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Schmetterling
und Taucherglocke
Würde dieser Film nicht auf einer wahren Begebenheit
beruhen, man müsste seine Geschichte erfinden; erfände man sie aber,
glaubte sie einem kein Mensch. Nach einem Schlaganfall erwacht der „Elle“-Chefredakteur
Jean-Dominique Bauby völlig gelähmt, als „Gemüse“, in einem Krankenhaus.
Allein sein Verstand ist noch völlig intakt, eine klaustrophobische Horrorerfahrung
par excellence, die im Kino – in Dalton Trumbos „Johnny
zieht in den Krieg“ (fd 18 211) –
oder im Fernsehen – in Jon Amiels „The Singing Detective“ (1986) – schon mehrfach
Thema war.
Der Regisseur Julian Schnabel und sein Kameramann
Janusz Kaminski arbeiten lange Zeit mit der subjektiven Kamera, um dem Zuschauer
ein Gefühl für den Effekt des Locked-In-Syndroms auf den Protagonisten
zu geben. Bauby ist lange Zeit nur Hirn, Stimme und Auge; es dauert sogar, bis
der Protagonist realisiert, dass er auch seine Stimme verloren hat, dass er
nur zu sich selbst spricht. Der Zuschauer freilich hört seine zwischen
Unverständnis, Sarkasmus und Verzweiflung changierenden Reflexionen aus
dem Off. Minutenlang ist „Schmetterling und Taucherglocke“ ein strenger, sehr
konsequenter Experimentalfilm voller Unschärfen, mangelhafter Blickausschnitte
und Ab- und Aufblenden, die den Lidschlag des intakten Auges simulieren. Auch
später werden die Figuren mitunter direkt in die Kamera sprechen und agieren.
Es dauert, bis Bauby seine fürchterliche Situation realisiert: Er „erkennt“
sich schemenhaft als bizarr verzerrten Körper ohne Hoffnung auf Rekonvaleszenz,
muss lernen, sich allein durch ein System binären Zwinkerns mit seiner
Umwelt zu verständigen.
Für einen Intellektuellen und professionellen
Texter wie Bauby ist ein solcher Befund natürlich skandalös, weshalb
auch der erste verständliche Kommunikationsversuch die Bitte um Sterbehilfe
ist. Doch in der Filmwelt Julian Schnabels, selbst umstrittener und doch höchst
erfolgreicher bildender Künstler, entsteht Kreativität aus der Überwindung
ihrer Hindernisse, seien dies Diskriminierung aus Gründen von „Race and
Class“ („Basquiat“, fd 32 274) oder Gender-Fragen wie in „Before Night Falls“ (fd 36 331). Was Bauby bleibt, sind seine Fantasie
und seine Erinnerungen – und die Herausforderung und der Wille, aus der Welt,
in der er jetzt lebt, zu berichten. Er tut dies mit einer unglaublichen Leichtigkeit,
mit treffendem Witz und eleganten Pointen.
„Schmetterling und Taucherglocke“ schlägt also
auf mehreren Ebenen existenzielle Fragen an, diskutiert die Frage der Sterbehilfe,
erzählt von der Überwindung des Körpers durch den Geist und spürt
den Wurzeln der Kreativität nach. Im weiteren Verlauf öffnet der Film
seine Erzählperspektive; andere Figuren kommen ins Spiel, Bauby selbst
wird als „skandalöses Objekt“ gegen sein lässiges Parlando gesetzt.
Auch kommen jetzt Erinnerungen an das Leben vor dem Schlaganfall ins Spiel.
Da ist der Mann, der einst mit Baudy einen Flug tauschte. Das Flugzeug wurde
entführt, und der Mann lebte vier Jahre als Geisel in Beirut. Zufall und/oder
Schicksal? Da ist die Begegnung mit dem Freund, der erzählt, wie ganz Paris
Baubys Schicksal diskutiert. Da sind die Erinnerungen an das Pflegen des alten
Vaters; Erinnerungen an die alte Berufstätigkeit und die Konflikte im Privatleben.
Mit Hilfe des Erzählens kehrt Bauby ins Leben
zurück, beginnt geradezu ein neues Leben, das ihm mitunter sogar „wertvoller“
als seine frühere Existenz erscheint. Dass der Film nie in kitschiges „Krankheit
als Chance“-Pathos abgleitet, dafür sorgen der Sarkasmus des Erzählers,
das mutige, keinerlei Sentimentalitäten erlaubende Spiel des famosen Hauptdarstellers
Mathieu Amalric, eines erlesen zusammengestellten Ensembles mit schönen
Begegnungen mit Max von Sydow, Niels Arestrup und Isaach de Bankole und – nicht
zu unterschätzen – ein idiosynkratisch zusammengestellter Soundtrack voller
Kostbarkeiten von Velvet Underground über Ultra Orange & Emmanuelle
und Tom Waits bis hin zu Charles Trenet, der die Bilderwelten von „Schmetterling
und Taucherglocke“ ständig um neue Kon- und Subtexte erweitert oder auch
eine Kommentarfunktion erhält. So abstrahiert Schnabels Film ebenso klug
wie differenziert vom Einzelfall und stellt Grundfragen der menschlichen Existenz,
wie es mit rein filmischen Mittels kaum bisher so konzise und zugleich so leicht
gelungen sein dürfte.
Dass Bauby wenige Tage nach Veröffentlichung
seines Erlebnisberichts aus dem Innern einer Taucherglocke starb, gehört
zu dieser Geschichte hinzu, aber diese sinnhafte Pointe stellt das zuvor Gezeigte
keineswegs in Frage. Es mag banal klingen, aber Schnabels zutiefst berührender
Film ist eine Feier des Lebens unter ungewöhnlichen Umständen, ein
Hohelied auf Kreativität und Kunst durch die Kunst. Zugleich aber vermeidet
er, vielleicht sogar mehr als das zugrunde liegende Buch, eine nahe liegende
Apologie des Rein-Geistigen. Nicht zuletzt zeigen Baubys Erinnerungen in Schnabels
Version, dass auch das Leben vor dem Schlaganfall so reich war, dass es als
Bildreservoir und Wegzehrung „für die Zeit danach“ taugt.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Zu diesem Film gibt’s im archiv der
filmzentrale mehrere Texte
Schmetterling
und Taucherglocke
Frankreich / USA 2007 - Originaltitel: Le scaphandre et le papillon - Regie: Julian Schnabel - Darsteller: Mathieu Amalric, Emmanuelle Seigner, Marie-Josée Croze, Anne Consigny, Patrick Chesnais, Marina Hands, Max von Sydow - Länge: 112 min. - Start: 27.3.2008
DVD
bei PROKINO: Schmetterling und Taucherglocke - Limited Edition
Erscheinungsdatum: 09.10.2008
Bonusmaterial: Kapitel-/Szenenanwahl, Making Of, Animiertes DVD-Menü, DVD-Menü
mit Soundeffekten, Cinematic Vision, Interview mit Julian Schnabel, Audiokommentar
von Julian Schnabel
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