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The
Saddest Music in the World
Einst konnte man seinen Filmen „Lawinen über
Tölzbad“, „Tales from the Gimli Hospital“ oder „Archangel“ (fd 28 894)
allenfalls in wenigen Programmkinos, im Nachtprogramm des Fernsehens oder auf
Festivals begegnen. Dabei sind die Arbeiten des Kanadiers Guy Maddin tatsächlich
so einzigartig, dass man sie sofort erkennt: pure postmoderne Bricolage, Nachempfindungen
alter Filme, die wie durch einen Schleier hindurch zum Zuschauer sprechen. Liebevoll
wird das Zelluloid beschädigt, durch Kratzer und Anschlussfehler auf „alt“
getrimmt, so, als seien die Filme nach zahllosen Vorführungen irgendwann
aus dem Verleih genommen worden. Die Ausleuchtung ist eine Hommage an den „expressionistischen“
Film der Weimarer Jahre, die Montage zitiert die sowjetische Avantgarde. Die
naiv-abgründigen Geschichten, die Maddin, ein großer Bewunderer Buñuels
und wohl auch Murnaus, erzählt, reiben sich an der künstlich hergestellten
Form.
Jetzt kann man die Magie der Bilderwelten
Maddins endlich einmal auf der großen Leinwand erleben. „The Saddest Music
in The World“ ist formal ein früher Tonfilm, inhaltlich eine brillante
Mischung aus den düsteren, schwarz-romantischen Szenarien eines Tod Browning
(„Freaks“, 1932, besonders „The Unknown“,
1927) und den Musicals eines Busby Berkeley. Der Film spielt während der
Großen Depression des Jahres 1933, als Winnipeg zum vierten Mal in Folge
zur „Welt-Hauptstadt des Kummers“ gekürt wurde. Der einst erfolgreiche,
zynische und absolut herzlose Broadway-Impresario Chester Kent („Sadness is
just happiness, turned on its ass!“) kehrt in seine Heimat Winnipeg zurück,
wo die Bier-Baronin Lady Port-Huntley soeben einen internationalen Wettbewerb
zur Suche nach dem traurigsten Lied der Welt initiiert hat. Als professioneller
Experte für „Schmalz“ glaubt Chester seinen Sieg sicher. Doch dann kommen
traurige Musiker aus aller Welt, um in Winnipeg ihre traurigen Lieder vorzutragen
– im Film ist diesbezüglich sinnigerweise von einem „Umzug des Elends“
die Rede. Die geschäftstüchtige Lady Port-Huntley weiß nämlich
genau, dass der Bierkonsum unter traurigen Menschen ganz immens sein muss –
und auch, dass die Prosperität der Bier-Industrie beendet sein wird, wenn
in den USA die Prohibition aufgehoben wird. Zugleich aber erzählt der Film
auch ein surreales Melodram um verlorene Brüder, verlorene Lieben, Amnesie
und Erinnerung, in dem es auch um den grotesken Unfall geht, bei dem Lady Port-Huntley
einst dank der Trunksucht des Arztes Fyodor, Chesters Vater, ihre beiden Beine
verlor. Sie wird sie dann später durch zwei gläserne, biergefüllte
Prothesen ersetzen lassen, die im Finale der serbische Cellist Gavrillo, der
in Wahrheit Chesters verschollener Bruder Roderick ist, durch sein furioses
Spiel zersplittern lässt. Das traurigste Lied wird am Ende der gefühllose
Chester selbst singen, wenn er am Piano bei lebendigem Leibe verbrennt. Originell, irrwitzig, absurd, voller abseitiger
und bisweilen auch recht gegenwärtiger
Obszönitäten („Sind sie Amerikanerin?“ – „Nein, ich bin eine Nymphomanin.“
– „Egal, solange Sie keine Amerikanerin sind!“), Screwball-Sprachwitz und politischer
Untertöne – die Figur des Pragmatikers Chester ist purer Anti-Amerikanismus
– ist dieser vor Ideen schier platzende Ausflug in die Untiefen der Filmgeschichte
für Maddins Verhältnisse ungemein unterhaltsam und auch zugänglich.
Als Film über die Erinnerung in erinnerten (Film-)Sprachen, die immer auch
eine Spur von „Eraserhead“ (fd 22 752) in sich tragen, ist „The Saddest Music in the World“
ein höchst ungewöhnliches „Midnight Movie“; der Fantasie scheinen
keinerlei Grenzen gesetzt, die Filmtricks sind handgemacht, staunenswert und
passen wunderbar zu Michel Gondrys „Science of Sleep – Anleitung zum Träumen“
(fd 37 809). Mark McKinneys aasige Darstellung des schmierigen Impresarios ist
schlicht eine Wucht, und Isabella Rossellini als Lady Port-Huntley liefert ihre
eindrucksvollste Performance seit „Blue
Velvet“ (fd 26 040).
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: film-dienst
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
The
Saddest Music in the World
Kanada 2003
- Regie: Guy Maddin - Darsteller: Isabella Rossellini, Mark McKinney, Maria
de Medeiros, Ross McMillan, David Fox, Claude Dorge, Darcy Fehr, Erik J. Berg,
Graeme Valentin, Maggie Nagle - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 99 min. - Start:
7.12.2006
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