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Rote Liebe, 2. Fassung
Der Titelsong schlägt das
Thema an. Annette Humpe von der Gruppe Ideal singt »Rote Liebe«.
Der erste Auftritt der Lenin-Ministerin Kollontai endet mit den Worten »Nicht
die sexuellen Wünsche bestimmen den Wert der Frau, sondern ihr Wert im
Arbeitsleben«. Das ist das Stichwort für den Einschnitt eines Videointerviews
mit Helga Goetze. Die Endfünfzigerin mit schadhaften Zähnen, gänzlich
unaufgemacht, plaudert auf das fröhlichste, ungezwungenste und mütterlichste
mit Rosa von Praunheim über ihr Lieblingsthema: das Ficken. Sie erwähnt
ihre späten Lehrjahre in der Sexkommune des Otto Mühl, weist der Kamera
ihre Puddingbrüste vor, gedenkt ihrer sieben Kinder und nennt Namen. »1974
bin ich von zu Haus weggegangen und habe in Hamburg sechs Monate bei Wolfgang
gelebt und seinen schwulen Freunden. Gearbeitet hab ich als Wirtschafterin.
Herr Adler hat mich aber fristlos entlassen« usw. - Ganz offensichtlich
vertritt Helga Goetze die Ansicht, daß nicht ihr Wert im Arbeitsleben,
sondern ihre sexuellen Wünsche ihre Existenz ausmachen. Sie gibt die Replik
auf den Kollontaisatz.
Im Wechsel zwischen Film (Kollontai)
und Video (Goetze) nimmt der Film seinen Fortgang. Während Wassilissa und
Wolodja ebenso abstrakt wie unglaubhaft und dilettantisch-gekünstelt von
großen Gefühlen sprechen, spricht Helga Goetze ebenso konkret wie
überzeugend und sehr natürlich-fröhlich von Michael, der beim
Ficken immer kotzt, so daß sie jedesmal vorher einen Eimer holen muß.
Wassilissa läßt keinen
Zweifel daran, daß die Partei sich auch um das Privatleben der Sowjetmenschen
kümmern muß, denn »die Partei hat immer recht«. - Helga
Goetze verkündet, daß sie, Helga Goetze, recht habe. Sie will selbst an
ihren (sexuellen) Gefühlen arbeiten, und allenfalls sind es die Frauen
allein, die die hl. Handlung des Sexualakts organisieren müssen, zum Beispiel
indem sie die Schulen schließen und die Kinder ficken lassen.
Helga Goetze erzählt, daß
sie selbst die Bilder gemalt habe, die im Hintergrund zu sehen sind. - Wassilissa
tut nichts, sie wird beschenkt, mit Seidenstoff. - Helga Goetze entwickelt ihr
Leitbild (»Die geile Frau«). - Wassilissa nimmt ein Buch zur Hand.
Es ist Bucharins ABC
of Communism.
- Helga Goetze zeigt ihr rechtes Krampfadernbein vor und rezitiert ein eigenes
Gedicht: »Um Ästhetik zu genügen, zeige ich mein Balzebein /
Ei, das linke ist das hübsche / Ficker balz ins linke rein / denn das rechte
hat so Adern / Adern und Narben, Adern und ein Überbein.«
Unmittelbar nachdem die Goetze
vom Behinderten Josef erzählt hat, dem sie es mit Mund und Hand gemacht
habe, spricht Wolodja feierlich und gestelzt die Worte: »Komm laß
uns schlafen gehen.« Aber Wolodja bleibt, der Oberkörper ist nackt, vor einem
roten Fahnentuch stehen. Daran schließt das Goetze-Gedicht über den
»sexuellen Knast« an, womit sie freilich ihren Exgatten, den Prokuristen
bei der Deutschen Bank meint. - Wassja kommt zur Einsicht: »Etwas stimmt
zwischen uns nicht.« - Helga Goetze berichtet vom Chef, der 1939 wegen eines homosexuellen
Akts ein Jahr Zuchthaus bekommen hat. - Im Wassilissa-Film steht der Mond am
dunkelblauen Himmel, der Schattenriß eines Paares im Vordergrund, Jacob
Lichtmans Geige schluchzt. - Helga Goetze berichtet von den Erfahrungen, zu
denen ihr die Kontaktanzeigen in den St. Pauli-Nachrichten verholfen haben.
»Ficken ist zack, zack, zack, zack oder aber ahh, ahh, ahh, ahh! Wenn
wir das gut können, dann ist das das gleiche wie Vögeln, aber mit
Information.« - Wolodja beglotzt in der NEP-Bar die große Kleinkünstlerin
Nina Konstantinowa (Bettina Sukroff). - Helga Goetze sagt das Gedicht auf, das
sie der Frau des Ortsamtsleiters gewidmet hat, von der sie beim Schulkonzert
beglotzt worden war: »Frau Nachbarin, was schauen Sie: ich sitze brav
und stille / und links ein Mann und rechts ein Mann / das ist so frech mein
Wille/... / Das Auge Blut, die Lippe Blut und Blut aus beiden Ohren / Das wärmt
so schön, sieht lustig aus/... « - Wassilissa hat schon ihre rote
Maske aufgesetzt, schlitzt den ungetreuen Geliebten auf und zerhackt ihn, daß
das warme rote Blut die schöne Ausstattung (Uli Bergfelder) besudelt. -
Dann bekommen beide noch das Schlußwort: die Kollontai und die Goetze.
Im Vergleich zur ersten Fassung
ist der Filmanteil von 92 auf 35 Minuten gekürzt. Es fehlen Sequenzen wie
die Abfahrt vom Bahnhof Spandau und der Arbeiter/Betoncombo-Auftritt in der
Direktorsvilla sowie einige Dokumentarfilmeinschübe und die RED LOVE-Szenen. Helga Goetze dominiert
nicht nur der Zeit nach (50 Minuten Video), sie nimmt auch die blassen Filmfiguren
des WASSILISSA-Teils ein. Die 2. Fassung ist ein Helga Goetze-Film.
Praunheims Aufmerksamkeit war
von der Selbstdarstellerin Goetze im August 1973 erregt worden, als sie - zusammen
mit Volker Elis Pilgrim - in einer Talkshow des NDR ihren sensationellen Auftritt
hatte. Vor hundert Fragestellern wurde zunächst ein 20-Minuten-Film über
die Spätemanzipation der kinderreichen Mutter vorgeführt (Hausfrau sucht Kontakte). Neben ihr saßen Sachverständige,
eine Staatsanwältin, ein Nervenarzt. Und Helga Goetze beherrschte die Szene,
denn neben ihr saß Volker Pilgrim: »Ich hatte in der Nacht mit ihm
Liebe gemacht - und saß also wie auf einer Wolke« (Goetze). Es kam
zum Eklat; Werner Höfer forderte die fristlose Entlassung der Gesprächsleiterin
(Lisa Krämer).
1980/81 nahm Praunheim von Helga
Goetze in deren kreuzberger Wohnung ein dreistündiges Halbzoll-Videotape
auf, noch ohne zu wissen, was er mit dem Material anfangen würde. Die drei
Stunden wurden ohne Vorbesprechung und ohne Unterbrechung gedreht. Hinterher
fühlte Helga Goetze sich getäuscht: der Interviewer wollte sie nicht
ficken. Er speiste sie mit einem Honorar ab und kam sich spießig und konventionell
vor.
Den strahlendschönen ROTE
LIEBE-Rest (Mike Kuchars Hollywoodqualität) mit dem schmutzigen Videomaterial
zu verschränken - das erwies sich als Geniestreich. Es ist, als ob die
Materialien sich gegenseitig fröhlich befruchten. Im Videoteil schwärmt
die Goetze vom pickligen Christoph, der eine schöne schwingende Art hatte;
sie bewegt ihre Hände im Fickrhythmus, die Videokamera tut es ihr nach.
Der Schnitt, der diese Szene in den WASSILISSA-Film einbettet, nimmt den Rhythmus
auf. Der Film selbst ist des pickligen Christoph Schwingung geworden.
Das Schnittkontrastprogramm produziert
Neues, das in den Einzelprogrammen beileibe nicht angelegt war. Helga Goetze
wirkt wie eine Antwort, allerdings eine falsche, auf die Sowjetfrau, die der
Kollontai, realistisch genug, vorschwebte. NatürIich läßt sich
das auch umdrehen, nämlich daß die Sowjetfrau das Falsche war, dem
die Kollontai nachlief. Jedenfalls ist ein aktueller wie historischer Bezug
in die Fragestellung gekommen. Es herrscht wechselseitiger Verkehr.
Dieser Verkehr ermöglicht
einige Vergleiche. Dabei schneidet Helga Goetze gut ab, weil sie als Betroffene
und (Sex-)Kämpferin nicht nur über etwas spricht, sondern sich gleichzeitig
darstellt. Sprache und Tat werden gestisch eins und bringen das zusammen, was
dem zickigen und unsinnlichen Paar Wassilissa/Wolodja offensichtlich fehlt.
Neben der Goetze verschwindet sogar Annette Humpes »Rote Liebe«-Song
in der Beliebigkeit einer Popsendung. Im Kontrast dieses Films werden auch emotionale
Defizite der allerneuesten Deutschen Welle deutlich.
Das Manifest, das sonst den Schluß
der Praunheim-Filme auszeichnet, ist in ROTE LIEBE, 2. FASSUNG in den Kontraschnitt
vorverlegt. Dessen demonstrativer Charakter ergibt sich aus den inhaltlich gemeinten
Anschlüssen. Die 2. Fassung der ROTEN LIEBE ist ein Lehrfilm: über
die Panzer, die unsere (sexuellen) Wünsche und Gefühle einschließen;
über die Unmöglichkeit, ohne Ausbruch aus dem Gefühlsknast institutionell
irgend etwas dauerhaft zu verändern, vom Bolschewismus in New York von
1980, vom sowjetischen Futurismus bis zur Neuen Deutschen Welle; über die
Möglichkeit, privat, individuell, aber vor Kameras und Publikum den Ausbruch
zu wagen. Beschädigungen sind, das lehrt der Film, in Kauf zu nehmen, sei es der
Zustand des Videomaterials, sei es der (entsetzliche) Zustand des Goetze-Gebisses.
ROTE LIEBE, 2. FASSUNG ist ein Aufklärungsfilm, getragen von Praunheims
unerschütterlichern Glauben an die Systemveränderung. Er ist ein quer
dastehender Film - gegen den Strom der Filme, die sich mit Gewalt und Verderben
befassen und die den Optimismus, den Glauben an Liebe und Leben der praunheimschen
Art längst verloren haben.
Praunheim selbst will diesen singulären
Mutmachereffekt seines Aufklärungs- und Lehrfilms erst während der
Montagearbeiten erkannt haben. »Ich erkannte, wie spießig ich mich
mit meiner Sexualität eingerichtet hatte, wie wenig Perspektiven ich persönlich
sah, für eine befreite Sexualität einzutreten. Ich hatte die allgemeine
Resignation um mich herum akzeptiert. Die 68er Generation war zu den konventionellsten
Lebensformen zurückgekehrt. Wohngemeinschaften sind ohne Anspruch geworden.
Das Patriarchat triumphiert auch bei den Hausbesetzern. Zweierbeziehungen sind
mit allen üblichen Konflikten der einzige Ausdruck der Zeit, Kinder und
Jugendliche sexuell so verklemmt wie immer. Das Rollenspiel funktioniert perfekt,
trotz aller Scheinliberalisierung. Helga mit ihren revolutionären Ideen
scheint eine Verrückte. Ich erkannte, daß wir die Verrückten,
Festgefahrenen, Neurotischen sind und Helga eine der wenigen klaren, intelligenten,
konstruktiven Menschen ist. ... In einer anarchistischen Regierung wäre
Helga Goetze für mich die einzig adäquate Gesundheitsministerin. >Ficken
für den Frieden< könnte ihr und unser Wahlspruch sein.«
Neben der Ministerin Goetze machten
die Verklemmungen von Wassilissa und Wolodja, den Protagonisten der Ministerin
Kollontai, plötzlich Sinn. Die 2. Fassung der ROTEN LIEBE wurde ein Erfolg.
Sie lief im Februar 1982 auf dem Internationalen Forum des Jungen Films in Berlin.
Der Film wurde sogleich zum Filmfestival nach Los Angeles eingeladen. Selbstredend
ging es der Kritik in erster Linie um die wahre Hauptdarstellerin: Helga Goetze.
Sie erfuhr in einigen Fällen deutliche Ablehnung. Die Neue Zürcher
Zeitung diagnostizierte eine »extremste Form von Altersradikalismus«
(NZZ, 27.Juli 1982). Wolf Donner war
nicht zu bekehren: »Ich glaube dieser Frau ihre Geilheit gar nicht.«(tip Nr.4 1982). Für Gertrud
Koch war die ROTE LIEBE, 2. FASSUNG »weniger befreiend als stalinistisch«;
ein neuer Dogmatismus stehe ins Haus.(FR; 23. April 1982) Und Lotti Huber, eine der Darstellerinnen von
UNSERE LEICHEN LEBEN NOCH, qualifizierte die Goetze als »armes Schwein«
(Tagesanzeiger (Zürich),
23.Juli 1982).
Wenn das, was mal links war, zum
spießigen New Wave-Kitsch und dekorativen Wandschmuck verkommt, dann wirft
Wolf Donner das überraschenderweise Rosa von Praunheim vor. Der Grund dieses
Mißverständnisses: er unterstellt in seiner professionellen Kritik,
Praunheim habe die Absicht gehabt, professionell »mit Schauspielern zu
arbeiten«. Diesem Dilemma der konventionellen Kritik gab Werner Mathes
in derselben tip-Nummer Contra: »Als Stil
und Absicht hat er [Praunheim] nie sein Unvermögen kaschiert, mit Schauspielern
umzugehen. Allenfalls die Kritik hat ihre nie eingelösten Erwartungen damit
kaschiert, daß sie Praunheim Absicht unterstellte ... Mit ROTE LIEBE ist
der Filmemacher, unbeholfen wie er ist, gleich in mehrere Fettnäpfchen
gestolpert. Eins davon ist das ranzige der Helga Goetze, ein anderes ist tiefer:
Was passiert eigentlich hinter revolutionärer Fassade mit Eifersucht, Haß,
Aggression und Liebe? Der Kulturbetrieb jedenfalls weiß das nicht.«
Im übrigen fand der Film die
schmeichelhaftesten Urteile. Er wurde als »Lehr-Beispiel« (Stuttgarter Zeitung, 30. April
1982) gerühmt, »im besten Sinne ein Kunstwerk«(Spandauer Volksblatt, 23. Februar1982).
Praunheims »menschlicher Sozialismus« führte für den Tagesspiegel
zur Forderung: »Praunheims starke Frauen an die gesellschaftliche Front!«(Tagesspiegel, 20. Februar 1982).
Die Tageszeitung bejubelte »Helga Goetze Superstar« und sah im Film
die »gesprochene Geschichte einer Generation von Frauen, der meine Mutter
angehört« (taz,
25. Februar 1982). Für Peter Buchka vermischten sich im Erscheinungsbild
der Helga Goetze »Sprache und Tat zur sexualrevolutionären Sprechweise«,
denn der »berühmte erste Satz aus Roland Barthes Am
Nullpunkt der Literatur paßt wie die Faust
auf den Mund der Helga Goetze«(SZ, 17./18.4.1982). »Daß Rosa von Praunheim auf den
>aufklärerischen<, erzieherischen, befreienden Impetus seiner Kunst,
seiner Filme setzt, gibt ihnen eine ansteckende Fröhlichkeit, einen wirklich
mitreißenden Optimismus«: Hellmuth Karasek (Der
Spiegel Nr. 5, 1982)
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1984, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
ROTE LIEBE. 2. Fassung
BRD 1980/81
Regie, Drehbuch: Rosa von Praunheim, nach Motiven des Romans Wassilissa
Malygina von Alexandra Kollontai. - Kamera: Mike Kuchar, Rosa von Praunheim,
Michael Oblowitz, Wolfgang Pilgrim, Bernhard Stampfer. - Schnitt: Rosa von Praunheim.
- Ton: Michael Schäfer (i.e. Mike Shephard). - Musik: Ideal, Din A Testbild,
Jacob Lichtman. - Songs: »Rote Liebe«, »Rote Rolls Royce«,
gespielt von Ideal. - Ausstattung: Uli Bergfelder. - Objekte: Frietz Mikesch,
Peter Fahrin. - Regie-Assistenz: Anke Rixa Hansen, Dorothee von Meding, Ulrike
Maares, Bett Schmidt. - Darsteller: Sascha Hammer (Wassilissa), Mark Eins (Wolodja),
Helga Goetze (sie selbst), Olga Demetriescu (Alexandra Kollontai), Rose Hammer
(Haushälterin). Bettina Sukroff (Nina Konstantinowna), Barbara Gould (Frau
in der Kommune), Tu Tu (Lisa), Sarah Pfeiffer (Gruscha), Eddie Constantine (Pawel
Pawlowitsch). - Produktion: Rosa von Praunheim. - Herstellungsleitung: Renee
Gundelach. - Produktionsleitung: Bernhard Stampfer, Birgit Lelek. - Drehort:
Berlin, Frankfurt. - Produktions-Kosten: ca. 1 000 000 DM. - Format: 16mm, Farbe
(Kodak); Video in den Goetze-Sequenzen. – Original-Länge: 86 min. - Uraufführung:
20.2.1982, Internationales Forum des jungen Films, Berlin. - Kinostart: 21.2.1982.
- Verleih: Basis (16 mm).
Umgeschnittene, gekürzte und um die Interview-Passagen mit
Helga Goetze ergänzte 2. Fassung des Films.
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