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Der
Ritus
Spiel ist alles,
Sein ist nichts
1969 erscheint mit "Der Ritus" Ingmar Bergmans
erste Fernseharbeit. In vielerlei Dingen unterscheidet sich der Film von den
vorherigen und nachfolgenden Werken: Zunächst erfordert die Produktion
für das Fernsehen eine gänzlich andere Vorgehensweise und vereinfacht
etliche Aspekte, verlangt jedoch ausdrucksstarke Schauspieler (an denen es in
Bergmans Ensemble nie gefehlt hat), weil die Groß- und Nahaufnahme die
bevorzugte Einstellungsgröße des Mediums ist. In "Der Ritus"
kondensiert Bergman seine Settings auf das Notwendigste, stellt die vier Protagonisten
ins Zentrum seines in neun "Szenen" aufgeteilten Kammerspiels. Und
trotz der ästhetischen Verschiedenartigkeit des Films zum übrigen
Œuvre Bergmans, ist "Der Ritus" doch auch ein Sublimat, ein Amalgam
seiner psychologischen und philosophischen Studien und ein luzider Vorgriff
auf seine eigene Existenz als Künstler in Schweden.
Die drei Künstler der Gruppe "Les Riens"
("Die Nichtse") sind angeklagt, mit ihrer Darbietung "Der Ritus"
ein "Sittlichkeitsvergehen" begangen zu haben. Was Gegenstand des
Spiels ist und worin genau die Vorwürfe liegen, bleibt zunächst im
Dunkel. Nach und nach wird die Gruppe und dann deren Mitglieder Hans Winkelmann,
Sebastian Fisher und Thea von Ritt einzeln dem Untersuchungsrichter Dr. Abrahamson
vorgeführt. Dieser behandelt die Schauspieler zunächst freundlich
und zuvorkommend, paßt sich in den Einzelgesprächen jedoch zusehends
deren Charakterstärken und -schwächen an, läßt sich in
die Defensive drängen, nutzt Ängste und Unsicherheiten aus. Es ist
für ihn klar, daß die drei nur als Trio souverän aufzutreten
in der Lage sind, als Einzelpersonen jedoch schwach und angreifbar werden. Doch
auch der Richter selbst muß im Laufe der Befragungen erkennen, daß
er seinen Beruf und seine Persönlichkeit nicht zu trennen in der Lage ist.
Mehr und mehr offenbart auch er seine Ängste und Schwächen, bis er
schließlich am Ende, als die Darsteller kostümiert in seinem Büro
ihr inkriminiertes Stück aufführen, alle Kraft und allen Lebenswillen
verliert und an Herzversagen stirbt.
Eckhard Weise sieht in "Der
Ritus" vor allem eine Stellungnahme Bergmans zur Rolle des Künstlers
in der Gesellschaft. Weise erkennt ebenfalls die Notwendigkeit des Zusammenhalts
der Gruppe, die nur auf diese Weise einen adäquaten Widerpart zum Untersuchungsrichter
(der bei Weise als Künstler-Antipode, als "Bürger" gesehen
wird) bilden können. Doch eine solche Lesart instrumentalisiert die psychologischen
Facetten der einzelnen Figuren und die philosophische Parabelhaftigkeit des
Gesamten zu stark für eine kulturkritische Lektüre. Gerade als Nachfolgefilm
der existenzialistischen Beiträge "Die Stunde des Wolfs" und
"Schande" und vor "Passion" sollte die Beschäftigung
Bergmans mit der spezifischen schwedischen Spielart eines von Literaten wie
August Strindberg und Stig Dagerman geprägten Existenzialismus nicht unbeachtet
bleiben. In den Agonien, Aggressionen und Aversionen der einzelnen Figuren lassen
sich typische Merkmale jenes Lebensekels, den Sartre als die Conditio humana
des modernen Menschen ausgemacht hat, wieder finden.
So ist es bei Thea die Angst vor allem und jedem,
vor allem aber vor dem Untersuchungsrichter, seiner Funktion als Aufklärer
und als Mann, die ihr Dasein bestimmt. Sie erschrickt vor sich selbst, windet
sich in Qualen, reagiert schockartig auf Berührungen und verleugnet sich
selbst, schreibt sich eine falsche Biographie, die sie wie einen Schutzpanzer
vor sich herträgt. "Spiel ist alles", sagt sie, und selbst in
ihren Bekenntnissen - sie schreibt einen Bericht für Dr. Abrahamson, der
ihr die Aussage ersparen soll - spielt sie nur mit der Wahrheit, kokettiert
mit ihrer kranken Seele und provoziert den Richter schließlich, genau
das Gegenteil von dem zu tun, was sie erhofft: Er wird herrisch, sachlich, bürokratisch
und schließlich gewalttätig gegen sie. Ganz anders Sebastian Fisher.
Er gibt sich schon gleich als aggressiv und unnahbar. Auch er lügt den
Richter an, indem er ihm Details aus seiner Biographie verschweigt. Seine Lügen
dienen jedoch nicht dem Selbstschutz, sondern vielmehr der Provokation. Schon
in der ersten Vis-à-vis-Vernehmung beleidigt und verhöhnt er den
Juristen, schlägt ihn sogar. Er gibt sich als Agnostiker zu erkennen und
gesteht einen Mord mit einer Beiläufigkeit, wie sie an Camus' Meursault
aus "Der Fremde" erinnert. Andreas ist in seiner Wut genau jener Sisyphos,
der nicht "weil", sondern "trotzdem" weitermacht.
Dem Richter am ähnlichsten scheint Hans Winkelmann.
Seine Höflichkeit wirkt zunächst distinguiert, doch bald schon servil,
als Abrahamson herausfindet, daß sie lediglich dem Schutz Theas und Sebastians
dient, deren Affäre Winkelmann zur Kenntnis nimmt, sogar unterstützt,
die ihm jedoch seine fundamentale Hilflosigkeit dem Leben gegenüber vor
Augen führt. Abrahamson, der die Lebensschwäche Winkelmanns von sich
selbst kennt, nutzt diese geschickt aus, um den "Kopf" der Künstlertruppe
in eine moralische und emotionale Zwickmühle zu treiben: Er läßt
einen Bestechungsversuch geschehen, den er nur aus dem Grund nicht ahndet, damit
er Thea, die durch die Bestechung von der Aussage verschont bleiben sollte,
vorladen und die Schuld dafür auf Winkelmann selbst abwälzen kann.
Es scheint also, als wäre der Richter seinen
Angeklagten in jeder Hinsicht überlegen. Daß dem nicht so ist, ja,
daß eigentlich nicht einmal dieser Anschein erweckt werden sollte, offenbart
sich nicht erst am Ende, sondern schon während der Verhandlungen. Vielmehr
bilden die drei Schauspieler-Persönlichkeiten Facetten der Persönlichkeit
des Richters ab, verzerren sie ins Übergroße, konfrontieren ihn mit
sich selbst. Angst, Selbstverleugnung und Aggression bilden seinen seelischen
Kern. So treibt ihn die Aggression Sebastians direkt in die Kirche in einen
Beichtstuhl, nicht etwa um Sünden zu gestehen, sondern, um sich einer Person
anzuvertrauen, sich die Angst - wie er später zugibt, sein erstes und fundamentales
Lebensgefühl - von der Seele zu reden. Der Priester (von Ingmar Bergman
selbst gespielt) schweigt. Er hat nichts zu sagen, keine Hilfe und keinen Trost
zu spenden. Die Menschen, auch die gläubigen unter ihnen, sind allein,
sie sind in die Welt geworfen. Auch Thea gegenüber gelingt es Abrahamson
nicht, Contenance zu wahren. Als er von den Freundlichkeiten in die Sachlichkeit
und schließlich in die Aggression überschwenkt, offenbart sich auf
physischer Ebene das eigentliche Wesen seines Berufs: Er ist ein Instrument
der Gewalt. Die Vergewaltigung am Ende des Verhörs, die gleichzeitig von
der masochistischen Thea herbeigesehnt zu werden scheint, ist Ausdruck dieses
Selbstverständnisses. Daß er danach keineswegs "Schuld"
auf sich geladen hat, sondern umso aggressiver ein nun noch härteres Durchgreifen
gegen die Künstler ankündigt, scheint diese These zu belegen.
Was ist das Vergehen, dessen sich diese drei "Nichtse"
schuldig gemacht haben? Es ist die Aufführung eines Kunststückes,
das als "Sittlichkeitsverbrechen" gesehen wird und das von Weise als
"eine Art Potenzkult-Pantomime" bezeichnet wird (siehe Eckard Weise:
Ingmar Bergman. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987). Am Ende treten sie kostümiert
auf und führen es dem Richter vor. Als solche "Dreifaltigkeit"
von Angst, Wut und Selbstbetrug sind sie dem Richter gegenüber übermächtig;
nicht sein schwaches Herz tötet diesen, sondern diese Übermacht. Doch
ist die Anklage, gegen die sich die Künstler zur Wehr setzen sollen, genauso
absurd wie jene Mordanklage gegen Camus Meursault. Der Untersuchungsprozeß,
der gegen sie geführt wird, ist von Intention und Ausführung eine
kafkaeske Veranstaltung, ein Vorwand, um durch einen rein bürokratischen
Akt drei Persönlichkeiten bloßzulegen. "Der Ritus", der
im Büro des Richters zur Aufführung gelangt, ist so gesehen auch nichts
anderes als ein Katalysator, der all jene mentalen und ideologischen Aspekte
des Plots auf den Punkt bringt und in eine Form gießt. Die Archaik der
Aufführung steht im scharfen Kontrast zum übrigen Gestus des Films,
ihre Wildheit, ausgedrückt in den Kostümen, der Musik und den Handlungen
ein Widerspruch zur beinahe theatresken Machart des Films.
Bergmans "Der Ritus" ist eines der unbekannteren
Werke des schwedischen Regisseurs. 1970 erstmals in Deutschland im ZDF ausgestrahlt,
hat der Film zwar eine Handvoll Wiederaufführungen im Fernsehen erfahren,
eine Auswertung auf Video oder DVD ist ihm bislang jedoch nicht zuteil geworden.
Kinowelt/Arthaus ist es wieder einmal zu verdanken, daß diesem Umstand
Abhilfe geschaffen wurde. Die DVD birgt neben der deutschen und der Originaltonspur
nebst deutschen Untertiteln zwar kaum zum Film gehörende Extras, weist
jedoch eine exzellente Bild- und Tonqualität auf. In der Rückschau
liefert der Film eine Fülle interessanter Aspekte die Ästhetik und
Philosophie Bergmans betreffend. Und auch dessen eigene Künstlerkarriere
scheint "Der Ritus" luzide zu kommentieren: Sebastian Fisher wurde
in einem skandinavischen Land wegen Steuerhinterziehung angeklagt, wie Bergman
es 1976 selbst erleben muß. Doch der Regisseur kehrt 1977 erstmals, 1981
dann vollständig in seine Heimat zurück. Das Schlußwort des
Films bescheidet den Nichtsen eine andere Laufbahn: "Die drei Künstler
wurden [...] wegen ihres pantomimischen Aktes, den sie den RITUS nannten, verurteilt.
Sie bezahlten das Bußgeld, gaben ein paar Interviews und machten gegen
Ende des Sommers Urlaub. In das betreffende Land kehrten sie nie wieder zurück."
Stefan Höltgen
Dieser Text ist zuerst erschienen beim: schnitt
Zu diesem Film gibts im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Der
Ritus
Riten.
S 1969. R,B: Ingmar Bergman. K: Sven Nykvist. S: Siv Lundgren. P: Ingmar Bergman.
D: Andreas Ek, Gunnar Björnstrand, Ingrid Thulin, Erik Hell, Ingmar Bergman
u.a. 72 Min.
DVD:
Kinowelt/Arthaus
Sprachen:
Deutsch, Schwedisch (mit opt. Dt. UT)
1:1,33,
DD 1.0
72
Min.
DVD-Erscheinungstermin:
9.6.2006
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