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Rohtenburg
Erklärung
des Wahnsinns
Der Film "Rohtenburg"
wurde verboten – wem ist dadurch geholfen?
Armin Meiwes hat durchgesetzt,
dass der Spielfilm "Rohtenburg" vorerst nicht ins Kino kommt, weil
er Persönlichkeitsrechte verletze. Die Frage, inwiefern etwaige Übereinstimmungen
im Film unentscheidbar fiktiv oder real sein könnten und ob durch das Verbot
ein notwendige kulturelle Verarbeitung verhindert wird, war nicht Gegenstand
der Verhandlung.
Imitiert die Kunst das Leben oder
das Leben die Kunst? Diese Frage stellten sich die Richter des OLG Frankfurt
in der vergangenen Woche wohl nicht, als sie der einstweiligen Verfügung
Armin Meiwes', des so genannten "Kannibalen von Rothenburg", entsprachen,
der den Film "Rohtenburg" (Originaltitel: "Butterfly – A Grimm
Love Story") als Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte sah.
"Rohtenburg", der am
9. März in die Kinos kommen sollte, startet nun nicht – oder erst mit großer
Verspätung, wenn die Produktionsfirma "Atlantic Streamline Productions"
ihre Ankündigung wahr macht, "sämtliche Rechtsmittel" (wozu in letzter
Instanz auch die Verfassungsbeschwerde zählt) gegen die Entscheidung des
Gerichts auszuschöpfen.
Meiwes, der den Film laut "Focus
TV" selbst noch nicht gesehen hat, hatte bereits im Vorfeld eine einstweilige
Verfügung dagegen erwirken wollen, war aber vom Amtsgericht in Kassel abgewiesen
worden. Nun machte sein Anwalt "88 Übereinstimmungen" mit dem
Leben seines Mandanten zur Grundlage, um es erneut zu versuchen. Ob zu diesen
Übereinstimmungen, wie "Focus TV" berichtete, auch die im Film
wie in Meiwes Kindheit auftretende "herrschsüchtige Mutter" gehört,
kann vermutet werden; an diesem Motiv zeigt sich jedoch schon, wie heikel eine
solche Übereinstimmungsüberprüfung von Fiktion und Wirklichkeit
ist: Ist uns das Bild der überbehütenden, herrschsüchtigen Mutter
nicht längst auch aus dem Kino bekannt?
Mehr noch: Immer wieder wird der
Topos der "traumatischen Kindheit" von Kino und Literatur als Begründungsschema
für Wahnsinnstaten herangezogen. Für den Fall also, dass dieses Moment
auch zu den Übereinstimmungen zählt, die Meiwes angegeben hat, ließe
sich fragen, ob er sich diesen "wieder gefundenen" Begründungszusammenhang
nicht sogar selbst durch Fiktionen erworben hat.
Die Kunst ist lang und kurz
ist unser Leben
Es scheint zunächst eine
rein akademische Frage zu sein, auf welche Weise sich Begründungen für
Verbrechen ergeben und woher sie stammen. Zentral ist jedoch, dass die Suche
nach Gründen zu den zentralen Mechanismen kultureller Verbrechensbewältigung
gehört. Während sich die Psychologen und Gutachter noch bemühen,
die Motivation des "Kannibalen von Rothenburg" zu ergründen,
hat der kulturelle Verstehensprozess längst begonnen.
In der Musik, Literatur und im
Film wird der Fall, der zunächst scheinbar nur eine Aneinanderreihung von
nachrichtlichen Fakten gewesen ist, aufgegriffen und mit "Sinn" aufgeladen.
Wenn etwa die deutsche Rockband "Rammstein" in der vorletzten Strophe
ihres vom Fall inspirierten Songs "Mein Teil" singt: "Ein Schrei
wird zum Himmel fahren / schneidet sich durch Engelscharen / Vom Wolkendach
fällt Federfleisch / auf meine Kindheit mit Gekreisch", dann kolportieren
auch sie das Motiv der traumatischen Kindheit.
Die kulturelle Verarbeitung eines
derartigen Verbrechens ist darauf bedacht, einen irgendwie gearteten rationalen
Sinn hinter der Tat zu finden. Zu wahnsinnig scheint der Kannibalismus, als
dass wir ihn einfach als Faktum hinnehmen könnten; zu sehr greift diese
Form der Tabu-Verletzung (über die sich Täter und Opfer auch noch
einig waren!) das kulturelle Selbstverständnis an, als dass die Kultur
nicht darauf reagieren müsste.
Das Andere, für das der Kannibale
immer noch steht, muss wieder in den Bereich des Eigenen zurückgeholt werden,
es muss der Rationalität unterworfen werden, damit es besiegt werden kann.
Die Geschichte von Psychiatrie und Psychologie ist nichts anderes als die Geschichte
einer so verstandenen Re-Kultivierungs-Technik.
Die Kunst leistet einen ähnlichen
Beitrag zu diesem Prozess, indem sie die Fakten in ein Narrativ einbindet. Sinn
entsteht hier durch historische Kohärenz, durch Überführung unsichtbarer
Vorgänge in die Bildlichkeit und durch einen dramaturgischen Aufbau. Wenn
"Rohtenburg" Übereinstimmungen mit Armin Meiwes' Leben enthält,
dann sind diese durch einen erzählerischen Überbau miteinander verbunden,
der dem Zuschauer hilft, "sich ein Bild" vom Geschehen zu machen.
"Rohtenburg" ist ein Spiel- und kein Dokumentarfilm, also bettet er
seine Fakten ein einen fiktionalen Rahmen ein.
Manche Geschichten sollten
erzählt werden
Die Geschichte von "Rohtenburg"
erzählt zunächst von der amerikanischen Kriminalpsychologie-Studentin
Katie (Keri Russel), die in einer ihrer Vorlesungen von einem Kannibalismus-Fall
in Deutschland erfährt. Weil sie diesen Fall zum Gegenstand ihrer Abschlussarbeit
machen will, reist sie nach Deutschland und nimmt die Spur des Falles auf, interessiert
vor allem daran, was zwei Menschen zu solch einer Tat treibt, warum sich jemand
freiwillig von jemand anderem töten und essen lassen will und warum jemand
Lust auf Menschenfleisch verspürt.
Vor Ort angekommen findet sie
bald das verlassene Haus des mittlerweile inhaftierten Kannibalen Oliver Hartwin
(Thomas Kretschmann) und bricht dort ein. Spuren der Tat sind nicht mehr zu
finden, aber der Ort scheint die Leidensgeschichten seiner Bewohner zu erzählen:
Die Geschichte von Oliver und seiner Kindheit, die Geschichten seines Opfers
Simon Grobeck (Thomas Huber) und dessen Vergangenheit. Die Bilder stürmen
gleichsam auf Katie wie auf den Zuschauer ein. Die Studentin beschließt,
die Nacht im Haus Hartwins zu verbringen und sich am nächsten Tag auf die
Suche nach der angeblich von der Tat erstellten Videokassette zu machen. In
einem Kannibalismus-Chatroom findet sie recht bald jemanden, der ihr die Aufnahme
kostenlos zur Verfügung stellt. Sie schaut sich das Band an und bricht
geläutert in Tränen aus.
"Rohtenburg" ist weder
der erste noch der beste filmische Annäherungsversuch an den Fall Meiwes
(vgl. "Hat nicht so gut geschmeckt"). Seine "Mediokrität"
(Spiegel Online) liegt vor allem an der Unentschiedenheit, mit der der Film
sich einerseits von seiner authentischen Vorlage zu lösen versucht (etwa
durch die hanebüchene Rahmenhandlung um die Studentin) und andererseits
durch authentisierende Ästhetiken mit seiner "Echtheit" buhlt.
Er geht den anderen Filmen um
Meiwes und sein Opfer jedoch in einem Punkt voraus: Er entwirft eine Ätiologie
der beiden Männer, die – so klischeebehaftet sie ist – genau das leistet,
von dem oben gesprochen wurde: Sie erklärt den Wahnsinn. Sowohl Hartwins
als auch Grobecks sexuelle Depravation ist das Ergebnis einer problematischen
Kindheit, so suggeriert der Film. Während der eine von seiner Mutter überbehütet
wird, schlägt der andere früh die Laufbahn des Kleinkriminellen und
Tierquälers ein. "Rohtenburg" liefert die fehlenden Puzzlestücke,
die aus den "88 Übereinstimmungen" erst das stimmige Bild zweier
Menschenleben machen.
Darf man "Rohtenburg"
verbieten?
Im Streitfall um den Film "Rohtenburg"
treffen drei Diskurse aufeinander: zunächst der ethisch-juristische, der
das Persönlichkeitsrecht des Täters über die Kunstfreiheit stellt,
dann der ästhetische Diskurs, der die Fiktionalisierung der Fakten über
die Wiedererkennbarkeit der "88 Übereinstimmungen" stellt und
schließlich der kulturell-psychologische, der einfordert, dass aus Fällen
Geschichten werden müssen, damit sie auf breiter Basis verarbeitet werden
können.
Während die ersten beiden
Diskurse nun unüberhörbar aufeinander geprallt sind, wird der dritte,
um den es hier ging, scheinbar marginalisiert. Hat die Öffentlichkeit nicht
vielleicht sogar ein Recht auf einen Film zum Thema? Immerhin scheint Meiwes
dieses Recht ja selbst anzuerkennen: Mit der Produktionsfirma "Stampfwerk"
hat er einen Vertrag über (mindestens) einen Dokumentarfilm zu seinem Fall
abgeschlossen. Ist es also so, dass er seine Geschichte lieber selbst erzählen
will und nur verhindern möchte, dass Filme wie "Rohtenburg" diese
für ihre Fiktionen "ausschlachten" (O-Ton Meiwes)? Damit insinuiert
er doch aber eigentlich genau das Gegenteil von dem, was er als Verbotsgrund
angibt.
Wer "Rohtenburg" gesehen
hat (oder vielleicht doch noch zu sehen bekommt), wird feststellen, dass dessen
Täter- und Opferbild keinesfalls exploitativ daher kommen. Im Gegenteil:
Gerade die Binnenerzählung versucht – eben weil sie Verstehen vermitteln
will – ein sehr differenziertes, ja fast schon einfühlsames Bild der beiden
Männer zu zeichnen. Fernab von jeder Kannibalenfilm-Ästhetik (und
sei es der distinguierten Darstellung eines Hannibal Lecter) erzählt der
Film eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Zwar fließt viel Blut,
dennoch kann man "Rohtenburg" nur schwerlich als "Splatterfilm"
apostrophieren; die zentrale homoerotische Beziehung und die Biografie/Ätiologie
der beiden Protagonisten stehen viel zu sehr im Vordergrund.
Das nun durch die einstweilige
Verfügung erwirkte faktische Verbot des Films verhindert vorerst, dass
diese Bilder an die Öffentlichkeit gelangen. Sei es, weil sie zu nah an
der Realität sind ("88 Übereinstimmungen") oder weil sie
die Realität zu stark fiktionalisieren (eben für ihre Geschichte "ausschlachten").
Wenn nun, wie gestern zu lesen war, auch andere Filme über den Fall Meiwes
von einem solchen Verbot bedroht sind, wird dadurch die kulturelle Verarbeitung
mehr und mehr verunmöglicht.
Derlei Maßnahmen ignorieren,
dass Fakten und Fiktionen längst untrennbar miteinander verbunden sind,
dass durch die bereits im Diskurs befindlichen Verarbeitungen (stammen sie nun
aus der "Bild"-Zeitung oder von Rammstein) der kulturelle Verarbeitungsprozess
längst begonnen hat. "Rohtenburg" stellt dabei nur eine Variante
dieses Prozesses dar, die, weil sie lauter für sich wirbt als die anderen,
im Vordergrund steht. Der Film ist vielleicht nur das Sublimat eines Prozesses,
der mit der ersten Veröffentlichung über den Fall eingesetzt hat;
ihn zu verbieten leistet allenfalls kosmetische Reparaturen am öffentlichen
Bild Meiwes'
Stefan Höltgen
Dieser Text ist zuerst erschienen am 07.03.2006 bei: telepolis
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Rohtenburg
USA 2005 - Regie: Martin Weisz - Darsteller: Thomas Kretschmann,
Keri Russell, Thomas Huber, Nikolai Kinski, Axel Wedekind, Rainier Meissner,
Angelika Bartsch, Alexander Martschewski - FSK: keine Jugendfreigabe, feiertagsfrei
- Länge: 88 min. - Start:(D): 17.6.2009
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