zur startseite
zum archiv
Rückkehr
in die Normandie
Für seinen Film "Rückkehr
in die Normandie" hat der erfolgreiche Dokumentarfilmer Nicolas Philibert
("Sein und Haben") den Ort wieder aufgesucht, an dem vor dreißig
Jahren ein Film über den Mörder Pierre Riviere entstand.
Vor ziemlich genau dreißig Jahren
hat der inzwischen als Dokumentarfilmer ("Sein
und Haben") zu Ruhm
gelangte Nicolas Philibert als Regieassistent bei Rene Allios Film "Ich,
Pierre Riviere, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet
habe" mitgewirkt. Dieser Film war ein recht ungewöhnliches Projekt.
Allio verfilmte eine wahre Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, die lange vergessen
war und gewiss auch weiterhin vergessen geblieben wäre, hätte nicht
Michel Foucault, der Philosoph der Archive, sie ausgegraben und in einem eigenen
Buch dargestellt (mehr hier). Pierre Riviere schrieb nach dem Mord an seiner
Familie im Gefängnis einen achtzig Seiten langen Bericht, in dem er die
Tat und seine Gründe darlegte. Dieses Bekenntnis - in dem er mitteilt,
er habe in Gottes Auftrag gehandelt - ist als Dokument bedeutsam genug. Noch
mehr aber interessierte Foucault, dass beim Prozess gegen Riviere erstmals psychiatrische
Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders angefertigt
wurden. (Sie widersprachen sich übrigens diametral.) Riviere wurde für
schuldig befunden, zum Tode verurteilt, daraus wurde durch Begnadigung des Königs
lebenslange Haft. Kurz nach Antritt der Haft erhängte sich Riviere im Gefängnis
von Caen.
Rene Allio, ein Regisseur aus dem Umfeld
der "Cahiers du Cinema", drehte seinen Film in der Normandie, wo sich
im 19. Jahrhundert der Fall zugetragen hatte. Genauer gesagt: rund zwanzig Kilometer
entfernt vom eigentlichen Ort, der sich zu sehr verändert hatte. Allio
wollte vorwiegend mit Laien arbeiten und schickte deshalb seine Regieassistenten,
einer von beiden eben Nicolas Philibert, voraus, der unter den Bauern der Gegend
nach geeigneten Darstellern suchen sollte. Davon erzählt Philibert, der
dreißig Jahre später, Rene Allio ist 1995 gestorben, den Ort in der
Normandie noch einmal aufsucht und die Darstellerinnen und Darsteller von einst
befragt, was der Film für ihr Leben bedeutet hat und noch immer bedeutet.
Das Ergebnis dieser Suche ist nun ein eigener Dokumentarfilm, "Rückkehr
in die Normandie".
Alle denken gerne zurück, an den
Moment, in dem sie Filmstars waren. Für alle - bis auf den Darsteller der
Titelfigur - ging das Leben nach dem Film weiter ganz wie zuvor. Sie haben Fotos,
sie haben Erinnerungen, sie haben ihren Kindern davon erzählt. Und sie
haben das Zeugnis, als Beleg, den Film selbst. Philibert zeigt immer wieder
Ausschnitte aus Allios Film, er erinnert sich an die Schwierigkeiten, das Geld
aufzutreiben damals. Es gibt weder eine gezielte Fragestellung noch eine These;
nur die Suchbewegung, das Interesse am Vergehen der Zeit und dem Weitergehen
des Lebens. Die Suchbewegung kann deshalb in ganz unterschiedliche Richtungen
gehen. Philibert geht zurück zum historischen Fall, rekonstruiert die Entstehung
des Films, aber die Suchbewegung kann ihn auch in die digitale Gegenwart des
Kopierwerks führen, in dem sich noch eine frühe Schnittfassung des
Originals befinden muss. In dieser Schnittfassung findet sich ein Ausschnitt,
der ganz am Ende Philiberts Film noch einmal anders pointiert.
"Rückkehr in die Normandie"
ist in Wahrheit nichts als die Suche selbst, mit Fokuswechseln und Schärfeverlagerungen.
Fest im Blick sind die Menschen, die einmal in ihrem Leben Schauspieler waren.
Fast alle sind sie noch da, älter nun, erzählen aus ihren Leben, von
eigenen Schicksalsschlägen auch. Diesen eigenen Leben öffnet Philibert
den Raum seines Films, nicht zuletzt ihrer Alltagstätigkeit: Man sieht,
pars pro toto, wie Schweine geboren, wie sie getötet werden. Einer aber
fehlt, einer ist nicht mehr da. Es ist der damalige Hauptdarsteller, Claude
Hebert, ein junger Mann aus der Gegend, der mit Rene Allio nach Paris ging,
sich zunächst weiter als Darsteller versuchte und dann doch einen anderen
Weg einschlug. Ihm forschte Philibert nach und mit dieser Suche bekommt der
Film, der eine sehr persönliche Geschichte ist, ohne dass er es darauf
anlegte, ein detektivisches Moment. "Rückkehr in die Normandie"
ist nicht die präzise Erkundung einer verschwindenden Lebensform, wie es
die auf den ersten Blick ähnlichen Filme von Raymond Depardon sind. Er
ist nicht die virtuose Schichtung von Zeiten und Zeichen, die Jose Luis Guerin
in "Innisfree" unternahm, für den nach Jahrzehnten den Drehort
von John Fords Film "The Quiet Man" aufsuchte. Aber er ist eine schöne
Liebeserklärung ans Kino, auf dem Umweg über Menschen, die es nur
einmal wirklich mit ihm zu tun bekommen haben.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
am 25.06.2008 im www.perlentaucher.de
Zu diesem Film gibt’s im
archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Rückkehr
in die Normandie
Frankreich
2007 - Originaltitel: Retour en Normandie - Regie: Nicolas Philibert - Darsteller:
(Mitwirkende) Nicolas Philibert, Nicole Picard, Jacqueline Miller, Norbert Delozier,
Joseph Leportier, Stephane Rogue - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 113 min.
Dt. Start: 26.06.2008
zur startseite
zum archiv