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Russische
Hochzeit
Das gute Schwein
bleibt gern daheim
Mit Utopien nach Moskau, geläutert zurück,
und Trinken ist ja auch sehr schön: In Pawel Lungins "Russischer Hochzeit"
feiert sich die Provinz selbst
Die Provinz ist der Ort, an dem alle davon träumen,
eigentlich woanders zu sein. Das ist in Russland nicht anders als in der übrigen
Welt. Nach Moskau, nach Moskau wolle er, wie die drei Schwestern in Tschechows
Stück, bekennt der Polizeichef des Kaffs abseits der Hauptstadt, in dem
die russische Hochzeit stattfindet. Für dieses Ziel ist er sogar bereit,
die Feier platzen zu lassen und den Bräutigam hinter Gitter zu bringen.
Pawel Lungins Film zeigt einmal mehr: Der Städter mag die Volkstümlichkeit
genießen, das Volk aber, wie von Brecht so scharfsinnig beobachtet, ist
gar nicht tümlich.
Die Stelle des angereisten Städters nimmt bei
Lungin der Zuschauer ein. Zusammen mit der zukünftigen Braut sitzt man
in der Eingangssequenz im Bus; Männer in verbeulten Trainingsanzügen,
Ferkel als Lebendgepäck auf dem Schoß und die verstärkte Präsenz
von Uniformen machen schnell klar, wo man sich befindet. Von den Unebenheiten
der Landstraße geschüttelt, lässt die Kamera ihren Blick durch
den Bus schweifen und bleibt immer wieder an Tanja hängen, die in diese
rohe Umgebung nicht so richtig passen will, deren suchender Blick nach draußen
aber sehr wohl die heimatliche Vertrautheit verrät.
In wenigen Einstellungen hat die Kamera das typische
Provinzschicksal eingefangen: Die ehemalige Dorfschönheit ist in die Großstadt
aufgebrochen, um Model zu werden, ist dort - wahrscheinlich an der Liebe - gescheitert
und kehrt nun zurück, etwas ratlos, aber entschlossen, dem eigenen Ursprung
fortan treu zu bleiben. In derselben Nacht noch bietet sie sich ihrem einstigen
Jugendschwarm Mischa in der Dorfdisko zur Frau an - und der greift zu. So nimmt
das Brauchtum seinen Lauf.
Hochzeiten sind gute Anlässe, um die Sinnfälligkeit
von Ritualen zu illustrieren: Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft,
zwischen Aufbruch und Ursprung, zwischen Alltag und Fest. Und nirgendwo werden
Rituale so ernst genommen wie in der Provinz. Ein Film über eine Provinzhochzeit
verspricht, über die Organisation des Rituals die Probleme der ganzen Gesellschaft
anzusprechen, während gleichzeitig Raum bleibt für das dramatische
Nebeneinander einer Vielzahl an Figuren.
Auf diese Weise bietet Lungins Film reichlich Stoff
für entweder die ethnografisch oder die ästhetisch interessierte Betrachtung.
So werden in der "Russischen Hochzeit" alle zeitgemäßen
"typisch russischen" Probleme aufgezählt: die ausbleibenden Lohn-
und Rentenzahlungen, die Fallhöhe zwischen hauptstädtischem Reichtum
und provinzieller Armut, die Übernahme der Machtpositionen durch Neureiche,
die heuchlerische Aufwertung der orthodoxen Kirche, der Alkoholismus der Männer
etc.
Den Eigentümlichkeiten einer russisch-französisch-deutschen
Koproduktion ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, dass all diese Punkte inszeniert
und zusätzlich noch mindestens einmal ausgesprochen werden, wohl damit
sie der westliche Zuschauer auch ja versteht. Was in Russland selbst zu einer
zwiespältigen Aufnahme des Films führte. Zu weit sah man dort die
Charaktere in Problemstereotype abgleiten, die speziell für die "europäische"
Auswertung gemacht seien.
Andererseits aber bilden Ritual und Sozialkritik
für den Regisseur lediglich den Anlass, ein ziemlich furioses Ensemblespiel
in Gang zu setzen. Aufgenommen von einer agilen Kamera, die sich wie ein Besucher
unter die Menge mischt, agieren Laiendarsteller neben Schauspielern und reibt
sich der vorgegebene Ablauf des Festes an den unvorhersehbar eintretenden Ereignissen.
Daraus entsteht ein energetischer Sog, der das Kinopublikum unweigerlich in
seinen Bann zieht.
Fast unmerklich wird man dabei zur Nachsicht mit
den Figuren verführt, gerade da, wo sich die netten Provinzler als gar
nicht so nett herausstellen. Garkuscha mag ein unverbesserlicher Alkoholiker
sein, der das ihm anvertraute Geld gewissenlos versäuft und auch noch seine
Frau prügelt, gleichzeitig ist er doch ein guter Freund, der keinen persönlichen
Einsatz scheut, um das von ihm angerichtete Unheil wieder gutzumachen. Dass
dieser Einsatz darin besteht, die Tante der Braut zu vergewaltigen, die das
in hysterischem Schrecken auch noch irgendwie gut findet, ist man da schon als
eigenwilligen Protest gegen "künstlich" auferlegte Political
Correctness zu bewerten gewillt.
Unterschwellig feiert sich die Provinz in diesem
Film vor allem selbst: als Ort des Wirklichen, des Einfachen und der Originale.
So groß die Probleme sein mögen, immer fällt hier jemand etwas
ein, wie sie zu überwinden wären, und wenn der intrigante Polizeichef
die Hoffnung begraben muss, nach Moskau zu entkommen, dann nimmt man ihn eben
versöhnlich in die große Trinkergemeinschaft wieder auf. Bei so viel
Provinzaffirmation ist man froh, dass im Schlussbild doch noch eine Kinokonvention
über den Realismus siegt: Das Paar, das eigentlich durch die Hochzeit so
richtig im dörflichen Leben ankommen wollte, muss wieder fliehen. Wie es
sich gehört, fahren sie im Morgengrauen einer unbekannten Zukunft entgegen
- die Provinz lassen sie hinter sich.
Barbara Schweizerhof
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz vom 17.5.2001
Russische
Hochzeit
Frankreich / Russland / Deutschland 2000 - Originaltitel: La Noce - Regie: Pawel Lungin - Darsteller: Marat Bascharow, Maria Mironowa, Andrei Panin, Alexander Somtchew, Wladimir Simonow, Maria Golubkina - Länge: 114 min. - Start: 17.5.2001
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