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Rückkehr
in die Normandie
Im Jahr 1973 veröffentlichte der
Philosoph Michel Foucault gemeinsam mit sieben Mitarbeitern ein erstaunliches
Dossier. „Der Fall Rivière“ (dt. 1975) bot auf, was die Archive über
einen 140 Jahre zurückliegenden Mordfall in der Normandie hergaben. Der
Bauer Pierre Rivière hatte 1836 seine Mutter, seine Schwester und seinen
Bruder ermordet, nach seiner Verhaftung ein umfangreiches schriftliches Geständnis
abgelegt, indem er die Beweggründe seiner Tat darlegte. Rivière
war zum Gegenstand der „Psy“-Wissenschaften geworden, wurde zum Tode verurteilt,
begnadigt und beging später im Gefängnis Selbstmord. Die Veröffentlichung
des Dossiers war von Foucault seinerzeit als Provokation der mit der Psyche
des Menschen befassten Wissenschaften gemeint gewesen, verhallte aber weitgehend
ungehört. Als sich 1975/76 René Allio des Stoffs annahm („Ich, Pierre
Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet
habe“), ging es ihm um etwas anderes, das Foucault in einem Interview in den
„cahiers du cinéma“ (Nov. 1976) so umschrieb: „Literatur über Bauern
gibt es viel; aber eine bäuerliche Literatur, eine bäuerliche Ausdrucksweise,
da gibt es nicht viel.“
René Allio und sein Team, wozu
neben Regieassistent Nicolas Philibert die Drehbuchautoren Pascal Bonitzer,
Jean Jourdheuil und Serge Toubiana gehörten, entschieden sich dafür,
ihren Film an den Originalschauplätzen unter Einbezug von bäuerlichen
Laiendarstellern aus der Region zu drehen und – so Foucault – „eine Geschichte
in der Gegenwart über Leute zu machen, die bisher niemals das Wort hatten“.
Vor diesem Hintergrund wird ein weiterer Aspekt deutlich, den der „Fall Rivière“
in sich trägt, den aber nach Foucaults Auffassung erst Allios Film profiliert
hat: „Uns und unseren Gegenstücken aus jener Zeit genügte, um Intellektuelle
zu werden, eine kleine Entscheidung, der Griff zu Papier und Feder. Er dagegen
muss zu einer Sense greifen, um das Recht zu haben zu schreiben, um eine Geschichte
zu erzählen zu haben, um aus dem Gewöhnlichen herauszutreten.“ Die
Laiendarsteller in Allios Film vervielfachen diese „rituelle Geste“ (Foucault),
wenn sie nun ihrerseits das Wort ergreifen, sich selbst in Rivière erkennen
und seine Geschichte, die von der ihren nicht allzu weit entfernt ist, nachspielen.
In den Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich mit der politischen Frage
nach einer möglichen emanzipatorischen filmischen Re-Präsentation
von Geschichte auseinander setzten, galt „Ich, Pierre Rivière ...“ seither
als gelungenes, ja, kanonisches Vorbild, blieb aber hierzulande, von einigen
Festivalaufführungen abgesehen, weitgehend unsichtbar.
Dass damals tatsächlich gelang, wovon
man schwärmte, dass nämlich Geschichte in einem dreifachen Erfahrungsaustausch
zwischen einheimischen Schauspielern, Filmemachern und einem authentischen Text
geschaffen wurde, belegt nicht zuletzt Nicolas Philiberts „Rückkehr in
die Normandie“. 30 Jahre nach Abschluss der Dreharbeiten von „Ich, Pierre Rivière
...“ kehrt der damalige Regieassistent, mittlerweile selbst berühmt für
seinen Erfolgsfilm „Sein
und Haben“ (fd 35 751),
an den Drehort zurück, besucht die alten Schauplätze, erzählt
von den damaligen Produktionsbedingungen, sucht nach den damaligen (Laien-)Darstellern,
zeigt einige Ausschnitte aus Allios altem Film, macht Interviews, liest aus
Tagebüchern, Produktionsnotizen und Briefwechseln und erzählt von
seinen eigenen Erinnerungen an jene Zeit. Dabei folgt er keiner These, sondern
zeigt Allios Film als Fixpunkt einer außeralltäglichen kollektiven
Erfahrung, die auch nach 30 Jahren noch sehr präsent ist. Gern sieht man
den Darstellern dabei zu, wie sie durchaus ironisch ihre Erfahrungen und Erinnerungen
austauschen, einander lachend eingestehen, für ein Sequel bereit gewesen
zu sein.
Doch das Leben ist auch seinen ganz normalen
Gang gegangen: Krankheiten, Krisen, Trennungen und Hochzeiten. Philibert zeigt
den bäuerlichen Alltag, der sich hier noch immer nicht sonderlich von 1975,
vielleicht sogar von 1836 unterscheiden mag, wenngleich die Moderne das Antlitz
der Landschaft verändert hat. Auch Spurenelemente des politischen Selbstverständnisses
des damaligen Filmprojekts haben sich erhalten, wenn die Darsteller von ihrer
damaligen Arbeit am Film erzählen, von ihrer Beschäftigung mit den
Figuren, die sie spielten, von der sensibilisierten Beziehung zur (Klassen-)Geschichte,
die hieraus erwuchs. Immer wieder kommt es im Verlauf der assoziativ gehaltenen
Recherche zu aufschlussreichen (Wieder-)Begegnungen und Erinnerungen, die davon
erzählen, dass das Mitwirken an der Produktion eines Kunstwerks Biografien
verändert hat. Vielleicht nicht revolutionär, aber immerhin. Der Darsteller
des Pierre Rivière, Claude Hébert, machte nach dem Film eine kurze
Schauspielerkarriere, verließ dann Paris in Richtung Kanada, wo sich seine
Spur verlor. Philibert spürte Hébert, der jetzt Missionar in Haiti
ist, auf und arrangiert ein kleines Familientreffen voller Humor, bei dem auch
mal wieder lustvoll die Sense geschwungen wird. Zusammengehalten wird der lockere,
durchaus subjektive Diskurs, den Philibert hier wagt, allein durch ein ideelles
Kraftfeld im Hintergrund: das Bewusstsein, eine ganz besondere Erfahrung bei
der Produktion eines Films gemacht zu haben. Insofern ist „Rückkehr in
die Normandie“ eine Hommage an eine konkrete Ethik des Filmemachens – und vielleicht
der aktuellste Beitrag zur „1968“-Debatte, den man sich 2008 wünschen kann.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Zu diesem Film gibt’s im
archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Rückkehr
in die Normandie
Frankreich
2007 - Originaltitel: Retour en Normandie - Regie: Nicolas Philibert - Darsteller:
(Mitwirkende) Nicolas Philibert, Nicole Picard, Jacqueline Miller, Norbert Delozier,
Joseph Leportier, Stéphane Rogue - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 113
min. – Dt. Start: 26.6.2008
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