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Rocco
und seine Brüder
Inhalt:
Die
Familie Parondi, bestehend aus der Mutter Rosaria und ihren vier Söhnen,
kommt vom ärmlichen Land im Süden nach Mailand, um dort, zusammen
mit dem dort lebenden fünften Sohn, ein neues Leben zu beginnen. Doch der
Traum von der Großstadt wird zu einem Alptraum, als die Familienbande
von innen heraus zu zerbrechen beginnen.
Kritik:
Wenn
es unter den größten Regisseuren in der ruhmreichen Geschichte des
italienischen Films einen gegeben hat, dessen Werke als "opernhaft"
bezeichnet werden dürfen, dann ist das Luchino Visconti. Seine Filme sind
Reflektoren seiner eigenen starken Beziehung zu anderen Kunstformen, insbesondere
der Musik, der Literatur und der Malerei. Bei allen drei Künsten bediente
er sich auf in höchstem Maße eklektische Weise und kanalisierte seine
Eindrücke hinein in das Filmschaffen, dessen er sich keineswegs von Anbeginn
seines künstlerischen Daseins an zugetan fühlte. Das Ergebnis sind
(vor allem in seiner Spätphase) Werke, die beinahe bersten wollen vor gemäldeartiger
Schönheit, narrativer Epik und opernhafter Theatralik. Bei keinem anderen
Regisseur hat man das Gefühl, als fehle am Anfang und am Ende nur der rote
Samtvorhang, der sich schwer und erhaben nach links und rechts auf- und zutut.
Einen Visconti-Film zu sehen, bedeutet sich hinzusteigern in eine Welt voller
überwältigender Gefühle, zu schwelgen in einer beispiellosen
Ausstattung und innerhalb aller Gigantomanie doch festzustellen, dass Visconti
alles andere als ein reiner Formalist war: Seine fast überbordenden Ausstattungsepen
tragen gerade in ihren immensen Ausmaßen ihren Schöpfer und seine
verschwindende Welt mit sich. Das Gigantische ist bei Visconti keine hohle Fassade
filmischen "Protzes", sondern eine Vergegenwärtigung der Umstände,
in denen er lebte, und durch ihre absolute Materialität ein großer
Hinweis auf ihre Vergänglichkeit.
Luchino
Viscontis Geburtsname war Graf Luchino Visconti de Modrone - ein Aristokrat
ersten Ranges, dessen Familienname eine Tradition bis zurück ins 13. Jahrhundert
hatte, als die Viscontis die mächtigste und reichste Mailänder Familie
waren. Visconti führte nie das Leben einen armen Mannes, fühlte sich
jedoch oft zu den "einfachen" Menschen der Straße mehr hingezogen,
als zu den Vertretern der Bourgeoisie, die die italienische Aristokratie entmachtet
hatte. Sein Leben war erfüllt vom Traum der Rekreation jener Tage, in denen
der führenden Schicht nicht Dekadenz, sondern Großmut nachgesagt,
und Bewunderung entgegengebracht wurde. Sein filmisches Schaffen, das er als
Regieassistent beim ebenfalls von der sich durch Dekadenz selbst verzehrenden
Bourgeoisie faszinierten Jean Renoir und dessen Une
Partie De Campagne
(Eine
Landpartie,
1936) begonnen hatte, war jedoch weniger geprägt durch eine Verbeugung
vor der Großartigkeit seiner Vorfahren (und mit "Vorfahren"
seien einmal Aristokraten als solche allgemein gemeint), als denn vielmehr vom
Gedanken an die völlige Vergänglichkeit ihres Ruhmes, ihrer Güter
und ihres Reichtums durch immer größer werdende Gier, Selbstvergötterung
und Übermut. In seinem vielleicht ausschweifendsten Epos, Ludwig
(Ludwig
II,
1972), einem über vierstündigen Portrait des berühmten bayerischen
Königs, scheinen aller Glanz und alle Pracht von vorneherein dem Tod anheim
gefallen zu sein; scheint man fast den Schleier eines seltsamen Prunkmärchens
über allem wahrnehmen zu können. Nein, Viscontis übermannende
optische Virtuosität war keine inhaltsleere Prahlerei - sie war das Zentrum
dessen, was er auszudrücken ersuchte: Desto größer und verspielter
sie erschien, desto mehr haftete an ihr letztlich auch das Weltliche, das bei
aller Komplexität und künstlerischer Feinheit vor allem etwas völlig
Schlichtes und Primitives an sich hat. Manchmal meint man, fast Ansätze
des Mooses bemerkt haben zu wollen, das irgendwann einmal all diese einfältige,
dem langsamen Zerfall preisgegebene Schönheit überwuchern würde:
Tiefe Traurigkeit liegt über Viscontis schönsten Filmen.
Rocco
E I Suoi Fratelli
ist anders. Wie
Ossessione (Ossessione
- Von Liebe besessen,
1943), sein erster eigener Film, nimmt auch Rocco... eine
besondere, etwas abseitig gelegene Stellung in Viscontis Oeuvre ein, wenngleich
auch weitaus weniger stark, als erstgenannter Film. Ossessione (eine freie Umsetzung
von James M. Cains "The Postman Always Rings Twice") war streng genommen
der erste veritable Film des italienischen Neorealismus; Rocco..., wie
auch die 60er-Filme von vor allem Pier Paolo Pasolini, jedoch auch Federico
Fellini und Bernardo Bertolucci, einer der wichtigsten "post-neorealistischen"
Filme, auf dessen Schultern schwer und fordernd die Rossellinis und De Sicas
der vergangenen Jahre lasteten: War Ossessione freilich
eher dem ungebundenen Stil eines sich und sein cineastisches Erbe gerade erst
entdeckenden Filmemachers zuzuschreiben, so war Rocco... ein
Film, in dem alles Vergangene und Viscontis große Verbundenheit mit den
anderen Künsten zugleich und beinahe gleichberechtigt vorhanden war. Während
sich das Vergangene (sprich das neorealistische Erbe) in Viscontis späteren
Meisterwerken immer mehr zurückbildete und seine Persönlichkeit stärker
in den Vordergrund trat, so ist in Rocco..., den
Visconti trotz seiner "Entdeckung" des Farbfilms in Senso (1954)
wie auch schon zuvor Le
Notti Bianche
(1957) wieder in Schwarzweiß drehte, die Einfachheit und Eindringlichkeit
der neorealistischen Filmbilder noch überall zu spüren und macht Rocco
E I Suoi Fratelli
zu einem ungemein reizvollen, wenngleich auch zuweilen stilistisch gewöhnungsbedürftig
anmutenden Werk.
Viscontis
wundervoller Film hatte seine Premiere in den italienischen Kinos am 6. September
1960 - exakt eine Woche, bevor der vielleicht wichtigste italienische Filmemacher
der Nachkriegszeit, Michelangelo Antonioni, den wahrscheinlich modernsten, stilbildendsten
und elegantesten Film seiner Zeit in Frankreich uraufführte: L'Avventura
(Die
mit der Liebe spielen).
L'Avventura,
bis heute eines der am meisten bewunderten Kunstwerke der Mediums, ist ein Film,
der künstlerisch, in seiner Ästhetik und in seiner filmgeschichtlichen
Bedeutung wohl deutlich über dem gegen Antonionis Meisterwerk fast konservativ
wirkenden Rocco
E I Suoi Fratelli
steht, und sicherlich der rückblickend gesehen außergewöhnlichste
Film des Jahres 1960 gewesen sein muss. L'Avventura
erhielt einen großen Teil seiner ihm gezollten Aufmerksamkeit dadurch,
dass Antonioni den Mut besaß, mit klassischen narrativen Mustern grundlegend
und rigoros zu brechen: Anna, eine schöne, junge Frau, die dem Zuschauer
zu Beginn des Films praktisch in der Figur der weibliche Hauptrolle angeboten
wird, verschwindet nach kurzer Zeit gänzlich, absolut spurlos und taucht
nicht wieder auf. Sie hinterlässt eine Vielzahl angebrochener Handlungsstränge
und wird konsequent zu einem "off-screen"-Charakter modelliert, der
den ganzen Film über vor allem dadurch gegenwärtig ist, dass er nicht
gegenwärtig ist. Anna und ihre Abwesenheit schweben über den Personen
aus L'Avventura,
bestimmen ihr Handeln, ihr Denken und ihre Beziehungen untereinander. Diese
Idee Antonionis war in höchstem Maße mutig und ich würde niemals
behaupten, L'Avventura
sei nicht das Werk eines absoluten Genies (ich kenne in der Tat keinen Film,
der sich in seiner schroffen, kargen Schönheit und Eleganz so bequem, lustvoll
und nach allen denkbaren Seiten hin offen "anfühlt", dass ich
jedes Mal, wenn ich ihn sehe, an zartmelancholische Jazzmusik denken muss),
jedoch denke ich, dass - auf einigen ganz "speziellen" Wegen und Eigenarten
- Rocco...
der mutigere, tapferere und ungewöhnlichere Film gewesen ist.
Antonionis
erstes Werk seiner berühmten und unerreichten Trilogie über die Unmöglichkeit
der Liebe und die Entfremdung der Menschen untereinander, war in jener Zeit,
in der er entstand, in gewisser Hinsicht einfach "möglich". Im
selben Jahr hatte Godard zuvor mit A
Bout De Souffle
(Außer
Atem)
den bis heute namhaftesten Vertreter der Nouvelle Vague geschaffen, Agnès
Varda drehte zwei Jahre später Cléo
De 5 A 7
(Mittwoch
zwischen 5 und 7)
und Alain Resnais wies dem Begriff "Avantgarde" neue Dimensionen auf,
als er 1961 L'Année
Dernièr A Marienbad
(Letztes
Jahr in Marienbad)
vorlegte. Keine Frage: L'Avventura
stand in exakt jenem Jahr, in welchem das Kino die Pforte zu seinem aufregendsten
Jahrzehnt aufstieß. Doch Viscontis Rocco...
war im Verhältnis ein einfacher, geradliniger, klarer Film und in einem
vorzüglichen Essay mit dem Titel "Visconti's Cinema Of Twilight",
den Maximilian Le Cain in dem australischen Filmmagazin "Senses Of Cinema"
veröffentlichte, steht eindeutig, wo man Luchino Visconti in dieser Hinsicht
gar zu sehen hat:
"As
his career progressed it became apparent that Visconti was, like Bresson and
Dreyer, a lonely, stubborn, uncompromising giant who navigated a very personal
course that frequently ran parallel with that of film history, yet remained
rather aloof from it."
Rocco...
ist - ebenso wie Bressons Pickpocket
(1959) und Dreyers Gertrud
(1964) - ein Musterbeispiel für die Filme der großen "Außenseiter"
des Kinos: Jene fantastischen Meister, die mit ihren Filmen irgendwo über
den Strömungen von Zeit und Kunst standen, deren Werke selten politischen,
"revolutionären" oder der Provokation dienenden Motivationen
unterstanden. Einen Film wie Gertrud
oder auch Rocco...
zu sehen, wirkt heute wie ein Innehalten, wie die Meditation eines Genies, das
um sich herum alles Bekannte kollabieren sieht. Man spricht über Rocco
E I Suoi Fratelli
nicht auf die Art, wie man voller Bewunderung vor der großen Kunst eines
L'Avventura
spricht. Nein, Rocco...
ist ein Film, an und mit dem man wächst, in den man sich einmal verliebt
und den man dann immer wieder anschaut, wenn "einem einfach danach ist".
Der
Film öffnet mit Titeleinblendungen, die ihren Schöpfer bereits zum
"Außenseiter" machen: "Regia Di Luchino Visconti"
steht in großen, weißen, beinahe an Historienfilme gemahnenden Lettern
quer über die Leinwand. Es ist ein Beginn, dem bereits etwas Opernhaftes
innewohnt, wenn das Schwarz, auf das die Titel projiziert wurden, sich aufhellt,
und den Blick auf den Bahnhof freigibt, an dem Mutter Parondi mit ihren fünf
Söhnen ankommt. Diese Einleitung hat - wenn auch unscheinbarer - fast die
Größe, die die Eröffnung von Viscontis 1971er-Film, Morte
A Venezia
(Tod
In Venedig),
später vorweisen würde: In einer der majestätischsten ersten
Einstellungen, die das Kino kennt, sehen wir, wie von Aschenbachs Schiff seinen
Weg nimmt; in beispielloser Symbiose unterlegt mit dem unvergleichlichen vierten
Satz der fünften Symphonie Gustav Mahlers. Und obwohl Morte
A Venezia
nicht in jeder Hinsicht eine perfekte Adaption von Manns Roman sein mag, so
kann ich mir doch kaum einen Film vorstellen, in dem der Tod so präsent,
die Sehnsucht nach ihm so verlangend und die Poesie so sinister und elegisch
ist. Morte
A Venezia
ist in Atmosphäre und Dichte ein absolutes Meisterwerk, dessen Bilder manchmal
so endlos viel gemein haben, mit denen von Rocco
E I Suoi Fratelli:
Bewegung kennzeichnet die ersten Einstellungen: Ein fahrendes Schiff; anrollende
Züge. Beide Reisenden, sowohl von Aschenbach als auch die Parondis, erhoffen
sich vom Ziel ihrer Fahrt nur Gutes. Von Aschenbach sucht in Venedig Genesung,
die Parondis wollen in Mailand ein neues Leben beginnen, fern von ihrer armen
Heimat im Süden. Und letztlich erwartet sie alle doch nur Tragik, Auflösung
und die Sehnsucht nach Rückkehr bzw. (in von Aschenbachs Dasein) dem Tod.
Beinahe hat man das Gefühl, als hätten die so unbeschreibbar klagend
und trauernd wirkenden Klänge von Mahlers Fünfter auch zu den Anfangsszenen
von Rocco...
ihre Wirkung gehabt: Als ein Hinweis auf das, was kommen mag; als ein Abschied
von dem, was zurück liegt.
Die
Parondis sind eine Familie, deren Leben an vielen "Ecken" zugleich
stattfindet: Eine Mutter und fünf Söhne. Vier davon junge Männer,
einer (Luca) ein Kind. Der älteste der Söhne ist Vincenzo, ein gelegentlicher
Boxer, der mit seiner Verlobten Ginetta (Claudia Cardinale in einer frühen
Rolle) bereits in Mailand lebt, und die unangekündigt ankommende Familie
etwas widerwillig in Empfang nimmt. Diese ist denn auch bald - weil ihnen keine
andere Bleibe eingeräumt wird - gezwungen, zunächst in eine Art von
Baracke und später (durch eine absichtlich herbeigeführte Räumung)
in ein Heim für Zwangsgeräumte zu ziehen. Der unumstrittene Mittelpunkt
des Lebens in der Parondi-Familie ist die Mutter Rosaria, die für die "Jungens",
wie sie in der deutschen Fassung ihre Söhne nennt, gleichermaßen
Mutter, wie auch Ersatz für den toten Vater sein muss. An ihr koordinieren
sich fast alle Handlungen der Söhne Simone, Ciro, Rocco und Luca und das
letzte Wort liegt im Zweifel stets bei "der Mama". Rosaria ist eine
extrem "rustikale" Frauenfigur, deren Leben ganz ihren Kindern gewidmet
ist, von denen sie gleichermaßen abhängig ist, wie sie von ihr. Ihre
Gesten und Dialoge sind in gewisser Hinsicht das, was man sich unter einer zutiefst
italienischen Darstellung vorstellen mag: Bewegungsreich, laut, theatralisch
- so, als hätte sie stets eine Bühne unter und ein Publikum vor sich,
das sie mit aller Macht von ihrem Leid, ihrem Kummer, wie auch von ihrer Freude
und ihrem Stolz auf ihre Kinder überzeugen muss. Ihre Söhne verehren
sie für ihre Aufopferung, lösen sich doch im Verlauf des Films gelegentlich
auch deutlicher aus ihrer manchmal fast erdrückenden Umarmung. Der wichtigste
Schritt von einem von ihnen wird von Simone getan, dem oftmals draufgängerischsten
der fünf Brüder. Simone folgt, wie später auch Rocco, seinem
älteren Bruder Vincenzo in den Boxsport und verlässt damit als erster,
die meist von allen fünf Brüdern kollektiv verrichteten kleinen Gelegenheitsarbeiten,
wie etwa das Schneeschaufeln auf der Straße. Gleichzeitig lässt er
sich mit Nadia, einer Prostituierten, ein, was seine Mutter erwartungsgemäß
alles andere als gutheißt. Zum entscheidenden Bruch innerhalb der Parondis
kommt es schließlich auch über Simone, als dieser nämlich aufgrund
seiner Beziehung zu Nadia das Boxtraining mehr und mehr vernachlässigt
und der einstige Champion daraufhin in einem wichtigen Kampf regelrecht zusammengeschlagen
wird. Rocco tritt in seine Fußstapfen, sowohl im Boxen als auch bei Nadia,
und hat in beiderlei Hinsicht größeren Erfolg. Simone wird von der
Familie nach und nach fallengelassen und in seinem ihn überwältigenden
Selbsthass und Kummer versucht er, wen auch immer in seinen Sturz mit hineinzuziehen.
Die
Geschichte ist noch tragischer, als sie sich in einer kurzen inhaltlichen Wiedergabe
überhaupt anhören kann. Visconti arbeitet mit einem fast schon alttestamentarischen
Komplex aus Schuld, Hass, Vergebung und Aufopferung und ist sich seiner eingesetzten
Mittel sehr wohl bewusst. Das am meisten opernhafte Element von Rocco
E I Suoi Fratelli
liegt daher auch in der konsequenten und ungemein selbstbewussten extremen Überhöhung
aller Dramatik, für die ihn mancher Zuschauer missachten könnte. Jedoch
versucht Visconti nicht, die Melodramatik der in seinem Film geäußerten
Gefühle - wie es etwa ein Douglas Sirk in den 50ern tat - zu überspitzen,
um zum Beispiel die Grenzen eines Genres zu verschieben. Vielmehr ist es ihm
sehr ernst mit dem, was er darstellt, und seine Charaktere und ihr Leiden gehen
ihm so sehr zu Herzen, dass er ihnen Emotionen einräumt, als stünde
das Ende der Welt bevor. In dieser Hinsicht offenbart sich auch noch auf einer
sehr konkreten Ebene die Verbundenheit, die Visconti mit Literatur pflegte,
denn Rocco
E I Suoi Fratelli
scheint in einem ganz besonderen Ausmaß zumindest in der Form am Epischen
Theater Bertolt Brechts orientiert zu sein, was sich an mehreren Elemente, Szenen
und Sequenzen des Films sehr gut erkennen lässt. Zum einen sind dies vor
allem Figurenzitate wie Rosaria (die Ähnlichkeit mit der Mutter Courage
aus Brechts gleichnamigem Stück ist spätestens dann gewollt herbeigeführt,
wenn wir sie mit einem Wagen, auf dem all ihr Hab und Gut liegt, mit ihren Söhnen
umherziehen sehen) oder Rocco (Ciro nennt ihn und seine Hingabe gegenüber
seinem auf die schiefe Bahn geratenen Bruder einmal "einen Heiligen",
der jedoch in dieser Welt nichts ausrichten kann - ganz ähnlich der Figur
der Shen-Te in Brechts "Der Gute Mensch Von Sezuan"), zum anderen
ideologische Zitate (ebenso wie Brecht war auch Visconti ein bekennender Marxist),
wie die Unmöglichkeit der Großherzigkeit und Güte in einer Welt
wie der unsrigen und die unausweichliche Prägung des Menschen durch die
Umwelt, in der er lebt. Besonders evident wird dies in einer (in ihrer Rohheit
und nüchternen Härte übrigens auch großartig neorealistischen)
Szene, in der Rocco und Simone sich in den Straßen von Mailand einen Faustkampf
liefern, nachdem Simone sich an Nadia vergangen hat: Immer wieder zeigt Visconti
hier beide Brüder in der Totalen und im Kontrast gegen die Hochhäuser
der modernen Stadt. Ein eindeutiger Hinweis darauf, wo der Regisseur die Hauptursache
dieses fast biblischen Bruderzwistes sieht.
Doch
innerhalb all dieser Arten von Einflüssen - von der Hände über
den Kopf schlagenden, schreienden und weinenden Dramatik der Oper bis hin zum
realistischen Sozialismus Brechts - liegt die genialste und beste Szene dieses
dreistündigen Kinoschatzes dennoch und wie so oft in einem winzigen Augenblick.
Es ist jener (erneut biblisch anmutende) Moment gen Ende des Films, wenn der
reuige Simone vor der Tür seiner Mutter steht, nachdem er sich eines Verbrechens
schuldig gemacht hat, das hier nicht verraten sei. Rosaria öffnet die Tür,
Simone steht mit gesenktem Kopf vor ihr - voller Sündigkeit und Vergebungshoffnung.
Sekunden des Schweigens; kein Laut ist zu hören. Die Kamera fährt
heran und Rosaria legt sofort, und als wisse sie alles und könnte aus dem
Anblick ihres Sohnes heraus alles erkennen, ihre Hand beruhigend auf sein Gesicht:
Absolute Magie, reine Schönheit.
Janis
El-Bira
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Rocco
und seine Brüder
(Rocco
e i suoi fratelli, 1960)
Regie:
Luchino Visconti
Premiere:
06. September 1960 (Italien)
Drehbuch:
Giovanni Testori & Luchino Visconti
Dt.
Start: 14. April 1961
FSK:
ab 18
Land:
Italien, Frankreich
Länge:
175 min
Darsteller:
Alain
Delon (Rocco Parondi), Renato Salvatori (Simone Parondi), Annie Girardot (Nadia),
Katina Paxinou (Rosaria Parondi), Alessandra Panaro (Ciro's Verlobte), Spiros
Focas (Vincenzo Parondi), Max Cartier (Ciro Parondi), Corrado Pani (Ivo), Rocco
Vidolazzi (Luca Parondi), Claudia Mori (Wäschereiangestellte), Adriana
Asti (Wäschereiangestellte), Enzo Fiermonte (Boxer), Nino Castelnuovo (Nino
Rossi), Renato Terra (Alfredo)
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