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Rosetta
Am
Haken
Das
Gerüst seines Lebens muß sich das Mädchen selbst erläutern:
"Du
heißt Rosetta."
"Ich
heiße Rosetta"
"Du
hast Arbeit gefunden."
"Ich
habe Arbeit gefunden."
"Du
hast einen Freund gefunden."
"Ich
habe einen Freund gefunden."
"Du
wirst nicht abstürzen."
"Ich
werde nicht abstürzen."
Mit
niemand anderem kann das Mädchen Rosetta so sprechen.
Auch
das Gerüst des Filmes "Rosetta" baut auf diese Erläuterungen.
Über Rosettas Leben weiß er nie mehr, als sie selbst weiß.
Denn auch mit dem Film spricht das Mädchen nicht. Noch weniger spricht
er über sie. Er kann sie begleiten. Er kann ihr beim Leben, buchstäblich
beim Überleben zusehen. Er dokumentiert - kommentieren kann er nicht.
"Rosetta"
ist Kino, wie es ungeschwätziger kaum denkbar ist: Das Gesprochene, die
Anzahl der Einstellungen, die Charakterisierung der wenigen Figuren sind auf
das Notwendigste eingedampft. Keine Offmusik ertönt, ein wackliges Schlagzeugsolo
aus einem schabbrigen Rekorder muß genügen. Der Film lebt durch Weglassen,
seine Bewegung und sein Bewegendes entsteht in den Aussparungen. Und nicht,
daß "Rosetta" uns irgendetwas ersparte: die Geschichte vom arbeitslosen
white trash im belgischen Niemandsland, die Geschichte vom bitteren Verrat einer
Freundschaft, die Geschichte vom Vor-die-Hunde-gehen einer Persönlichkeit
sind glasklar und glashart durcherzählt. Ohne Abtönung, ohne Sollbruchstelle.
Offenlassen
und doch Beantworten - der Film erlangt diese seltene Balance in der Mitte zweier
Erzählformen, in der Mitte zwischen subjektiver Perspektive und unbestechlichem
Verhaltensprotokoll. Die Regisseure Dardenne haben Rosettas Leben in einer nahezu
experimentellen Anordnung stets wiederholter Handlungen fixiert: Eine Betonröhre
öffnen, die Stadtschuhe weglegen, die Gummistiefel hernehmen, die Betonröhre
schließen, zum Wohnwagen gehen, die Fahrradflasche mit Wasser füllen,
der betrunkenen Mutter die Schnapsflasche wegnehmen, einen Regenwurm ausgraben,
den Zaun am Teich öffnen, durchkrabbeln, den Zaun wieder schließen,
die Angelleine aus der Erde graben, den Haken ans Ufer ziehen, den Regenwurm
aufspießen, den Köder in den Teich werfen, die Leine mit Erde abdecken,
den Zaun öffnen, durchkrabbeln, den Zaun wieder schließen ... so
lebt Rosetta. Und durch die Handkamera sind wir bei ihr.
Wie
absichtsvoll arrangiert, wie künstlich diese leitmotivischen Wiederholungen
auch sind, wir bleiben ganz nahe bei Rosetta, wir können ihre Haare riechen.
Die Dardennes stellen die Technik vollständig in den Dienst glaubhafter
Darstellung. Die Kamera folgt der widerborstig-schönen Emilie Dequenne,
ihrem Bewegungsdrang und ihrem Innehalten, ihren Ausbrüchen und ihren raren,
aber bestimmten Blicken. Rastlos durcheilt sie ihren Tagesplan und kaum etwas
rührt sich in ihrem Gesicht. Und dann, als sie den Jungen, der ihr Freund
sein möchte, aus dem Job gemobbt hat und an seiner statt hinter dem Imbißtresen
steht - ist da ein kleines Lächeln, eine Zufriedenheit. An solchen Stellen
rutscht man tiefer in den Kinosessel und gesteht, daß einen nicht nur
das Dauerwirbeln der Kamera fertigmacht, sondern auch die Brutalität dieses
Charakters.
Der
Film "Rosetta" ist abhängig von dem Mädchen Rosetta. Das
Mädchen Rosetta aber ist abhängig von einer Ordnung, die sie nicht
selbst gewählt hat. Der Kontrollwahn über die Koordinaten ihres Alltags
- Trinken, Essen, Wohnen, um die Mutter kümmern, Arbeit finden, einem Jungen
begegnen (in genau dieser Reihenfolge) - ist Reaktion innerhalb einer filmischen
Versuchsanordnung, die keinen Fehler verzeiht und keine Pause gönnt. Die
Versuchsanordnung heißt Armut. Rosettas Eigensinn, ihr unbedingter Wille
kann diese Versuchsanordnung nicht sprengen. Das Nachgeordnetsein unseres Blicks
entspricht daher dem Nachgeordnetsein von Rosettas persönlicher Freiheit.
Gleichwohl läßt der Film keinen Zweifel aufkommen, wie sich ein Leben
wie das von Rosetta ändern ließe.
Die
beiden Brüder Dardenne haben nach "La
Promesse"
einen weiteren erdrückend ehrlichen Film geschaffen. Intimität und
Engagement kommen selten derart intelligent und mutig zusammen.
"Ich
werde nicht abstürzen", flüstert sich Rosetta zu.
Schnitt.
Ihr Chef entläßt sie.
Urs Richter
Dieser
Zext ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-archiv mehrere Kritiken.
Rosetta (Rosetta), Belgien 1999. R: und Buch: Luc und Jean Pierre Dardenne,
K: Alain Marcoen, T: Jean-Pierre Duret, S: Marie-Hélène Dozo,
P: Dardenne, Michèle und Laurent Pétin, Arlette Zylberberg, D:
Emilie Dequenne (Rosetta), Fabrizio Ron (Riquet), Anne Yernaux (Mutter), Olivier
Gourmet (Chef).
Peripher
3. 5. 2001
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