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Die
Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen
Der
Neorealismus, der eigentlich eine bestimmte Art sozialer Metaphorik war und
den es in „reiner" Form höchstens in den Büchern gibt, wurde
durch die Entwicklung der Filmindustrie und -technik zersetzt, aber nicht vollständig
aufgelöst. Es ist eine Methode oder eine Haltung, die verloren, vielleicht
auch verraten wurde und die doch unsterblich ist, wie ein Gespenst dazu verdammt,
in immer neuen Formen wieder aufzutauchen. Es gab den „rosa" Neorealismus
für eine Zeit, in der die Kinogänger die ersten Früchte des italienischen
Wirtschaftswunders genießen wollten, den „schwarzen" Neorealismus
für die Distanzierung von der Wirklichkeit der Straße durch die Groteske,
den „dekorativen" und den „nostalgischen" Neorealismus für die
Gesellschaft der geschlossenen Grenzen, so etwas wie einen exotischen Neorealismus
in Action- und Kriminalfilmen. Was Scola in BRUTTI, SPORCHI E CATTIVI versucht,
ist ein „schmutziger" Neorealismus, in dem die Kamera nicht mehr die Menschen
im Elend sucht, sondern das Elend_ selber ausstellt, als habe man in diesem
Jahr 1975, in dem der Film entstand, damit endlich wieder etwas gefunden, das
erstaunlich genug sei, um die Leinwand zu füllen.
Am
Rande von Rom haust in einer Hütte die große Familie von Giacinto,
den Nino Manfredi gibt. Er hat bei einem Arbeitsunfall ein Auge verloren, und
durch die Abfindung, die er dafür bekommen hat, ist er für die Verhältnisse
in der Barackensiedlung unermeßlich reich geworden. Doch seine Lire-Million
kann ihn nicht wirklich froh machen, weiß er doch, daß seine Verwandtschaft
nichts anderes im Sinn hat, als ihm das Geld zu stehlen. Und er will keine Lira
abgeben. Und richtig, da schleicht sich schon einer des Nachts, vorbei an schnarchenden
Männern, schreienden Babies, kopulierenden Paaren durch den Raum, um an
allen erdenklichen Plätzen nach dem verborgenen Schatz zu suchen, bis ihn
Giacintos drohend aus dem Bettvorhang auf ihn gerichtete Schrotflinte eines
Besseren belehrt. Dann folgt die Kamera, so als wäre sie beinahe willkürlich
von den jeweils lautesten Geschehnissen angelockt, den Ereignissen eines Morgens
im Slum. Giacinto versucht noch seinen Enkel zu bescheißen, Tommasinas
Mutter präsentiert stolz das Aktfoto ihrer Tochter im „Lesboy", Kinder
spielen im Staub, durch den die Hühner laufen, die Jungen trainieren Diebstähle
vom Motorrad aus, Romolo versucht sich einen günstigen Fick mit seiner
Schwägerin zu ergattern, die Kinder werden in einen Drahtverhau gesperrt,
während die Mütter arbeiten gehen; Tommasina erklärt einem anderen
Mädchen, wie leicht es ist, auf ihre Weise Geld zu verdienen, statt dort
unten in einem Palazzo putzen zu gehen.
Die
Musik imitiert eine Anden-Melodie (als hätten wir die Analogie nicht schon
verstanden): immerhin haben wir uns an diese scheinbar spontanen Kamerabewegungen,
die uns zu leicht verwirrten Beobachtern machen, die in einem unübersehbaren
Chaos irgendwelche Zusammenhänge suchen, mittlerweile so gewöhnt,
daß uns eine konventionelle Schuß/ Gegenschuß-Aufnahme eher
störend erscheint. Die Hütten-Siedlung hat sich geleert, nur die Alten
sind noch da; Giacinto säuft und kommt nach Hause, vorbei am Wagen von
Cesaretto, dem fliegenden Händler, der alles, von Kernseife über Weinbehälter
bis zum Rattengift verkauft, da sitzt die Großmutter im Rollstuhl vor
dem Fernseher, wie sie es immer tut, und Giacintos korpulente Frau unter der
Trockenhaube. Und weil sie von Cesaretto eine Klobürste geschenkt bekommen
hat, verprügelt er sie, die Frauen des Dorfes laufen zusammen. Und so geht
das weiter.
Aus
diesem Chaos von Alltagsschmutz, Sex, Gewalt, Suff und komischer Trostlosigkeit
entwickelt Scola schließlich doch so etwas wie eine Geschichte. Giacinto
ist so voll, daß er am nächsten Morgen sein Geldversteck nicht mehr
findet. Er schießt seinen Sohn nieder, und während er auf der Polizeiwache
verhört wird, stellen die Verwandten die Hütte auf den Kopf. Jetzt
erklärt er seiner Familie den totalen Krieg. Er trifft Iside, jung und
noch dicker als seine Frau, und er nimmt sie mit nach Hause. Der Familienrat
beschließt daraufhin seinen Tod. Bei der Taufe seines Enkels soll er mit
Rattengift in den Spaghetti ins Jenseits befördert werden. Knapp entgeht
er dem Anschlag, und jetzt geht der Kampf erst richtig los. Giacinto verkauft
das Haus an eine Familie von neuangekommenen Landflüchtlingen. vorher hat
er es halb abgebrannt, und dann fährt er noch den Rest mit seinem neuen
Automobil kaputt. Am Ende leben beide Familien in der Ruine.
Scola
ist in diesem Film radikal; er zeigt die Welt der Armen ohne jede Freundlichkeit;
die Menschen und die Situationen sind wirklich nichts anderes als schmutzig,
häßlich und gemein. Sie tragen auch keinen Mythos, keine Passion
und folgerichtig keine Aussicht auf Erlösung in sich. Da kann man nur noch
lachen. So ist auch die Bildarbeit konsequent, die die Anarchie der Geschehnisse
zeigt, ohne sie zu einem Tableau zu fügen. Wenn wir von dem Slum hinunter
auf die Stadt sehen, wissen wir, wie leicht es wäre, von hier aus Bilder
von falscher Schönheit zu erzeugen. Aber Scola und sein Kameramann Dario
Di Palma verzichten ganz darauf, Bilder von Bestand zu produzieren; die Bewegung
ist das einzige, was sie erträglich macht. Doch diese Bewegung zeigt noch
viel deutlicher, wie aussichtslos die Situation ist: Wie magisch angezogen kehren
die Figuren zu ihren armseligen Hütten zurück, auch die, die es augenscheinlich
nicht mehr nötig haben. Darin liegt ihre Verdammnis, die der Regisseur
bemerkenswert mitleidlos zelebriert. Er zeigt die Banalität des Bösen,
die, anders als bei Zavattini und De Sica, auch in sich so funktioniert wie
sie es tut, nicht allein als Folge eines äußeren Bösen. Nichts
gibt Hoffnung in Scolas Film, nicht die Kirche, nicht die Familie, nicht die
Klasse; wie im Italowestern dieser Zeit, an den manches erinnert, gibt es keine
Welt des Guten, keine Aussicht auf Belohnung für eine gute Tat oder einen
Hauch von Mitgefühl. Die Gemeinheit ist keineswegs nur an den Überlebenskampf
gebunden, sie ist selbst zum Lebenselixier geworden. Und Scola bringt sie uns
so unerhört nahe, daß wir gar nicht anders können als daran
teilzuhaben. Für einmal sind wir nicht als Humanisten, nicht „politisch",
nicht religiös, sondern ganz kreatürlich auf der Seite der Armen.
Auch wir können nicht flüchten. Nur die Kinder müssen eingesperrt
werden, versuchen zu fliehen und werden mit Prügeln zurückgetrieben.
Wenn er auf Kinder blickt, dann hört die höhnische Grausamkeit des
Films schlagartig auf. Und mit einem solchen Blick endet er auch.
Man spürt es förmlich: Ettore Scola hat mit diesem Film einen Befreiungsschlag geführt gegen alle Konventionen nicht nur des italienischen Films, sondern auch der nationalen Mythologie der Italianitä: gegen die Versöhnung mit der in Würde getragenen Armut, gegen die Illusion der Togliatti-Erbschaft (vielleicht sogar ein wenig gegen Gramscis Schatten), aber auch gegen die mystischen Hoffnungen vor allem Pasolinis in die vitalistische, rebellische Kraft des Subproletariats, gegen die Idee vom guten Volk und der schlechten Herrschaft. Dahinter steckt noch etwas anderes, ein Thema, das Scola, der aus dem Süden stammt, immer wieder angegriffen hat: die historische Tragödie der Landflucht, der Entwurzelung der Menschen vom Land, die an den Rändern der Großstädte stranden. Scola protestiert denn doch gegen eine konkrete historische Situation. Man fühlt sich ein wenig geprügelt, ein wenig verhöhnt, aber auch ein wenig befreit nach diesem Film. Danach hat Scola wieder nach Positionen gesucht, nach Möglichkeiten, die Menschen vorsichtig zu lieben.
Georg
Seeßlen
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: epd film
5/91
Die
Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen
BRUTTI,
SPORCHl ET CATTIVI
Italien
1975. R: Ettore Scola. B: Ruggero Maccari, Ettore Scola. K: Dario Di Palma.
Sch: Raimondo Crociani. M: Armando Trovaioli. Ba: Luciano Ricceri, Franco Velchi.
Ko: Dana Ortona. Pg: Compagnia Cinematografica Champion. P: Carlo Ponti. V:
Filmwelt. L: 115 Min. St: 9.5.1991. D:
Nino Manfredi (Giacinto), Francesco Anniballi (Domizio), Maria Bosco (Gaetana),
Giselda Castrini (Lisetta), Alfredo D'Ippolito (Plinio), Giancarlo Fanelli (Paride),
Marina Fasoli (Maria Libera), Ettore Garofolo (Camillo).
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