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Die
rote Wüste
Antonionis vierter Film mit Monica
Vitti nimmt Themen und Motive früherer Filme auf, radikalisiert sie aber
in neuen Formen. IL DESERTO ROSSO (DIE ROTE WÜSTE) handelt von einer Frau,
die empfindlich auf die Unverträglichkeit der äußeren Wirklichkeit
reagiert. Giuliana (Monica Vitti) hat Angst, verhält sich irrational und
leidet unter Wahrnehmungsstörungen. Ihr Zustand ist direktes Thema des
Films, und sie selbst spricht darüber in einer für Antonioni-Filme
neuen Sprache, - reflektierend und zugleich in ihrem Zustand befangen. Anders
als in den Filmen der vorausgegangenen Trilogie erlebt sie die abreißenden
Verbindungen zwischen ihr und der Welt der Männer als Realitätsverlust
und physisches Leiden. Ihre Hysterie macht die Risse in der Wirklichkeit sichtbar.
IL DESERTO ROSSO zeigt Norditalien
nicht mehr als Landschaft wie in IL GRIDO und einigen Momenten von CRONACA DI UN AMORE, wo sich die Veränderung der Lebensformen in der Vereinzelung
der Dinge und ästhetischen Signale des industriellen Fortschritts ankündigte,
sichtbar dem Bewußtsein entzog, aber indirekt die Gefühlsgeschichten
bestimmte. IL DESERTO ROSSO zeigt Rohre, Tanks und Schlote von Erdölraffinerien
in der Umgebung von Ravenna, Frachter im neugebauten Meerhafen der Industrie-Zone,
Tanker auf den Kanälen in der Ebene und Öl-Lachen, schwefelgelben
Rauch und schwelende Halden mit Industrieabfällen.
Die Gegensätze signalisieren
den Zerfall der Wirklichkeit alarmierend: eine Gasse in Ravenna ist nur noch
grau-vermodert und menschenleer, in die Reste von Natur ist die Technik eingedrungen
und setzt in der Leblosigkeit und Winterstarre ihre Dynamik durch. Auf einer
Wiese wird an der Metallkonstruktion einer Weltraum-Antenne gearbeitet; der
Wind in den hohen Trägern, die ein riesiges, zum Himmel sich öffnendes
Rund beschreiben, macht Geräusche, unter denen die menschlichen Stimmen
flach klingen. Die Tanker schieben sich wie schwarze Kolosse durch die Landschaft,
ragen neben schmalen Kanaldämmen hoch auf, kreuzen auf dem Meer vor Giulianas
Haus. In den niedrigen Fenster-Rechtecken ihrer modernen Wohnung erscheinen
die Schiffe fast wie eine Rückprojektionsschleife, die indirekt die Dynamik
des Privatlebens und der inneren Ereignisse definiert.
IL DESERTO ROSSO beschreibt Giulianas
Überreizung und Leidensdruck als physisches Phänomen, macht die subjektive
Sichtweise zur objektiven Erscheinung der Realität und überträgt
innere Prozesse in die äußere Struktur seiner Darstellungsmittel.
In der Auswahl der Motive, vor allem aber in der experimentellen Farbdramaturgie
seines ersten Farbfilms arbeitet Antonioni Valenzen heraus, die Giulianas Hysterie
als sensibles Gespür für die Krankheit der Wirklichkeit beschreiben,
gleichzeitig unmittelbar emotionalisieren und eine ambivalente Anziehungskraft
auf die Sinne ausüben. Giuliana will die Wände ihres Ladens blau und
die Decke grün streichen, weil dies kühle Farben seien, die die Dinge
nicht besonders stören. Aber sie weiß nicht, was sie verkaufen soll.
Dieser ästhetische Zugang zur Realität wird irritiert, wenn sie glaubt,
Farben nicht mehr richtig wahrnehmen zu können. Vor dem Laden sieht sie
einen Obstverkäufer, seine Waren und die Straße in eisigem Grau.
Die Umrisse und Raumdimensionen der Dinge verschwimmen manchmal in ihrem kurzsichtigen
Blick (mit solchen Bildern von Fabrikanlagen setzt der Film ein), die Farben
zerfallen in pure Komplemente - Weichheit suggerierende Töne sind ausgemerzt,
die Mischungen funktionieren nicht mehr -, ölig oder metallisch glänzende
Oberflächen reflektieren hart.
Zwei kontrastierende Musiken assoziieren
die Spaltung in Giuliana: elektronische Tonsignale übertragen physisch
direkt die Dauergeräusche einer vollautomatischen Chemie-Anlage (Musik:
Carlo Savina) in den Ausdruck innerer Panik, eine arkadische Melodie - gesungen
von einer weichen Sopranstimme - begleitet Giulianas Märchenträume
und mischt sich unter die elektronische Musik (Giovanni Fusco, Gesang: Cecilia
Fusco).
Die Fabel von IL DESERTO ROSSO
beschränkt sich auf wenige Ereignisse in Giulianas Alltag; von Mal zu Mal
steigert sich ihre Krise. Die Zeitdramaturgie definiert die Abläufe nach
ihrem subjektiven Gewicht, die Montage ist elliptisch.
Giuliana ist verheiratet mit Ugo
(Carlo Chionetti), einem karrierebewußten Ingenieur. Sie hat einen vierjährigen
Sohn (Valerio Bartoleschi) und durchlebt eine kurze, von ihrem Trauma belastete
Liebesgeschichte mit Corrado (Richard Harris), einem Freund ihres Mannes.
Ugo behandelt Giuliana als Kranke,
sachlich, disziplinierend, auf Normalität bedacht. Er beruhigt sie nach
einem Alptraum, ohne auf den Traum einzugehen. Corrado dagegen rekonstruiert
aus den Gesprächen Giulianas wirkliche Vorgeschichte: sie hatte keinen
Unfall mit dem Auto, sondern versuchte, sich zu töten, und schwieg darüber,
um Ugo nicht zu beunruhigen. Der glaubte sie gut versorgt in der Klinik und
wollte ihretwegen seine Geschäftsreise nicht abbrechen. Ugo fördert
Valerios Beschäftigung mit technischem Spielzeug, - wenn er dem Kind einen
Kreisel vorführt, wirkt er gelöster als in den Szenen mit Giuliana.
Das Ding und sein funktioneller Effekt bringen ihn zum Lächeln, Giulianas
Blicke beantwortet er ohne Sensibilität, - ihre erotischen Gesten gehen
ins Leere. Ugo lebt Beruf und Ehe emotionslos. Corrados Persönlichkeit
ist Giuliana in einigen Zügen näher. Sein Typ unterscheidet sich plastisch
von Carlo Chionetti, der Ugos Starre gemessen asketisch umreißt. (Chionetti
ist Laie, ein Anwalt, den Antonioni präzise besetzte.) Richard Harris'
raumgreifender Gang, als müsse er Anlauf nehmen gegen unsichtbare Kräfte,
seine wie von einer Last gesenkte Schulter und eine weichere Physiognomie assoziieren
unbestimmte Brechungen: Harris wirkt, als suche er ein Profil für Corrado
und könne mit den romantischen Zügen der Figur wenig anfangen.
Corrado beschreibt Giuliana in
einer langen Eloge die allgemeine ethische und politische Orientierungslosigkeit.
Er kann sich weder der Linken noch der Rechten zuordnen und folgt seinem Verantwortungsgefühl.
Er ist auf der Flucht vor konventionellen Verhältnissen und will in Südamerika
ein Unternehmen gründen. Giuliana begleitet ihn auf der Suche nach Arbeitern
und Transportverbindungen in der Umgebung von Ravenna. Ihre zweckfreie Aufmerksamkeit
für die poetischen Schiffspassagen in der Landschaft bringt ihn auf die
Idee, seine künftigen Produkte direkt bis zu den Abnehmern in den umliegenden
Raffinerien zu verschiffen. Giuliana schaut: sie nimmt die Dinge nicht funktional
wahr, sie unterwirft nicht; die Männer dagegen besetzen mit Blicken und
bleiben doch unbeteiligt: vor dem Öl-Schlamm in der Nähe von Ugos
Angelhütte erschrickt sie, während die Männer das Phänomen
knapp benennen (»Dreck«) und das Thema erledigt haben. Corrados
Mobilität ist Giuliana fremd, sie kann sich eine Veränderung wie Fortziehen
oder Auswandern nicht vorstellen: sie würde jeden Gegenstand aus der alten
Umgebung mitnehmen wollen, ihr ganzes Leben. Sie kann sich nicht entschließen,
ihre Familie für Corrado zu verlassen. Ihre einzige Nacht mit ihm ist eine
panisch verzweifelte Einlassung, eine Reaktion auf ein Schockerlebnis mit dem
Kind.
IL DESERTO ROSSO beschreibt Giulianas
Hysterie als die einzige Sprache ihrer Subjektivität, - sie spürt
die zerrissene Wirklichkeit am eigenen Körper und in dem Lebensbereich,
der ihr zugänglich ist: in der Familie, als Ehefrau und Mutter erlebt sie
die Innenseite der männlichen Welt. Deren Verschlossenheit und operationalisierende
Logik bedrohen und verletzen ihre Sinne und Gefühle und nötigen die
auf Stabilität angewiesenen Seiten in ihr zu Assimilationsbemühungen
an das fremde technokratische Bewußtsein. Der Film bricht radikal mit
Normvorstellungen, - die Familie ist keine residuale Gegenwelt, in der sich
das Bewußtsein gegen die Brüche in der Realität abschottet.
Indem Giuliana ihre erlernte Rolle als Mutter und Ehefrau einzuhalten versucht,
lebt sie gerade gegen ihre Subjektivität. Am Ende des Films ist sie nicht
mehr nur Opfer der schmutzigen Umwelt: sie macht sich die Rationalisierungen
zu eigen und ignoriert ihre subjektiven Ängste. Man sieht sie zu
Beginn und am Ende des Films mit dem Kind in der giftgrün-grau verfärbten
Umgebung der Fabriken laufen. Das Kind stochert in Schmutz-Lachen und Schlacke-Haufen
herum, fragt nach der Herkunft des Dampfausstoßes aus den Ventilen, die
aus der Erde zu wachsen scheinen und auf unsichtbare Rohrsysteme hinweisen.
- Giuliana ist in ihrer ersten Sequenz wie gehetzt, - ihr grüner Mantel
zu roten Haaren signalisiert die Spannung, in der sie elementar Ausgleich sucht
für den Mangel in der Industrie-Wüste: sie nimmt einem Arbeiter das
Frühstücksbrot ab und schlingt es gierig hinunter wie eine kostbare
Beute, bis ihr Blick auf die qualmenden Müllhalden fällt und sie sich
abwendet. Am Ende des Films spricht sie eine andere Sprache: sie erklärt
dem gleichmütig interessierten Kind, die gelbe Farbe der Rauchfahne über
der Fabrik bedeute Gift. Das Kind fragt, ob die Vögel sterben, wenn sie
hineinfliegen, und Giuliana antwortet ruhig, >die wissen das schon und fliegen
nicht mehr hinein.<
IL DESERTO ROSSO zeigt die ökologische
Wüste der Industrie-Anlagen, Schmutz und Gift, und beschreibt die Assimilation
an diese Realität ambivalent als ästhetisches Ereignis. Antonioni
ist fasziniert von der hermetischen Schönheit abstrakter Kompositionen.
Er bindet die Figuren ein in Farb- und Formenraster, zeigt sie klein und am
Rand von Bildkompositionen, in denen die Rohre, Zylinder und Stahlträger
dominieren. Diese haben im Blickwinkel des Films ihren Sinn völlig in sich
aufgesogen, geben ihre Funktion nicht dem wahrnehmenden Subjekt preis, sondern
erfüllen sie in einem fremdbleibenden Selbstlauf mechanischer Schlüssigkeit.
Ugo und Corrado werden im Gespräch über Giuliana und über Corrados
Arbeitsmoral unterbrochen, wenn lautstark Dampf aus einem überdimensionalen
roten Kessel schießt, ihre Stimmen verschluckt und ihre Aufmerksamkeit
absorbiert. In der Sequenz zuvor trifft Giuliana auf einen Zug streikender Arbeiter
in Regenhäuten, ein Lautsprecherwagen gibt eine unzusammenhängende
akustische Mitteilung, alles bleibt äußerliches Alarmsignal, das
sie nicht wahrnimmt, weil ihr Hunger sie vom Geschehen ausschließt.
Corrado sucht Arbeiter, aber findet
bestätigt, was Ugo ihm zu Anfang andeutet: es gibt zuwenige in dieser Gegend,
und ihr Interesse an Arbeit ist immer durchkreuzt von den >alten< Bedürfnissen,
dem Lebenszusammenhang in der Familie. Eine Arbeiterfrau, die sich weigert,
ihrem Mann von Corrados Angebot zu berichten, weil sie nicht aus Ravenna fortziehen
will - aus ihrer schon mit modern funktionalem Design voller Plastikfarbigkeit
eingerichteten Wohnung - korrespondiert mit Giulianas gespaltener Gefühlswelt:
in dieser Wohnung spricht Giuliana von sich und erklärt so den Zusammenhang
der Wahrnehmung der Frauen, die in der neuen Ästhetik das Alte zu bewahren
suchen. Später versammelt Corrado interessierte Arbeiter in einer Werkhalle,
erklärt vor einer Karte von Südamerika die Arbeitsbedingungen, wird
aber von den Zuhörern immer wieder unterbrochen durch Fragen nach den Aussichten,
dort mit der Familie zu leben oder Kontakt mit zuhause aufzunehmen. Corrados
Blick schweift ab, über ihre Köpfe hinweg auf die weißen Wände,
schwarzen Balken und das Stroh am Boden, über die gelagerten bauchigen
Weinflaschen, als ob die Situation in einer Farben- und Linienstruktur in Blau-
und Grüntönen aus seinem Bewußtsein schwände. Er übernimmt
für Momente die phantasmagorische ästhetische Wahrnehmung Giulianas.
Dann sucht er verlegen und schüchtern Giuliana in ihrem Laden auf, beobachtet
ihre krisenhaften Wahrnehmungsstörungen auf der Straße beim Abschied
und beantwortet ihre zunehmende Offenheit bei den gemeinsamen Unternehmungen
in der Umgebung mit Interesse an ihrer Vorgeschichte, ihrer Befindlichkeit,
aber auch mit voyeuristischen Blicken und Versuchen, sich vor ihr zu legitimieren,
seinen Standpunkt zu erklären. Seine Sichtweise ist nur in Momenten kongruent
mit Giulianas sinnlicher Erfahrung.
IL DESERTO ROSSO beschreibt auch
den Schlüssel zu Giulianas Krise, die Spaltung der Emotionalität zwischen
der männlichen Welt und ihrer eigenen, als ästhetisches Ereignis in
der Innen-Sphäre der Familie. Sie wacht in der Nacht auf aus einem Alptraum,
folgt einem unheimlichen mechanischen Geräusch und entdeckt im Kinderzimmer
einen Roboter, der sich schnarrend zwischen der Wand und dem friedlich schlafenden
Valerio hin- und herbewegt.
Giuliana hat panische Angst, die
Treppe hinunterzugehen, hält sich verkrampft zwischen den blauen Linien
der Treppeneinfassung, klammert sich an Ugo, erzählt ihm, sie sei im Traum
im Treibsand versunken. Die abstrakte Linienführung des Schauplatzes und
das kalte Weiß der Nachtkleidung von beiden sind sinnfällig für
die äußere Struktur, gegen die sich die bodenlose Angstphantasie
auflehnt.
In einer langen Sequenz äußert
sich Erotik und Sexualität in den Konventionen voyeuristischer Blicke und
anzüglich-offener Sprache. Giulianas naive Sinnlichkeit bleibt unverstanden.
Corrado, Ugo und Giuliana treffen sich mit Freunden in einer Angler-Baracke
am Kanal. Max und Linda (Aldo Grotti und Xenia Valderi) essen dort mit den dreien
und Emilia (Rita Renoir). In der engen, grellrot bemalten Schlafkombüse,
einem Bretterverschlag im Raum, erzählt der spießige Max von exotischen
Aphrodisiaka und verbirgt darin Begierde und Angst gegenüber der freizügig
direkten Emilia, Linda schaut gleichmütig zu und hält für richtig
und wahr, was ihr Mann zum besten gibt. Giuliana nimmt das anzügliche Spiel
auf, sie ißt ein Wachtelei und spricht ihre Lust auf Ugo direkt aus. Er weist
sie trocken ab. Corrado hält sich mit voyeuristischen Blickfängen
auf Giuliana im Hintergrund. Emilia kennt ihre Wirkung, Ugo und Max streichen
über ihre Beine, sie fährt sich mit der Hand durchs Haar, kehrt ihre
Attraktivität heraus, aber spricht dann kalt und desillusioniert über
ihre Liebesverhältnisse (»Ich kann mit keinem Mann schlafen, der
weniger verdient als ich.«) Die Gruppe bricht in zynisches Gelächter
aus über einen Arbeiter aus Max' Betrieb und seine neue Braut, die die
Baracke für ein Treffen nutzen wollen und von der Gruppe bespöttelt
werden als lebendiger Beweis für die Potenz der Unterklassen. Der Ausflug
endet in einem psychotischen Angstausbruch. Im Nebel schiebt sich ein gewaltiger
Tanker vor die Baracke und ankert im Kanal. Ein Fahnensignal und die Ankunft
von Ambulanzen bringen unvermittelt die Angst vor ansteckenden Krankheiten an
die Oberfläche. Die Frauen drängen zum Aufbruch, die Männer geben
sich ungerührt. Giuliana läuft davon, verbietet Ugo hysterisch, ihre
zurückgelassene Tasche zu holen, sieht die anderen nur noch wie starre
Schemen einzeln im Nebel stehen, fährt überstürzt davon und bringt
das Auto am Ende einer Mole gerade noch zum Stehen. Kraftlos wiederholt sie,
daß sie das Schild im Nebel nicht gesehen habe.
Das Kind beutet in einem raffinierten
Schauspiel Giulianas Krise aus. Valerio ist der stabile >neue Mensch<,
der die Verschiebung im Familiengefüge, Ugos Abwesenheit wegen einer Geschäftsreise,
und die umso größere Labilität der Mutter nutzt. Er liegt bewegungslos
im Bett, reagiert sogar nicht mehr auf Giulianas zaghaftes Erproben seiner Kniereflexe.
Alle ihre Krankheitsängste verdichten sich plötzlich in den scheinbaren
Anzeichen von Kinderlähmung. Giuliana bannt ihre Panik und bedient zugleich
das Bedürfnis des Jungen auf fremde Attraktionen: sie erzählt ihm
ein Märchen. Es handelt von einem Mädchen, das - eins mit der Sonne,
dem Wasser, den rosa Felsen und den Tieren - am Strand lebt, einem weißen
Segelschiff begegnet, das geheimnisvoll am Horizont verschwindet, und sich verzaubern
läßt von einer Sirenen-Melodie, die aus den Steinen singt. Weibliche
Gegenwelt der Wunschphantasie; eine Sequenz in reinen Farben: gelb, blau, rot.
Als Giuliana entdeckt, daß
der Junge aufgestanden ist und die Krankheit simuliert hatte, flüchtet
sie zu Corrado, der ihren panischen Zustand als erotisches Signal auffaßt,
- die aufgelösten Haare, die nervösen Bewegungen, mit denen sie über
ihren Körper streicht, die Beine aneinanderreibt, die Jacke auszieht. Giuliana
wehrt sich gegen seine heftige Umarmung, weicht aus und kommt zu ihm zurück.
Die vergewaltigende Aggression wechselt in eine Liebesszene über, in der
sich ihre Verkrampfung nicht löst. Sie wacht neben Corrado auf und sieht
für einen Moment lang das Hotelzimmer als Vision eines leeren, in durchdringendes
Rosa getauchten Raums. Sie verläßt Corrado und erklärt ihm,
daß eine Affäre zwischen ihnen unmöglich sei.
Giuliana irrt durch den nachtschwarzen
Hafen zwischen matt glänzenden Schiffsrümpfen hindurch, ihr Gang ist
ein hohles Geräusch in dem Metall-Labyrinth. Ein Matrose spricht sie in
türkischer Sprache an, redet auf sie ein, sie entschuldigt und erklärt
sich in abgerissenen Sätzen. Zwei getrennte Redeweisen überlagern
sich beziehungslos, und in dieser Begegnung - einem äußeren Bild
von Giulianas Traum, die Beziehung zur Wirklichkeit endgültig zu verlieren
- findet sie den klarsten Ausdruck für ihre Erfahrung. Sie kann sich nicht
entschließen, ihre Familie zu verlassen, die Trennung ist das, wovor sie
sich am meisten fürchtet, - die Trennung der Körper, deren verrückten
Schmerz sie mit dem Satz beschreibt: »Wenn Sie mich hier stechen, tut
es Ihnen nicht weh.«
Monica Vitti spielt Giuliana als
eine Frau, die immer eine Verbindung zur Realität sucht. Nie wird ihre
Isolation als Resultat einer Krankheit festgelegt. Die Hysterie äußert
sich fast nur im Spiel ihrer Hände und ihrer Physiognomie. In den Krisenmomenten
kaut sie an den Fingern, spreizt die Hände und hält sie eng am Körper,
als müsse sie die physische Verbindung ertasten, und spült damit -
wie unbewußt - die bedrohlich abgespaltene erotische Kraft sichtbar an
die Oberfläche.
Dieser vierte Film Antonionis
mit Monica Vitti, - der letzte vor ihrer Trennung (erst 16 Jahre später
fanden sie zu einer neuen, völlig anderen Zusammenarbeit in IL MISTERO
Dl OBERWALD wieder zusammen) -, beschreibt die Spaltung zwischen männlicher
und weiblicher Wahrnehmung auch als Dilemma von Vittis Darstellung und Antonionis
Farbdramaturgie, als Widerspruch zwischen psychologischer Verarbeitung und physiologischer
Reiz-Stimulation. Antonioni betont in seinem Gespräch mit Jean-Luc Godard zu IL DESERTO ROSSO, Giulianas Krankheit sei ein Problem der
Anpassung und erläutert die Konzeption wie ein Techniker des Augensinns:
»Sie wissen, daß es eine Psycho-Physiologie der Farbe gibt; man
hat Studien und Experimente darüber gemacht. Wir haben die Fabrik, die
man im Film sieht, innen rot gestrichen; vierzehn Tage später gab es Schlägereien
unter den Arbeitern. Ein bleiches Grün wurde darübergestrichen und
alle hatten ihren Frieden. Die Augen der Arbeiter müssen sich entspannen.«
Antonioni arbeitete die Farbwirkungen des Films mit direkten Eingriffen auf
die vorgefundene Realität der Schauplätze heraus, er ließ z.B.
eine Gasse in Ravenna grün-grau, eine Mauer im Fensterausschnitt einer
Arbeiterwohnung durchdringend rosa anmalen. Er führte seine Experimente
zur Farb-Stilisierung in I TRE VOLTI und BLOW-UP fort.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte.
Die
rote Wüste
IL DESERTO ROSSO / LE DESERT ROUGE
Italien/Frankreich 1963/64
Regie: Michelangelo Antonioni. - Sujet, Buch: Michelangelo Antonioni,
Tonino Guerra. – Kamera<: Carlo Di Palma. – Kamera Führung: Dario Di
Palma. - Schnitt: Eraldo Da Roma. - Ton: Claudio Maielli, Renato Cadueri. - Musik: Giovanni Fusco; Elektronische
Musik: Vittorio Gelmetti; Sängerin: Cecilia Fusco; Musikalische Leitung:
Carlo Savina. - Bauten: Piero Poletto.
- Ausstattung: Sergio Doná. - Kostüme: Gitt Magrini, nach Entwürfen von Battistoni,
De Luca, Zenobi. - Regie-Assistenz:
Gianni Arduini, Flavio Niccolini. - Darsteller: Monica Vitti (Giuliana), Richard
Harris (Corrado Zeller), Carlo Chionetti (Ugo), Xenia Valderi (Linda), Rita
Renoir (Emilia), Lili Rheims (Ehefrau), Aldo Grotti (Max), Valerio Bartoleschi
(Giulianas Sohn), Emanuela Pala Carboni, Bruno Borghi, Beppe Conti, Giulio Cotignoli,
Giovanni Lolli, Hiram Mino Madonia, Giuliano Missirini, Arturo Parmiani, Carla
Ravasi, Ivo Scherpiani, Bruno Scipioni. - Produktion: Film Duemila Cinematografica Federiz, Rom/Francoriz,
Paris. - Produzent: Antonio Cervi,
Angelo Rizzoli. – Produktionsleitung: Ugo Tucci. - Gedreht von Mitte Oktober bis Dezember 1963 in Ravenna
und auf Sardinien. - Format: 35 mm,
Farbe (Technicolor, Eastmancolor). – Original-Länge: 120 min. – Deutsche Länge: 117 min. -
Uraufführung: 7.9.1964, Filmfestival Venedig. – Deutsche
Erstaufführung: 4.12.1964. - TV: 8.3. 1972 (BR III); 23.12. 1972, 12.12.
1981 (S 3); 14.2. 1982 (HR III); 24.10.1983 (ARD). - Verleih: Film-Allianz München (35 mm), Bundesarbeitsgemeinschaft
für Jugendfilmarbeit und Medienerziehung (16 mm).
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