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Schatten
der Engel
„Die
Stadt, der Müll und der Tod”
„Mich
des Antisemitismus zu
beschuldigen,
ist bloß eine Ausrede,
denn
im Grunde wollte ich ja
zeigen,
wie der Antisemitismus
entstanden
ist. (...) Ich finde es nicht
antisemitisch
zu erzählen, welche
Fehler
ein Jude begehen musste,
um
überhaupt überleben zu können.
Am
besten lässt sich doch die
Unterdrückung
einer Minderheit
beschreiben,
indem man zeigt, zu
welchen
Fehlern und Untaten die
Mitglieder
einer Minderheit als
Konsequenz
der Unterdrückung
gezwungen
werden.” (1)
Kaum
ein anderes Theaterstück hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
für so viel Furore gesorgt wie Fassbinders „Die Stadt, der Müll und
der Tod”, geschrieben 1975, ein Stück, das teilweise auf dem Roman von
Gerhard Zwerenz „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond” beruht. Die Geschichte
um einen Frankfurter Grundstücksspekulanten sollte Fassbinders letzte Arbeit
am Frankfurter Theater TAT sein und die Machenschaften und Verstrickungen zwischen
den Kommunalbehörden, Spekulanten und anderen in einer eher melancholischen,
traurigen Inszenierung zur Sprache bringen. Äußerlicher Anlass waren
die damaligen Auseinandersetzungen um das Frankfurter Westend und seine „Kaputtsanierung”.
Fassbinder setzte einen Spekulanten als Hauptfigur in das Stück, der gleichzeitig
Jude war. Neben vielen anderen ergriff im Frühjahr 1976 der Mitherausgeber
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Joachim C. Fest, Autor einer stark personalisierenden
und geschichtsverfälschenden Hitler-Biografie, die Gelegenheit und warf
Fassbinder Antisemitismus vor. Andere sprachen von „rotem Faschismus”. Das Stück
wurde nicht produziert und zu Fassbinders Lebzeiten nie aufgeführt. Zudem
warf man Fassbinder – völlig zu Unrecht – vor, mit dem „reichen Juden”
im Stück den früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland,
Ignatz Bubis (1927-1999), gemeint zu haben. Bubis war Immobilienmakler und in
Auseinandersetzungen um das Frankfurter Westend und dessen Sanierung verwickelt.
(2)
1985,
als sich der Intendant Günther Rühle, entschloss, das Stück in
Frankfurt doch auf die Bühne zu bringen, war es vor allem die Jüdische
Gemeinde in Frankfurt, die per Demonstrationen und lautstarken anderweitigen
Protesten dafür sorgte, dass das Stück lediglich vor einem ausgewählten
Publikum hinter ansonsten verschlossenen Türen aufgeführt werden konnte.
(3)
Weiter
weniger Proteste hagelte es, als 1976 der schweizerische Regisseur und Freund
Fassbinders, Daniel Schmid („Zwischensaison”, 1992; „Beresina oder Die letzten
Tage der Schweiz”, 1999), auf dessen Wunsch hin die Geschichte für das
Kino inszenierte. Man muss schon Glück haben, um diesen Film, den es nicht
auf DVD und nur in einer englischen Fassung auf Video zu erwerben gibt, einmal
zu Gesicht zu bekommen. Die Struktur der Fassbinderschen Erzählung blieb
dabei zwar erhalten. Doch Schmid visualisierte das Stück vor allem als
eine Abfolge einzelner, manchmal fast in sich geschlossener Szenen – im Gegensatz
zu Fassbinders Art der Inszenierung einer geschlossenen erzählerischen
Dramaturgie. Nichtsdestotrotz wird auch in „Schatten der Engel” mehr als deutlich,
um was es Fassbinder (und eben auch Schmid) bei der Abfassung des Stücks
ging: Um eine beissende Kritik an den Zuständen der Stadtsanierung, die
kaum auf eine Stadt wie Frankfurt reduziert werden kann, und um den Versuch,
in diesem Kontext den Stellenwert von Antisemitismus und den westdeutschen Umgang
mit dem Antisemitismus zu verorten.
„Komm
in den kleinen Pavillon,
Er
kann höchst diskret verschwiegen sein!
O,
dieser kleine Pavillon
Plaudert
nicht ein Wörtchen aus, o nein!
Dunkel
uns umfängt,
Nimm
was Liebe uns schenkt!
Komm
in den kleinen Pavillon,
Komm
zum süßen Rendezvous,
O
Du!”
(4)
Lily
Brest (Ingrid Caven) geht auf den Strich. Aber Lily ist schön und zerbrechlich
und die Freier bevorzugen weniger schöne und dickere Frauen. Lily ist krank.
Es ist kalt, sie verbringt den ganzen Tag auf der Straße, meist vergeblich.
Ihr Zuhälter Raoul (Rainer Werner Fassbinder) sitzt zu Hause herum – ohne
Geld. Er schlägt Lily, um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen, wenn sie
kein Geld nach Hause bringt. Wenn sie ihn um Verzeihung bittet, antwortet er
nur „Verzeihung – dafür kann ich mir nichts kaufen. Gib mir Freiheit. Und
Freiheit ist Geld.” „Du musst mehr essen. Sie bezahlen euch nach Gewicht.”
Eines
Tages taucht ein Mann, der „reiche Jude” (Klaus Löwitsch), wie er sich
selbst nennt, mit zwei Begleitern auf, dem Zwerg (Jean-Claude Dreyfus), seinem
zynischen Begleiter, der ihm jedoch treu ergeben ist, und dem kleinen Prinzen
(Ulli Lommel), seiner rechten Hand, einem skrupellosen Mann, der selbst gern
so reich wäre. Der „reiche Jude” ist Spekulant, reißt alte Häuser
ab, baut neue und verkauft sie zu einem „guten Preis”, wie er sagt. Sein Freund
ist der Polizeipräsident (Boy Gobert). Er isst mit dem Bürgermeister
und die Stadtverordneten stehen hinter ihm, sagt er. „Der Plan (die Stadtsanierung,
d. Verf.) ist nicht meiner, der war da, ehe ich kam. Es muss mir egal sein,
ob Kinder weinen, ob Alte, Gebrechliche leiden. (...) Und das Wutgeheul mancher,
das überhör ich ganz einfach. Was soll ich auch sonst? (...) Soll
meine Seele gerade stehen für die Beschlüsse anderer, die ich nur
ausführe mit dem Profit, den ich brauche, um mir leisten zu können,
was ich brauche? Was brauch ich? Brauche, brauche ... seltsam, wenn man ein
Wort ganz oft sagt, verliert es den Sinn. (...) Die Stadt braucht den skrupellosen
Geschäftsmann, der ihr ermöglicht, sich zu verändern.”
Der
„reiche Jude” erzählt dies Lily, die er engagiert, aber nicht als Prostituierte.
Nein, er rät ihr, statt mit ihm oder anderen ins Bett zu gehen, nur zuzuhören.
Nach dem ersten dieser Gespräche trägt Lily 1.000 Mark nach Hause,
und Raoul ist verzweifelt, entsetzt, überrascht, erbost. Was hat sie für
so viel Geld getan?
Der
„reiche Jude” benutzt Lily, denn er kennt ihre Eltern. Ihren Vater hält
er für verantwortlich am Tod seiner Eltern. Lilys Vater, Herr Müller
(Adrian Hoven), ist unverbesserlicher Nazi und für den Mord an vielen Menschen
verantwortlich. „Ich habe mich um den einzelnen, den ich tötete, nicht
gekümmert. Ich war kein Individualist. Ich bin Technokrat”, sagt Müller,
als ihn Lily fragt, ob er für den Mord an den Eltern des „reichen Juden”
verantwortlich ist und wie er damit leben kann. „Es ist keine Last, der Mörder
von Juden zu sein, wenn man aus Überzeugung handelt”, sagt Müller.
Jetzt tritt Müller als Transvestit auf und singt Zarah-Leander-Lieder.
Seine Frau (Annemarie Düringer) ist an den Rollstuhl gefesselt. Sie hält
zu ihrem Mann, weniger aus Liebe denn aus Überzeugung, dass die alten Zeiten
wieder kommen. „Wir werden uns nicht unterkriegen lassen von Bedingungen, die
andere uns auferlegen, damit wir darunter leiden.”
Der
„reiche Jude” verspricht sich Rache an den Müllers. Deshalb knüpfte
er die Beziehung zu Lily. Lily wird reicher und reicher. Auch andere reiche
Leute bemühen sich um sie. Nur Raoul ist verzweifelt. Er kommt mit Lily
nicht mehr zurecht. „Ich habe dich im Schmutz geliebt, für den Luxus reicht
mein Verstand nicht aus.” Raoul verlässt Lily, geht in die Stadt, die ihn
verschlingen wird, beginnt eine Affäre mit einem Mann, wird verprügelt,
halb tot geschlagen.
Der
kleine Prinz wittert eine Chance, den „reichen Juden”, seinen Arbeitgeber, aus
dem Feld zu räumen. Denn er meint, der „reiche Jude” vernachlässige
seine Geschäfte, seit er Lily kennt. Lily fühlt sich immer einsamer,
die anderen Prostituierten wenden sich von ihr ab, aus Neid. Raoul hat sie verlassen.
Lily hat zu viel gesehen. In der Kirche spricht sie zur Jesus-Figur: „Du hast
es so gewollt. Dem Menschen Erkenntnisse geben, die er nicht in der Lage ist
zu erfüllen.” Die Stadt mache alle zu lebenden Leichen. Sie küsse
Tote. Der Moder werde ihr zum Gesangbuch. Man müsse so sein, wie es gefordert
wird. Und dieses Leben will sie nicht mehr leben. Die Stadt brauche Opfer, um
nicht lebendig zu erscheinen.
Der
„reiche Jude” holt Lily ab. Er merkt, wie verzweifelt sie ist. „Aber Verzweiflung
ist nichts wert”, sagt er. „Man handelt nicht mit Verzweiflung.” Auf ihre Bitte
hin tötet er Lily. Für sie tue er es, sagt er. Der kleine Prinz wittert
jetzt seine Chance, stellt sich dem Polizeipräsidenten als Zeuge dafür,
dass der „reiche Jude” Lily getötet habe, um an dessen Besitz zu kommen.
„Wieder einer, der die Gesetze der Stadt nicht kennt”, sagt der Polizeipräsident
und lässt den kleinen Prinzen aus dem Fenster werfen. Das Band zwischen
dem Polizeipräsidenten und dem „reichen Juden” bleibt bestehen. Man bringt
Raoul herein, der als Mörder von Lily herhalten soll.
„Schon
gut, mein Junge,” sagt der Polizeipräsident. „Wir werden schon einig.”
„Er saugt uns aus, der Jud.
Trinkt
unser
Blut und setzt uns ins Unrecht,
weil
er Jud ist und wir die Schuld
tragen.
(...) Wär’ er geblieben,
wo
er herkam, oder hätten sie ihn
vergast,
ich könnte heute besser
schlafen.
Sie haben vergessen,
ihn
zu vergasen. Das ist kein Witz,
so
denkt es in mir”,
sagt
der mit dem „reichen Juden” konkurrierende Spekulant Hans von Gluck (Alexander
Allerson) in einer Szene des Stücks und des Films. Wegen solcher Testpassagen
wurde Fassbinder vor allem angegriffen. Doch schaut man sich den Film genau
an, wird deutlich, dass es Fassbinder in keiner Weise um die Denunziation von
Juden geht, sondern um den Versuch, Antisemitismus zu „erklären”. In dieser
Szene des Films liegt Hans vom Gluck versunken, ja fast am Boden zerstört
im Bett von Lily in einer Villa. Lily hat ihm den Rücken zugekehrt und
schaut auf die große Tür. Die Szene deutet auf alles andere als einen
antisemitischen Angriff. Der, der das spricht, und das, was er spricht, sind
so deutlich unterschieden, dass man meinen könnte, es handle sich um zwei
Personen: Eine, die im Bett verzweifelt und versunken liegt, und eine, die aus
dem Off spricht. Die überdeutliche Distanz zur schweigenden Lily und zum
Ambiente des Zimmers verweisen auf die Entfremdung, die Schmid in dieser wie
in anderen Szenen als Mittel benutzt, um Fassbinders Stück in sich selbst
die nötige Distanz zu geben, die notwendig ist um darzustellen, was eigentlich
nicht darstellbar ist: „den Juden” in seinem „Anderssein”.
Hier
liegt wohl auch vor allem der Grund, warum in den 80er Jahren die Jüdische
Gemeinde so vehement gegen eine Aufführung des Theaterstücks protestierte.
Denn sie wie der Zentralrat hatten in der Nachkriegszeit eine Politik betrieben,
die dieses „Anderssein” um jeden Preis vermeiden wollte. Die Juden in Deutschland
wollten zuallererst Deutsche sein – Deutsche wie allen anderen auch, keine Randgruppe,
Minderheit oder ähnliches. Wie in keiner anderen rassistischen Konstruktion
so deutlich aber war dieses „Anderssein” durch die jahrhundertelange Verfolgung
und dann insbesondere durch den nationalsozialistischen Antisemitismus in Deutschland
als ideologisches Versatzstück gezimmert worden. „Der Jude” war ein ahistorisches
Konstrukt, etwas geradezu Mythologisches (im negativen Sinn), eine gedachte
und ausgedachte Identität, die im diametralen Gegensatz zur „deutschen
Identität” verortet wurde.
Und
nun kommt Fassbinder und zimmert in „Die Stadt, der Müll und der Tod” genau
diesen „Juden”, dieses Konglomerat an Negativem in einer Zeit, als u.a. Helmut
Kohl angetreten war, „den Deutschen” „wieder” „eine eigene Identität” zu
verschaffen (man denke an das Treffen Kohl-Mitterand und an Kohl und Reagan
in Bitburg). Der Begriff „Identität” war in den 80er Jahren hoch im Kurs,
nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern vor allem im politischen Diskurs
einer Republik, die zu sich selber finden wollte. Bis in die neo-faschistischen
Kreise hinein wurde von „nationaler Identität” nicht nur gesprochen, sondern
auch politisch agitiert. „Republikaner”, „Deutsche Volksunion” und andere Splittergruppen
in der Grauzone von Neo-Konservativismus und Neo-Faschismus trieben den Ausländerhass
auf die Spitze und in die Parlamente. Nicht nur dies, sondern auch Anschläge
auf jüdische Friedhöfe machten es verständlich, dass Jüdische
Gemeinde und Zentralrat der Juden in Deutschland mehr als besorgt waren, auch
die Juden in Deutschland könnten (wieder) Ziel politischer Aggression werden
– und das nach allen Bemühungen um einen Ausgleich zwischen Deutschen und
Juden und die sog. „Aufarbeitung der Vergangenheit”.
Doch
gerade hier – das kommt dazu – lag ein weiteres tief sitzendes Problem der Deutschen
und ihrer Geschichte. Man beschäftigte sich mit Antisemitismus, wollte
den Anfängen wehren und manche schrieen „Nie wieder Faschismus”. Dass man
sich der eigenen Geschichte jedoch wirklich „gestellt” hätte – davon konnte
keine Rede sein. Die Gegnerschaft zum Antisemitismus war selbst in den Kreisen
derjenigen, die sich keine Schuld aufgeladen hatten oder dies zumindest von
sich behaupteten, eher von Tabuisierungen geprägt.
„Spiel'
noch einmal für mich, Habanero,
denn
ich hör' so gern dein Lied.
Spiel'
noch einmal für mich von dem Wunder,
das
doch nie für dich geschieht.
Wer
kennt der Tage Last, die du getragen hast.
Wer
kennt des Chicos Not und Leid.
Wer
kennt der Schatten Macht, in blauer Tropennacht.
Wer
kennt der Sterne Gunst und Neid.”
(5)
Zurück
zum Film. Schmid versuchte, die Schwächen des Fassbinderschen Textes, die
vor allem im Versuch der Darstellung „des Juden” lagen, also des „Andersartigen”,
dadurch auszugleichen, dass er die Inszenierung selbst mythologisierte. Der
Film erzählt keine Geschichte, besteht aus einzelnen, dialogbestimmten
Szenen, so dass alle Figuren, nicht nur der „reiche Jude” eine Art Überhöhung
erfahren. Lily und Raoul, aber auch Müller sind weniger Personen aus Fleisch
und Blut, mehr Stellvertreter für Typen (der korrupte Politiker, der korrupte
Spekulant, die schöne Hure, der alte Nazi usw.). Auch die Szenerie selbst,
eine düstere, kalte, dem Verfall preisgegebene, verkommene Stadt, ist in
ihrer Darstellung typisierend, oft gespenstisch. Das Schlechte, Verkommene und
die Verkommenen werden sozusagen in ihrer „Reinheit” visualisiert. Schmid kontrastiert
dies u.a. mit eingespielten Schlagern und Operettenmelodien, etwa Caterina Valentes
„Spiel noch einmal für mich Habanero”, um die Skrupellosigkeit und Doppelbödigkeit
zu unterstreichen, wie Fassbinder selbst das auch in anderen Filmen bereits
getan hatte.
Die
Grundaussagen des Films wie des Theaterstücks werden so in eine quasi „reine”,
kalte Form gegossen. Andererseits erscheint der „reiche Jude” als jemand, der
nicht nur die Gesetze der Stadt vollständig erkannt hat, sondern auch um
seine eigene Schuld weiß, die er jedoch nicht als etwas Negatives betrachtet,
sondern praktisch als Ausgleich für geschehenes Unrecht akzeptiert. „Am
besten lässt sich doch die Unterdrückung einer Minderheit beschreiben,
indem man zeigt, zu welchen Fehlern und Untaten die Mitglieder einer Minderheit
als Konsequenz der Unterdrückung gezwungen werden.” Diese Aussage Fassbinders
enthält genau die Absicht, die er mit Theaterstück wie Film verfolgte,
also eine aufklärerische Absicht, eine, die den Deutschen (wieder einmal)
den Spiegel vorhalten sollte bezüglich ihrer Vergangenheit. Dass Theaterstück
wie Film in ihrer textlichen wie visuellen Ausprägung in diesem wichtigsten
Punkt scheiterten, ist weniger der visuellen Inszenierung oder dem Text selbst
zuzuschreiben. Im Grunde genommen unterscheidet sich die Person des „reichen
Juden” in „Schatten der Engel” kaum von der etwa Schuckerts in „Lola” (1981).
Beides sind Personen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, die ihrer Zeit
und den anderen immer um Haaresbreite voraus sind und ihr Geld damit machen.
„Spiel'
noch einmal für mich, Habanero,
denn
ich hör' so gern dein Lied.
Spiel'
noch einmal für mich von dem Wunder,
das
doch nie für dich geschieht.”
(5)
„Nur”
die Konstruktion „des (reichen) Juden” machte das Fassbinder-Stück zu einem
Eklat, zu einem öffentlichen, sozialen Text, der so gar nicht in die Zeitgeschichte
passen wollte, weil man diese Art des öffentlichen Diskurses nicht wollte.
Etwas ähnliches geschah übrigens im öffentlichen Diskurs um die
Politik Israels: Eine Kritik an der Politik Israels hatte immer darauf zu achten,
dass sie nicht in das Fahrwasser eines (neuen) Antisemitismus oder antisemitisch
geprägten Anti-Zionismus gelangte. Und das war nach den entsprechenden
Aussagen und Auskünften der in der Bundesrepublik Deutschland dafür
„zuständigen” Instanzen, Personen und Medien ein leichtes. Auch dies wies
meist nicht so sehr, wie vielleicht auf den ersten Blick augenscheinlich sein
mochte, auf die Kritiker selbst, sondern auf die Unfähigkeit „der” Deutschen,
ihre Vergangenheit (Nationalsozialismus und Holocaust) und damit auch sich selbst
wirklich offen zu diskutieren.
Fassbinder
konnte weder im Text seines Theaterstücks, noch im Film Schmids wirklich
diese Problematik auflösen. Dennoch ist der Film Schmids ein Meilenstein
im bundesrepublikanischen Diskurs um NS und Holocaust, besonders aber im Hinblick
auf die (verfehlten) Versuche, so etwas wie „deutsche Identität” zu konstruieren
und die eigene Geschichte darin aufzuheben. Das würde als gelungener Versuch
nämlich (im positiven Sinne) bedeuten, über Formen von kollektiver
Identität gar nicht mehr sprechen zu müssen.
„Schatten
der Engel” zeigt im übrigen einen „reichen Juden” und eine Prostituierte
(glänzend verkörpert von Klaus Löwitsch und Ingrid Caven), die
die Gesetze der Stadt so weitgehend verstanden haben, dass für beide nur
eine Lösung als realistisch erscheint: der Tod. Lily wählt den Tod
als einzige Möglichkeit, einem quasi un-toten Leben zu entgehen, das sie
nicht mehr leben möchte. Der „reiche Jude” weiß um die gleichen Dinge
und lebt dieses un-tote Leben weiter – eben als lebender Toter. Gerade diese
Konsequenzen verdeutlichen vor allem und neben allem anderen die eher düstere
Vision bundesrepublikanischer Verhältnisse, wie Fassbinder sie sah.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
(1)
Michael Töteberg (Hrsg.), Rainer Werner Fassbinder: Die Anarchie der Phantasie.
Gespräche und Interviews, Frankfurt 1986, S. 88.
(2)
„Bubis wird in den Frankfurter Häuserkampf verwickelt: Er gehört zu
den Investoren, die für Immobilienprojekte im Frankfurter Westend die Genehmigung
der Stadt erwirken, die ursprüngliche Bebauung abzureißen. Bis zu
ihrem Abriss vermieten Bubis und seine Partner die Häuser kurzfristig an
Studenten. Diese erklären die Häuser für besetzt und weigern
sich, sie zum Abriss freizugeben, unterstützt durch Bürgerinitiativen
und Politiker. Bubis gerät ins Schussfeld der öffentlichen Kritik
und der Medien, er wird als ‘skrupelloser Spekulant’ dargestellt. Er selbst
charakterisiert die Kampagne, die sich vornehmlich gegen jüdische Unternehmer
richtet, als ‘Antisemitismus aus der Richtung der politischen Linken’. Erst
im Februar 1974 werden die Gebäude schließlich geräumt, Auseinandersetzungen
zwischen Studenten und Polizei folgen. Bubis verliert durch die Ereignisse fast
sein gesamtes Vermögen und muss das Projekt im Westend verkaufen. Während
des Konfliktes legt Bubis seine Ämter in der jüdischen Gemeinde nieder.”
Quelle:
http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BubisIgnatz/
(3)
Zu den näheren Einzelheiten um Fassbinders Theaterstück vgl. Thomas
Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 281-314.
(4)
Auszug aus Franz Léhars „Komm’ in den kleinen Pavillon”, aus: Die lustige
Witwe. Das Lied wird von der Sängerin Gail Curtis im Film gesungen – frivol
und zweideutig.
(5)
„Spiel’ noch einmal für mich, Habanero” (Caterina Valente).
Schatten
der Engel
Schweiz,
Deutschland 1976
Regie:
Daniel Schmid
Drehbuch:
Daniel Schmid, Rainer Werner Fassbinder
Musik:
Gottfried Hüngsberg, Peer Raben
Director
of Photography: Renato Berta
Schnitt:
Ila von Hasperg
Produktionsdesign:
Raúl Gimenez
Darsteller:
Ingrid Caven (Lily Brest), Rainer Werner Fassbinder (Raoul), Klaus Löwitsch
(Spekulant), Annemarie Düringer (Frau Müller), Adrian Hoven (Herr
Müller), Boy Gobert (Polizeidirektor), Ulli Lommel (kleiner Prinz), Jean-Claude
Dreyfus (Zwerg), Irm Hermann (Emma), Debria Kalpataru (Marie-Antoinette), Hans
Gratzer (Oscar), Peter Chatel (Thomas), Ila von Hasperg (Violet), Gail Curtis
(Tau), Christine Jirku (Olga), Raúl Gimenez (Jim), Alexander Allerson
(Hans von Gluck), Harry Baer (Helifritz)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0075169
©
Ulrich Behrens 2004
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