"It is a disease because it‘s out there and we just have to be more aware of it."
SAFE
Bekannt wurde US-Regisseur Todd Haynes in Deutschland durch seinen Film
"Velvet Goldmine" (1998), eine Hommage an den Glamrock. Nicht in den
deutschen Verleih kam leider bisher sein völlig anders gearteter, großartiger
Vorgänger "Safe" von 1995. Die Geschichte klingt simpel: Die wohlhabende
Carol White ist allergisch. Aber wogegen? Ein Film wie ein Allergietest, - mit
einer verstörenden, deprimierenden Diagnose.
Dass Carol allergisch ist, steht außer Frage. Die Frage ist nur: Wogegen? Mit ihrem
Mann Greg und dessen Sohn lebt sie 1987 im schicken San Fernando Valley (Los
Angeles) in einer Villa, ernährt sich von Obstdiäten, hält sich fit mit Aerobic, und außer,
dass sie eine von einem fleißigen Latina-Hausmädchen unterstützte Hausfrau ist,
kümmert sie sich ("in my spare time") um die Innenarchitektur, was bedeutet, dass sie
teure Möbel bestellt und geschützt mit Plastikhandschuhen Rosen züchtet.
Carols Welt scheint "sicher" zu sein. Das Eigenheim, der Beruf des Mannes, die
gesellschaftliche Position, der Kreis ihrer Freundinnen: Mit amerikanischer Perfektion
funktioniert hier alles und jeder, - so dass es nebensächlich ist, ob Carol gern mit Greg
schläft, ob sie sich mit ihm oder ihrer besten Freundin unterhalten kann, ja, wie es ihr
überhaupt geht.
Carol funktioniert in einer Mischung aus Unsicherheit und dezenter
Upperclass-Arroganz und sie könnte weiterfunktionieren, hätte sie nicht einen kleinen
Husten, der sich im Auto auf einem vielbefahrenen Highway in einen Asthma-Anfall
verwandelt. Ihr Hausarzt kann keine Anzeichen von Krankheit entdecken, ein
Allergologe diagnostiziert eine Milchallergie (Milch ist ihr Lieblingsgetränk), aber auch
die Laktose meidende Carol übergibt sich im Odeur von Gregs Deo und kollabiert beim
Betreten einer chemischen Reinigung. Ein Psychiater stürzt Carol eher in weitere
Verwirrung, als ihr zu helfen.
Das einzige, was noch zu ihr durchdringt, sind Erklärungsansätze der
New-Age-Esoterik. Allergisch sei sie auf das zwanzigste Jahrhundert, das mit seinen
tausenden Giften die Immunabwehr zum Erlahmen bringe, bis der kleinste Auslöser eine
Katastrophe bedeute. Nach der Übersiedlung ins "Wrenwood Center", einem in der
Wüste gelegenen Sanatorium unter der Leitung eines guru-ähnlichen HIV-Positiven,
erfährt Carol, dass die Ursache für ihre Allergien nur in ihren höchst eigenen negativen
Schwingungen begründet ist. Selbst nach Wochen geht es ihr nicht besser, deshalb
beschließt sie in einen völlig hermetischen Beton-Iglu umzuziehen. Dort, allein mit der
Sauerstoffflasche, sieht sie in den Spiegel und versichert sich: "I love you, I love you".
Der Film "Safe" lief 1999 bei ARTE im Rahmen eines Themenabends mit demTitel:
"Macht uns die Luft krank?" Auf den ersten Blick geht es in "Safe" sicherlich um
Luftverschmutzung, aber nicht nur...
Vom (homosexuellen) Regisseur Todd Haynes wird kolportiert, der Film handle vom
Aids-Zeitalter. Damit aber hat Haynes noch nicht den symbolischen Gehalt und den
interpretatorischen Spielraum erwähnt, den dieser nüchterne, unspektakuläre Film über
eine Allergikerin mit seinem messerscharfem Blick für die Details einer so modernen wie
kranken Zivilisation insgesamt bietet.
Als "horror movie of the soul" wird "Safe" in der "Internet Movie Database"
bezeichnet, und wenn man sich auf die Welt und den Leidensweg von Carol (gespielt
von einer unübertreffbaren Julianne Moore) einlässt, versteht man nach wenigen
Einstellungen, was gemeint ist:
Carol verliert sich in Landschafts- oder Wohnungs-Totalen, manifest wird sie (oder ihr
Gefühl) eher durch die düstere synthetische Musik als durch die souveräne Kamera, die
durch analytisch kühle Distanz fasziniert und den Zuschauer ohne jede Effekthascherei
im Bann hält. Mit wenig Aufwand liefern Bild und Ton ein adäquates Environment für
das Verlorensein in einer perfekten Welt und den Absturz mitten im Herzen der
Sicherheit.
"Safe" handelt von der Sicherheit in einer versicherten Upperclass-Gesellschaft, deren
höchste Werte Erfolg, Leistung und Geld sind und deren Lebens-"Management" sich in
klinisch sauberen Räumen und menschlich sterilen Beziehungen erschöpft. Die Luft auf
den Strassen ist voller Abgase, die Herstellung von Carols Dauerwelle kommt einem
chemischen Grossangriff gleich, aber ersticken tut Carol auch an der Geburtstagparty
ihrer Freundinnen. Menschliche Beziehungen beschränken sich auf Floskeln, für
persönliche Gespräche steht kein Vokabular zur Verfügung, beim Todesfall in der
Familie wird die Diät gewechselt, - das wird schon helfen. Die fragile Carol fällt
geradezu aus allen ihren Bezügen, doch das Sicherheits-Netz ist eher eine Falle. Da ihr
Leiden an einer sterilen Gesellschaft von derselben tabuisiert wird, muss sie es auf die
"Umwelt" projizieren. Ihre deklarierten Helfer sind Scharlatane, sie greifen nach
"Umwelt-Opfern" lediglich, um Geld aus ihnen herauszuholen. Falls die schwer kranke
Carol überhaupt überleben sollte, ist eine psychische Rettung kaum in Sicht. Nicht bei
sich und nicht bei anderen. Sie sitzt in der selbstgewählten Sicherheit ihres Beton-Iglu,
nicht nur weil sie vor Abgasen flieht, sie flieht auch vor den Menschen. Carols Sicherheit
ist die der absoluten Isolation; das Ende der Nähe. Und wenn sie sich das
"therapeutisch" verordnete "I love you" zuflüstert, dann weiß sie nicht einmal, zu wem sie
spricht.
Wie auch "American Psycho"(2000) schildert "Safe" rückblickend eine
abgründig-tragische menschliche Existenz der US-amerikanischen Upperclass in den
Achtziger Jahren. Es scheint, als läge gerade in dieser Dekade ein Schlüssel für neueste
prägende gesellschaftliche Entwicklungen – auch in Europa. Und es scheint, dass nicht
zuletzt "Safe" Zeugnis bitterer Wahrheiten ist...
Bliebe zu fragen, warum ein Meisterwerk wie dieses nicht in die deutschen Kinos
gelangen konnte (oder auf den Videomarkt) und bliebe zu wünschen, dass dieses
Versäumnis bald nachgeholt wird! Mit allerbesten, dringlichsten Empfehlungen!
Andreas Thomas / 10 von 10 Punkten
Filmdaten
Safe, UK/USA 1995, 119 Min., Farbe
Regie und Drehbuch: Todd Haynes, Kamera: Alex Nepomniaschy, Schnitt:
James Lyons, Musik: Brendan Dolan, Ed Tomney, Produzent: Ted Hope
Darsteller: Julianne Moore (Carol White), Peter Friedman (I) (Peter Dunning),
Xander Berkeley (Greg White), Susan Norman (Linda), Kate McGregor-Stewart
(Claire), Mary Carver (Nell), Steven Gilborn (Dr. Hubbard), April Grace (Susan),
Peter Crombie (Dr. Reynolds), Ronnie Farer (Barbara), Jodie Markell (Anita), Lorna
Scott (Marilyn), James LeGros (Chris), Dean Norris (Mover)
Auszeichnungen:
Boston Society of Film Critics Awards 1995: Beste Kamera
Independent Spirit Awards 1996 für: Beste Regie; Beste weibliche Hauptrolle, Bestes
Drehbuch
Seattle International Film Festival
Amerikanischer Independent-Preis 1995: Todd Haynes
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei: filmrezension.de