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Schau
mich nicht so böse an
In
der Zentrale der Weihnachtsmänner
Dokumentarfilme
haben immer noch einen schweren Stand beim Publikum. Dröge sollen sie sein,
langatmig oft, belehrend. Und überhaupt: Kennen wir die triste Realität
nicht selbst gut genug? Denkste! Wer zum Beispiel hat schon die Chance, einmal
in aller Ruhe den Blick durch fremde Wohnstuben schweifen zu lassen? Und das
auch noch zur innig-intimsten aller gutdeutschen Feierstunden, dem Heiligabend.
Der
Weihnachtsmann also. Ist es doch seine Pflicht, mit Rute, Bart und Sack von
Christbaum zu Christbaum zu ziehen. Der Berliner Dokumentarfilmer Michael Chauvistre
hat sich mit Kamera und Mikrofon auf seine Spur gesetzt, um unseren (und vielleicht
ja auch den eigenen) Voyeurismus zu befriedigen. 400 Hilfs-Weihnachtsmänner
gibt es allein in Berlin, die allweihnachtlich für die studentische Arbeitsvermittlung
Tusma durch Stadt und Umland ziehen. Jeweils 47 DM pro Einsatz, wenn gewünscht
fürs Doppelte noch einen „hübschen" Engel dazu. Die Frage nach
dem Geschlecht der Engel ist dabei eindeutig geregelt. Ob die Engelinnen, die
aus Gleichberechtigungsgründen vor nicht allzulanger Zeit eingeführt
wurden, erst eine Hübschheitsprobe bestehen müssen, erfahren wir leider
nicht. Überhaupt wird der ganze Bereich der Auswahl, organisatorischen
Vorbereitung und Schulung weitgehend ausgespart. Schade, denn der kurze Besuch
bei einer Einweisungsveranstaltung, bei der den Anwärtern anschaulich gemacht
wird, warum für Himmelsboten zum Beispiel das Tragen einer Armbanduhr tabu
ist, macht Lust auf mehr.
SCHAU
MICH NICHT SO BÖSE AN folgt recht präzise der Chronologie und Dramaturgie
der Heiligabendeinsätze. Das Filmteam begleitet drei Weihnachtsmänner
plus einen hübschen Engel: von der ersten Kontaktaufnahme mit den zugeteilten
Familien über das Klären logistisch-praktischer Probleme (Familienverhältnisse,
Namen, Geschenketikettierung, Geldübergabe) bis zum Tatort selbst und der
erschöpften Rückkehr ins Hauptquartier. Kein Kommentar, keine Interviews.
In den Wohnstuben immer das gleiche Ritual: Mal eher gutbürgerlich, das
nächste Mal ärmlicher, aber im wesentlichen von erstaunlicher Gleichförmigkeit,
auch Ost-West-Unterschiede sind kaum auszumachen. Das Weihnachtsfest scheint
eine wahrhaft klassen- und grenzsprengende Veranstaltung zu sein, wenn auch
die ganz unteren Ebenen der Gesellschaft hier naturgemäß nicht vorkommen.
Allüberall fiepen die Blockflöten, sagen verschreckte Kinder besinnliche
Verse auf, werden um Couchtische Kaffee und Likörchen geschlürft.
Erschreckend das flächendeckende Ausmaß, in dem die Weihnachtsmänner
zur Durchsetzung elterlicher Erziehungsansprüche funktionalisiert werden.
Bemerkenswert und überraschend aber auch die Verklemmtheit der Studenten,
ihre Angst vor dem Zeigen von Gefühlen, gar Sentimentalität.
Ein
trauriger, komischer, unterhaltsamer und lehreicher Film. Schließlich
ist die Realität immer noch treffender als ihre beste Karikatur. Dabei
hätte sich Michael Chauvistre ruhig ein bißchen mehr Zeit als die
vorhandenen 60 Minuten geben können, um den Stoff ein wenig großzügiger
zu entfalten und vielleicht einige der oben beklagte Lücken zu schließen.
Silvia
Hallensleben
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
SCHAU
MICH NICHT SO BÖSE AN
BRD
1997. R:
Michael Chauvistre. B: Michael Chauvistre, Andreas Taglinger. P: Roshanak Behesht
Nedjad. K:
Michael Chauvistre, Konstantin Kröning, Erik Krambeck. M: Georg Fischer,
Christoph Seil. T: Frank Kruse, Has Swinkels, Christoph Engelke. Pg:
Happy Endings Film/ORB/SFB. V:
Salzgeber. L: 66 Min. St: 22.10.1998.
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