrand) - wegen des
Vorwurfs der Obszönität einer ihrer Revue-Nummern, des titelgebenden
Ritus. Am Ende wird der Richter tot sein.
Wenig
Material, keine Rätsel und schon gar keine Lösung
Der
ganze Film gibt sich als Ritus, eine streng gegliederte Passion: Außer
den vier Protagonisten tauchen nur noch am Rande ein (von Ingmar Bergman gespielter)
Priester und ganz kurz ein Barkeeper auf. Der Film ist in neun Szenen gegliedert,
von denen die 1., 3., 5., 7. und 9. jeweils ein Verhör mit den Künstlern
(zuerst und am Ende gemeinsam, dazwischen einzeln) im Büro des Richters
wiedergeben. In den Szenen dazwischen verfolgt man eine Unterhaltung je zweier
der drei Künstler, und einmal sucht der Richter Trost in einem Beichtstuhl.
Die
Schauplätze sind betont entleert: Die Wände im Hintergrund leuchten
oft in diesem milchigen Grau, das nur im Kino, nicht im Fernsehen zu strahlen
beginnt, und das die geschlossenen Räume, in denen der Film ausnahmslos
stattfindet, als Nicht-Orte, als leere Leinwand erkenntlich macht. (Es soll
hier der Offenheit halber nicht verschwiegen werden, dass "Der Ritus"
trotzdem eigentlich fürs Fernsehen produziert wurde.) Selbst in einer Bar
unterhalten sich die beiden Männer Sebastian und Hans mutterseelenallein
in aller Stille vor nackter Wand, nur schüchtern traut sich ein Barkeeper
am Ende in den Kader, als einer der beiden immerhin den Realitätssinn aufweist,
zu zahlen, bevor er die Bar verlässt.
Diese
Akte der Reduktion und Konzentration verführen natürlich - nicht zuletzt
aufgrund von Bergmans steter Arbeit am Theater - zu Assoziationen mit dem "théâtre
de l’absurde" eines Samuel Beckett oder Eugène Ionesco. Durch den
Mangel an "Material" und aufgrund dessen penibler Verwaltung gewinnt
da wie dort die Handlung - die selbst tatsächlich oft nur auf eine einzige
(bei "Warten auf Godot" z.B. eine Übersprungs-)"Handlung"
der Protagonisten, auf eine einzige Bewegung, im Kreis oder auf eine Eskalation
hin, reduziert ist - an Gewicht. Eine irritierende "Bedeutungsschwere"
stellt sich ein, welche die Versuchung weckt, sie mittels einer Interpretation
abzutragen, die Fragen zu beantworten versucht, die der Text gar nicht stellt.
"Keine Rätsel, keine Lösung", hat Beckett einmal lakonisch
die zahlreichen biblischen bis historischen Exegesen seines Stücks "Endspiel"
abgetan. Alles, was man wissen muss, ist schon da.
Unbeirrbar
vormodern
Wie
es übermittelt wird, darin unterscheidet sich "Der Ritus" aber
empfindlich von den Praktiken des "théâtre de l’absurde",
denn die Differenzen in grundsätzlichen Positionen sind groß: Das
Theater des Absurden kann an das Individuum, an den differenzierten Charakter
- als Tugend eines überkommenen klassischen Theaters - ebenso wenig glauben
wie an die Sprache als funktionsfähiges primäres Kommunikationsmittel
und weicht deshalb in ein Gefüge von Typen aus, das sich in einer Choreographie/Mechanik
von Phrasen und Bewegungsabläufen ausdrückt, die bisweilen sogar ins
Clowneske gehen können.
Einen
solchen Unglauben kann oder will Bergman nicht teilen: Wo das Theater des Absurden
seine Bewegungssysteme auf der Bühne ausbreitet (selbst wenn sich, wie
in "Spiel" von Beckett keiner mehr vom Fleck bewegt), da geht Bergman
- dabei auch der visuellen Logik des Films im Kontrast zu der des Theaters folgend
- unbeirrbar in eine Tiefe der Figuren, an deren Individualität (und an
deren Psychologie) er festhält. Großaufnahmen dominieren den Film,
es wird nach Details geforscht, wie schon die erste Einstellung nahe legt. Den
Richter sieht man da, wie er in einer Großaufnahme frontal in die Kamera
blickt, und dann mit einer vors Auge gehaltenen Lupe einerseits seine Ermittlungen
weiterführt und andererseits aus unserer Perspektive sein Gesicht noch
einmal vergrößert.
Auch
dass sich mit der Sprache nichts Neues, nichts Persönliches (mehr) ausdrücken
ließe, kann Bergman nicht hinnehmen. Hier stellt er sich frontal gegen
die Moderne, veranstaltet gewissermaßen seinen eigenen linguistic
turn,
den François Truffaut (der übrigens "Der Ritus" zu den
"rührendsten" Werken Bergmans zählte) mit "Befreiung
des Dialogs" umschrieben hat: Die Sprache wird als sinnliches Element immer
stärker, löst sich von der Funktionalität ab, ohne aber ihre
Möglichkeit zum individuellen Ausdruck aufzugeben. Selten war so viel Dialog
so spannend anzuhören und mitzulesen wie hier. Wie Truffaut festgestellt
hat, stellt sich diese neue Macht der Sprache nicht zuletzt dank der ungewohnten
Sprachmelodie des Schwedischen ein, eines hier sehr rhythmischen Genudels mit
vielen wunderbar langen Umlauten.
Überhaupt
ist das Asketische, Entleerte nur die eine Seite dieses Films: Wo Gegenstände
auftauchen, da spielen sie gleich mit und werden inszeniert, wie bei Max Ophüls,
und geben sich nicht selten anachronistisch verziert (z.B. ein altmodisches
Telefon im Büro des Richters oder ein geschwungener Handspiegel), als wollten
sie sich ebenfalls dagegen versperren, reine Funktion, Anlass für Bewegung
wie im Theater des Absurden zu werden. Auch die dominant anonyme Architektur
hat in einigen wenigen bildreichen Flächen (religiöse Abbildungen
auf einem Beichtstuhl; ein ornamental geschwungenes Fenster im Büro des
Richters; ein Flammenring, den einer der Künstler in seinem Bett entzündet)
ihr logisches Anderes, an dem ein weniger radikaler Geist sichtbar wird. Die
Üppigkeiten in Sprache und Dekor kann man als Zeichen eines bürgerlichen
Kunstverständnisses, als Skrupel vor der Moderne lesen.
„I
stepped into an avalanche, it covered up my soul.“
(Leonard
Cohen, “Avalanche”)
Aber
sie sind nicht bloßer Makel: Das irreduzibel Paradoxe ist für diesen
Film essentiell. Die reichen Formen, die sich immer wieder ins Bild schieben,
verweisen auf ein Leben hinter dem Geordneten, eine gewaltige, ursprüngliche
Naturkraft, um die herum sich hier alles organisiert und die sich steigert,
bis sie am Ende im Ritus ausbricht – wieder verfestigt in Formen, diesmal denen
des menschlichen Körpers. Diese finale Ausformung einer mächtigen,
bedrohlichen Kraft - ähnlich jenen bei Franz Kafka (z.B. in "Der Prozeß"
und "Das Urteil") - kostet auch hier das bürgerliche Individuum,
den Richter das Leben.
Müsste
man ein Pop-Album finden, das eine diesem Film vergleichliche Atmosphäre
einfängt, mir würden Leonard Cohens "Songs Of Love And Hate"
(1971, zwei Jahre nach diesem Film entstanden) einfallen: Da wie dort birgt
eine Leere und Klarheit der Struktur, eine schleichende, düstere wie manchmal
zerbrechlich harmonische Ruhe brodelnde Gewalt. Hinter den harmlosen Vorgängen
schimmert ein Ringen auf Leben und Tod ständig fühlbar durch. Wie
die hypnotischen Endlosschleifen der akustischen Gitarre bei Cohen sich allmählich
zu einer Schlinge zusammenziehen - oft nur begleitet von plötzlich aufwallenden
Streichern und geisterhaft süßlichem Backing Vocals-Singsang -, so
steigern sich all die Großaufnahmen, zuerst noch Blicke einer Investigation,
zu klaustrophobischen Bildern eines alternativenlosen Konflikts.
Gefällt
sich der Richter zuerst noch sichtbar in seinen kleinen selbstgefälligen
Gesten eines freundlich-sachlichen, gewissenhaften Ermittlers, die die Kamera
genau registriert, so bekommt er in seiner aufsteigenden Angst und Gewissheit
seines baldigen Todes - er hat in das umkreiste Mysterium letztendlich genauso
viel intuitiven Einblick wie die drei Künstler, auf deren Seite die Naturgewalt
nur scheinbar eindeutig steht - Schweißausbrüche, als würden
die Bilder zu dicht an ihm kleben.
Und
wie man bei "Songs Of Love And Hate" (aber das ist ja überhaupt
etwas, das man von Songs lernen kann) nicht alles verstehen, oft nur die sanft-brutale
Stimme von Leonard Cohen hören muss, um zu verstehen, was hier in und hinter
den Liedern passiert, so erschließt sich auch "Der Ritus", ohne
dass man hier alles am Dialog versteht.
Denn
so klar (aber durchaus kunstvoll) die Sprache in den Verhören ist, die
der Richter analytisch führt, so eigenwillig, persönlich ist der Duktus,
wenn sich die drei Künstler untereinander unterhalten. Natürlich,
manches, was sich die Charaktere hier zuwerfen, hört sich reichlich prätentiös,
manches mehr als eigenwillig an. Ganz rund, geschlossen werden die Charaktere
nicht mehr, der Dialog löst sich nicht ohne Rest auf. Aber auch Bergmans
erzählerische "Stimme" hat genug Autorität, um zu übermitteln,
was hier passiert. Die Charaktere mögen herausfordernd sein, aber sie stimmen
doch.
Charakterfest
Und
an der Glaubwürdigkeit und Komplexität der Charaktere hängt hier
einiges. Denn wo große Kräfte walten, da drohen Erzählungen
ins Schematische abzugleiten, und es sind hier vor allem die Charaktere, die
sich gegen eine zu simpel allegorische Lesart des Films verwehren. Klar kann
man "Der Ritus" auch verkürzen auf die Formel "Lustprinzip
gegen Realitätsprinzip". Denn natürlich steht diese Kraft in
Verbindung mit der freigeistigen Künstlerexistenz der drei Untersuchten,
und - sowieso - rächt sie sich gewissermaßen am kleinkarierten Zucht-und-Ordnungs-Bürgertum
in Form des Richters. Und der hat dieser - natürlich, natürlich -
vorher den Krieg erklärt, wenn er die drei Künstler mit überheblich
verzeihender Freundlichkeit über ihre Sünden befragt und seine Notizen
gemacht, ihr Leben nach seinen Maßstäben gewogen und für zu
gering befunden hat.
Aber
damit verschweigt man das eigentlich Reizvolle an diesem Werk: die durchaus
nuancierte Schilderung dieser Kraft, die sich vor allem indirekt durch die Charakterisierung
der Figuren rund um sie ergibt. Der Jahrgang des Films ist 1969, und was man
als vagabundierende Künstler sieht, sind keine jungen Hippies, sondern
drei zerstrittene, lustlose Kreative, die ihre besten Jahre schon hinter sich
haben und ihren Neurosen hilflos ausgeliefert sind. Der aufbrausende, pyromanische
Sebastian ist auf seine Weise nicht weniger selbstgefällig als der Richter
und Hans ist so abgeklärt und müde, dass er nicht einmal bereit ist,
den gehörnten Gatten zu geben, wenn seine Frau Thea ihn mit Sebastian betrügt.
Das
größte Opfer, und zugleich die klarste Ausformung dieser Kraft ist
Ingrid Thulins Thea. "Ingrid Thulin repräsentiert das Gefährlichste,
das Irrationalste, das am meisten Instinktbetonte […] - das, was am leichtesten
verletzlich ist, aber auch am notwendigsten", formulierte Bergman die Quintessenz
der Rolle und damit auch seine Konstruktion jener Naturgewalt. Thea ist sexuell
selbstbestimmt, in manchen Momenten lebendig wie die französischen Heldinnen,
aber immer mental zerbrechlich bis an den Rande der Lebensunfähigkeit,
„über-empfindlich“, wie ihr Mann Hans es einmal ausdrückt. Aber nicht
so wie verzogene Mädchen, sondern wie eine offene Wunde. Eine paradoxe,
also eine faszinierende Frau. Und eine Hölle von einer Rolle.
Mit
der Einstellung von Ingrid Thulin, wie sie bei ihrer Einzelbefragung von Schmerzen
gekrümmt, unter der bohrenden Sachlichkeit des Richters zusammenbricht,
wie er sie zu beruhigen versucht und, was der Kader zeigt, doch nur wie eine
Vergewaltigung wirkt, mit dieser Einstellung soll dieser Exkurs auch enden.
Solche Schauspieler fehlen immer.
Zu diesem Film gibts im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Der
Ritus (RITEN)
Schweden
1968
Buch
und Regie: Ingmar Bergman
Kamera:
Sven Nykvist
Darsteller:
Ingrid Thulin, Gunnar Björnstrand, Anders Ek, Erik Hell
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