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Rot
und Blau
Mit einem Koffer voller Geld, der Erbschaft ihres
verstorbenen Vaters, kommt Ilke auf der Suche nach ihrer Mutter mit dem Zug
nach Berlin. Der Detektiv Samuel Eisenstein soll der jungen Frau dabei helfen.
Während sie sich in Berlin einrichtet, wird die Mutter rasch und problemlos
gefunden. Barbara Bärenklau ist verheiratet, hat zwei Kinder, wird demnächst
50; ihr Architekturbüro hat schon bessere Zeiten gesehen. Sie ist dabei,
Dinge, die sie an ihre Vergangenheit erinnern, zu vernichten, was man für
etwas exzentrisch halten mag oder aber für ein Indiz der Krise. Die erste
persönliche Begegnung zwischen Mutter und Tochter steht unter keinem guten
Stern: Barbara rutscht aus und bricht sich das Bein, was Ilke nur halb ironisch
als „Strafe Gottes“ empfindet, weil ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert
hat. Barbara wird später darauf bestehen, diese Einschätzung zu teilen.
Ilkes Integration in Barbaras Familie scheint problemlos zu gelingen, zumal
Ilke Barbaras Mann Gregor schon früher begegnet war. Ein weiterer Zufall
sorgt für zusätzlichen „Drive“ in der Gefühlslandschaft: Einige
Gangster haben Wind von Ilkes Reichtum bekommen, Samuel will sie warnen und
trifft auf Barbara, seine verlorene Jugendliebe. War Barbara anfangs bestrebt,
ihre Existenz ganz in der Gegenwart zu verorten, sieht sie diese jetzt unvermittelt
von der Vergangenheit in den Schatten gestellt. Durch Samuels unverhohlene Avancen
und auch durch Barbaras Umgang damit zeigt sich Gregor ebenso verunsichert wie
herausgefordert. Beim Geburtstagsfest auf dem Lande kommt es zum entscheidenden
„Duell“ um Barbara Bärenklau.
Es ist eine einfache Geschichte mit märchenhaften
Zügen, die Rudolf Thome mit „Rot und Blau“, dem ersten Teil seiner neuen
Trilogie „Zeitreisen“, erzählt. Man ahnt das, wenn man hört, dass
Barbara demnächst ihren 50. Geburtstag begehen soll. Gespielt wird Barbara
nämlich von Hannelore Elsner, geboren am 26.7.1942 in Burghausen (Oberbayern).
Das ist natürlich etwas riskant. „Rot und Blau“ handelt von Barbaras Midlife-Crisis
und ihrer daraus erwachsenden Sensibilität für lange schwelende Konflikte.
Als Katalysator fungieren Ilke und ihr Koffer voller Geld. Auch wenn häufig
von Finanzen die Rede ist, spielt die materielle Grundversorgung der Figuren
wie immer bei Thome keine Rolle. Seine Filme sind zwar realitätsgesättigt,
aber keineswegs realistisch im konventionellen Sinne. Hierin liegt ein Risiko
seiner Filme, aber auch ihre Qualität als Kino in einem beinahe altmodisch-emphatischen
Sinne. Fast aufreizend bis zur Selbstparodie wird wieder einmal ein Milieu präsentiert,
das wie selbstverständlich über alle Lebensstil-Insignien der Toskana-Fraktion
verfügt: architektonisch interessante Wohnungen, teure Autos und der modische
Chic des gehobenen Bürgertums. Es gibt tausend Gründe, diesen Film
und sein affig-affektiertes Personal nicht zu mögen. Nur verfehlt ein solches
Missfallen Thomes Filme im entscheidenden Punkt, denn auch „Rot und Blau“ ist
klassisches Kino im Sinne von John Ford oder Howard Hawks. Es braucht nur einige
Minuten dieses souveränen, mit größter Selbstverständlichkeit
derlei abenteuerliche Behauptungen aufstellenden Erzählens, die sorgfältige,
aber unprätentiöse Bildsprache, die liebevolle in der Ausstattung
profilierten, titelgebenden Primärfarben, die wiederum Reminiszenz der
Vorgeschichte von Barbara und Samuel sind, und nicht zuletzt die ganz zarten
Jazz-Klänge von Wolfgang Böhmers Filmmusik, um es sich im Kino bequem
zu machen und sich von Thomes (Erzähl-)Kunst verzaubern zu lassen. Mit
der Lässigkeit und Meisterschaft des klassischen Erzählkinos und zuweilen
auch mit einem Augenzwinkern knüpft Thome seine Fäden: Bereits auf
dem Weg nach Berlin begegnet Ilke „zufällig“ Barbaras Ehemann. Gregor ist
ein Computerfachmann, der seine Mitreisenden gutgelaunt fotografiert und Bilder
der eigenen Familie im Laptop hat. Konstruierter kann eine Exposition kaum sein
– abgeklärter und souveräner wohl aber auch nicht. Man ahnt (und wird
darin bestätigt), dass man hier jenseits der Erzählung über die
Freiheit verfügt, sich in den Räumen umzusehen und den Figuren zuzuhören.
In ihrer Textsammlung zur „Nouvelle Vague“ schrieb Frieda Grafe einen Satz,
der bestens auf Thomes Filme – zumindest seit „Das Mikroskop“ (fd 26 765) –
passt: „Das Fiktive, das wie von selbst sich aus der Realität erhebt, wenn
Wünsche ausgestattet mit allen Anzeichen der Wirklichkeit, sich materialisieren,
das ist Erfindung, wie sie dem Kino ansteht.“
Wie zeigt man, dass Ilke Gefahr droht, was wiederum
Samuel auf den Plan ruft, der bei dieser Gelegenheit Barbara begegnet? Es genügt,
einen jungen Mann auf dem Bürgersteig vor Ilkes Wohnung einige Sekunden
länger als gewöhnlich im Bild erscheinen zu lassen, um diesen Impuls
für den weiteren Handlungsverlauf tragfähig zu gestalten. Diese Freiheit
des Zuschauers funktioniert im Einzelfilm, dessen Handlung in zwei von den weiblichen
Hauptfiguren vorgetragenen Liedern kulminiert, aber auch im Werkzusammenhang,
wo man dem Altern von Thomes „stock company“ (Zischler, Altaras) mit großer
Empathie folgt und in Nuancen reichlich Material für eine Ethnografie des
Inlands bereit gestellt findet. Nicht zuletzt überzeugt einmal mehr Hannelore
Elsner, die sich mit großer Selbstverständlichkeit ins Ensemble fügt
und gerade in Bezug aufs Altern eine mutige Arbeit liefert.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst 25/2003
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Rot
und Blau
Deutschland
2002 - Regie: Rudolf Thome - Darsteller: Hannelore Elsner, Serpil Turhan, Hanns
Zischler, Karl Kranzkowski, Adriana Altaras, Bastian Trost, Joya Thome, Nicolai
Thome , Elisabeth Ebeling, Jan Kleihues, F.J. Krüger, Alexander Malkowsky
- Länge: 112 min. - Start: 15.1.2004
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