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Der Schrei
Ein Dorf in der winterlichen Po-Ebene.
Der Nebel steht zwischen den niedrigen grauen Häusern, so daß die
Konturen verschwimmen. Irma (Alida Valli), eine nicht mehr junge Frau mit stolzer
Haltung, geht ins Büro des Bürgermeisters, der ihr mitteilt, daß
ihr Mann verstorben sei. Acht Jahre zuvor war er nach Australien ausgewandert,
einzig eine Kiste mit seiner Habe soll ihr nun zugestellt werden. Irma nimmt
die Nachricht mit kaum merklicher Erleichterung entgegen. Sie geht zur Zuckerfabrik
im Ort und ruft Aldo (Steve Cochran) zu. daß sie ihm das Essen gebracht
habe. Aldo bemerkt sie vom Turm der Raffinerie aus; aber bevor er heruntergestiegen
ist, hat sich Irma weinend davongemacht. Aldo sucht Irma in ihrem gemeinsamen
Haus am Dorfrand, direkt hinter dem Damm. Dort findet er aber nur Rosina (Gabriella
Pallotti), ihre gemeinsame Tochter. Lina, Irmas Schwester, schaut herein, draußen
trifft sie Irma und mahnt sie zur Offenheit. Etwas Beklemmendes liegt in der
Atmosphäre, aber Aldo versteht nicht: für ihn ist die Todesnachricht
eine Erleichterung, weil das Paar nun endlich heiraten kann. Am anderen Morgen
erst sucht Aldo Irma draußen unter den Bäumen auf, wo sie ihm endlich
sagt, sie werde ihn verlassen, weil es nicht mehr so wie früher zwischen
ihnen sei. Der, zu dem sie gehen wird, ist während des Films nie zu sehen.
Aldo ist ein langsamer Mann mit vorsichtigem Gang. Wenn er die Hände aus
den Jackentaschen nimmt, sind sie oft zu Fäusten geballt. Aldo begreift
nichts, er ist kurz davor, Irma zu schlagen. Es folgt eine heimliche Verfolgungsjagd
zwischen ihm und ihr durch das enge Dorf. Irma versteckt sich bei ihrer Schwester.
Sie ist überzeugt, das Richtige zu tun, aber leidet mit Aldo. Vor den gleichmütigen,
dann neugierigen Nachbarn stellt Aldo sie auf der Straße und schlägt
sie. Irma erklärt diese öffentliche Szene zur Besiegelung ihrer Trennung.
Aldo verläßt mit der kleinen Rosina auf einem Pferdefuhrwerk den
Heimatort. Mit einem Blick zurück sieht man ein paar schwache Lichtpunkte
unter düsteren Dachkonturen, aber der Bauer auf dem Bock meint, Goriano
sei ein so hübsches Dorf, daß alle Leute dort glücklich sein
müßten.
Aldo geht zu seiner alten Freundin
Elvira (Betsy Blair), einem sanften freundlichen Mädchen. Man sieht ihrem
offenen Gesicht an, daß sie Aldo nie vergessen hat. Sie lebt als Näherin
zusammen mit ihrer Schwester in einem Haus unten am Fluß. Aldo gibt keine
klare Auskunft über sein Auftauchen, hilft, die Panne eines Rennbootfahrers
zu beheben, und zusammen macht man einen Sonntagsausflug unter Schirmen, um
das Rennen auf dem Po zu beobachten. Aldo könnte einen Mechanikerposten
in einer Zuckerfabrik außerhalb bekommen, müßte sich dann aber
von Rosina trennen. In seiner Abwesenheit taucht Irma bei Elvira auf und bringt
einen Koffer mit Rosinas Sachen. Elvira weiß nun, daß Aldo nicht
wegen ihr gekommen ist. Nach einer Tanzveranstaltung will sie eine offene Auskunft
über seine Absichten, aber er kann nichts antworten. Also schickt sie ihn
fort. In der Nacht versucht die kleine Schwester, die zur Dorf-Miss gewählt
worden war, eine eher kindliche Verführung. Aldo reagiert starr und ist
am anderen Morgen verschwunden. Der Schwester gegenüber zeigt Elvira, wie
schwer ihr sein Weggehen fällt, aber sie ist nicht sentimental und geht
weiter ihrer Arbeit nach.
Aldo wandert mit Rosina über
Landstraßen. Das Kind spielt, macht sich schmutzig, er fährt es an.
Rosina läuft weg, will nach Hause, gerät auf einem weiten, leeren
Gelände unter eine Gruppe alter Männer und fürchtet sich vor
ihren irren Grimassen. Aldo tröstet das Kind und schlägt ihm vor,
ein frisches Kleid aus dem Koffer zu holen. Rosina hält dagegen, die Mama
habe es nur für den Sonntag vorgesehen. Rosina trägt ihr Sonntagskleid
und legt ein Muster aus Steinen auf die staubige Straße, während
Aldo daneben eine Asphaltbahn legt. Ein Bus kommt heran, auf dem der Zielort
Goriano geschrieben steht. Aldo schaut ihm lange nach. Rosina sagt, der Bus
habe ihr Muster zerstört.
Aldo und Rosina fahren auf einem
Tanklastzug über Land und müssen an einer Tankstelle aussteigen. Sie
besteht aus ein paar Zapfsäulen, einem Schuppen und einem Bauernhaus an
der Straße, - ein kurioses Bild von Modernität in einer bäuerlichen
Landschaft. Virginia (Dorian Gray), eine junge Frau mit provozierend wiegendem
Schritt, ist die Besitzerin. Sie lebt allein mit ihrem alten Vater, einem Säufer
und Anarchisten, der sich mit kindischen Streichen dagegen auflehnt, daß
sein von Virginia verkauftes Land vermessen und aufgerissen wird.
Aldo und Rosina werden Zeugen,
wie Virginia einem Benzin-Schnorrer erfolgreich das Geld abjagt. Aldo macht
sich nützlich, bekommt dafür einen Schlafplatz und allmählich
entwickelt sich eine, von Virginia initiierte Affäre zwischen ihnen. Rosina
und der Alte bewerfen die Baumfäller auf seinem ehemaligen Grund mit Steinen
und singen Bandiera
rossa in
der Küche. Virginia findet die Zustände ihres Vaters unerträglich
und schafft ihn ins Altersheim nach Ferrara. Aldo folgt ihr deprimiert; es gibt
Streit zwischen beiden, wenn Rosina plötzlich verschwunden ist und aus
Virginias Bemerkungen klar wird, daß sie auch das Kind als störend
empfindet. Während der Suche in den Schutthalden der städtischen Bannmeile
verführt Virginia Aldo. Rosina bemerkt beide und läuft entsetzt davon.
Aldo setzt das Kind in den Bus
nach Goriano. Er gibt seine zuvor verfochtenen Rechte auf das Kind auf, weil
er nicht für es sorgen kann. Er läuft lange dem Bus hinterher und
ruft Beschwörungsformeln, daß alles wieder gut werde.
Aldo trifft auf eine Gruppe von
Fährschiffern, die in einer Barke den Winter ohne feste Arbeit zusammen
verbringen. Die Lage ist so schlecht, daß man mit Genuß ein Stachelschwein
verzehrt. Aldo schließt sich den Männern an und abends erzählt
der joviale Patron und Barkeneigner Gualtiero abenteuerliche Geschichten von
Kenia, Chile und Venezuela, von Nashorn-Steaks und Krokodilen. Aber Aldo interessiert
an den Auswanderer-Märchen nur, ob man im fremden Land nicht Heimweh bekomme.
Andreina erscheint, eine magere, hungrig aussehende junge Frau (Lyn Shaw), die
sich als Gelegenheits-Prostituierte zu erkennen gibt, aber in ihrer forschen
Vulgarität zugleich Stil betont: sie mag keinen roten Wein und keine an
Kerzen entzündeten Zigaretten. Aldos Art, ihr Feuer zu geben, fällt
ihr auf. Sie verschwindet mit Gualtiero.
Aldo und ein anderer Schiffer
holen sich Prospekte über Venezuela und üben die nicht sehr fremden
Worte für ihre Arbeit in spanisch. Aber Aldo wirft die Papiere fort und geht zurück, entdeckt
dabei Andreina vor ihrer armseligen Hütte hinter dem Damm. Sie ist dabei,
eine weiße Fahne für den vorüberfahrenden Doktor zu hissen,
weil sie krank ist. Aldo hilft der Kraftlosen und, obwohl sie ständig über
ihn spottet, hört man aus ihren Bemerkungen Dankbarkeit heraus. Sie kommentiert
ihr krankes Aussehen und versucht, Aldo zu halten. Er legt sich mit dem gleichgültigen
Arzt an, zwingt ihn, hereinzukommen, muß wegen der herannahenden Carabinieri
verschwinden.
Andreina sucht Aldo an der Flußmündung
auf. Er sitzt vor einer Hütte und klebt die Sohle an seinem Schuh fest.
Sie kommentiert abschätzig nüchtern die elende, surrealistisch anmutende
Kolonie aus Stroh. Ein Mann brät einen Fisch in Aldos Hütte. Trotz
ihrer forschen Klarsicht fühlt sich Andreina zugehörig: nur im Sommer
gebe es Arbeit für Frauen, sie habe ihr ganzes Geld unter die Leute gebracht,
wo es hin gehöre, und finde immer ein Bett. Sie ißt vor Hunger den
Fisch, den sie nicht mag. Andreina und Aldo machen einen Spaziergang am Meer
bei Ebbe. Sie findet ein paar Entenattrappen und freut sich wie ein Kind, schimpft
über sein Unvermögen, Spaß am Leben zu finden. Er antwortet
mit einer Geschichte von seiner ersten Begegnung mit Irma und entfernt sich
dabei von der zuhörenden Andreina. Im Dauerregen hocken beide in einer
durchnäßten Strohhütte, ohne Geld und Lebensmittel, am Ende.
Andreina ist wütend über Aldos Lethargie und geht wütend fort,
um irgendwo einen Freier aufzutreiben. Aldo ist ihr gefolgt und verlangt laut
Einlaß in eine dunkle verlassene Gaststätte. Andreina kommt herunter,
er fordert sie auf, nach Hause zu kommen. Böse hält sie ihm sein Desinteresse,
die Armut und ihren Hunger vor. Aldo geht einfach fort, während Andreina
ihn bittet, zurückzukommen.
Aldo ist auf dem Weg zurück
nach Goriano. Polizisten versperren die Straße, Aldo geht über den
Damm. Die Dorfbewohner begrüßen ihn, laufen aber alle in eine Richtung.
Eine Demonstration steht bevor, weil man Landebahnen bei dem Dorf bauen will.
Aldo interessiert sich nicht für diesen Aufruhr und geht in die andere
Richtung. Im Dorf beobachtet er Irma mit einem Baby hinter einem Fenster. Irma
beantwortet seinen Blick und will zu ihm. Aldo geht wie in Trance zu seiner
alten Fabrik, er ist der einzige auf dem Gelände, weil die Arbeiter aus
Solidarität für die enteigneten Bauern zu der Kundgebung gegangen
sind. Aldo steigt auf den Turm, seinen alten Arbeitsplatz, Irma ist ihm gefolgt
und ruft wie zu Anfang des Films seinen Namen. Aldo stürzt vom Turm herab.
Man hört Irmas Schrei.
Antonioni schrieb das Sujet zu
IL GRIDO (DER SCHREI) Ende der vierziger Jahre, als er sich zu anderen Filmarbeiten
in seiner Heimatgegend am unteren Lauf des Po aufhielt. Wie bei allen Filmen
hatte er Schwierigkeiten, einen Produzenten zu finden und den Film später
überhaupt fertigzustellen. Eine amerikanische Firma war beteiligt an IL
GRIDO. Die Besetzung mit englischsprachigen Schauspieler/inne/n erklärt
sich aber nicht aus dem Distributions-Kalkül, sondern entspricht Antonionis
experimentierenden Ausdrucksformen.
IL GRIDO reicht zurück zu
den Motiven des Dokumentarfilms GENTE DEL PO. Aber dieser einzige Spielfilm unter Arbeitern, Schiffern und
Deklassierten wird in einer formalen Stringenz erzählt, die sich von naturalistischer
Milieuzeichnung absetzt.
Am Beispiel IL GRIDO beschrieb
Antonioni später seine Auffassung von guten Filmschauspielern. Von Instinkt
und Intuition, von Improvisation und produktiven Fehlern ist die Rede; auch
vom falschen Streben Betsy Blairs, ihre Rolle im Ablauf einer Szeneneinheit
vorab verstehen zu wollen und von der Dummheit Steve Cochrans, von der Bildkomposition
her notwendige Bewegungen mit Hampelei zu verwechseln.
Schließlich beschreibt er
seine Methode der Mogelei, um Darsteller unwissentlich zur Spontaneität
zu verführen. Dies und seine oft wiederholte Erläuterung, sich am
Drehort an den ausgearbeiteten Entwurf zu halten und sich zugleich zu öffnen
für die konkrete Situation, - die Beziehung Darsteller / Schauplatz / innere
Dramaturgie -, sind die praktische Seite seines filmischen Formwillens [Michelangelo
Antonioni, Die Krankheit der Gefühle. Programmatisch-essayistisch sind
M.A.'s Überlegungen komprimiert in »Gedanken über den Schauspieler«,
Filmkritik, Nr.11, Nov.1967]. Antonioni löst sich so von puren Technizismen, etwa einer
manieristischen Wiederholung der vorher entdeckten Dolly-Fahrten in langen Einstellungen.
Differenzierend zwischen den Sujets und den physischen Realitäten zielt
er auf größtmögliche Einfachheit. Das Erzählte ist mehr
als die Summe der Handlungen des Personals.
In kontingenten Formen ist so
ein hermetischer Film entstanden, der nur in ablösbaren Partikeln des inneren
Motivs Einsamkeit oder des äußeren der Landschaft mit anderen Filmen
Antonionis korrespondiert.
IL GRIDO erinnert an musikalische
Kompositionsformen. In der Eingangssequenz bestimmt Irmas Weglaufen vor Aldo
das Tempo, bis zu dem Punkt, wenn das Dorf sich um die beiden Streitenden sammelt.
Am Schluß läuft umgekehrt Irma Aldo hinterher, während die Nachbarn
in andere Richtungen streben, wenn sich das private mit dem öffentlichen
Drama in keinem Punkt gemeinsamer Aufmerksamkeit mehr trifft. Zu Beginn und
am Ende gibt es das suggestive Bild des eisernen Turms, den anspannenden Blick
in die Vertikale. Alle anderen Bildebenen bestimmen die Horizontalen der Flußdämme,
Sandbänke, Landstraßen, Feldraine, Flachdächer und verschwommenen
Horizontlinien.
Die Landschaft erscheint nie in
pittoresker Tristesse für sich, sondern hat die Funktion von Schauplätzen,
aber wirkt über die Illustrierung hinaus. Milchige Leere, Nebel und Regen
sind wie ein Grundakkord.
In den niedrigen Häusern
und Hütten verzichtet Antonioni auf Kamerabewegungen. Türdurchblicke,
schmale Fenster, Möbelkanten halten die statuarische Enge an den Innenschauplätzen
fest. Aldos und Rosinas Irrfahrt gibt Raum für - oft in Antonioni-Filmen
- einbrechende Irritationen, wie Zeichen aus einer ungleichzeitigen Welt: die
UFO-ähnlichen Rennboote, die irren Alten, die kuriose Steinschlacht des
Kindes mit dem Säufer-Anarchisten gegen Bäumefäller, die Aufschneidereien
des heimgekehrten Auswanderers, der wie ein Moritaten-Sänger von den Leguanen
schwärmt.
Antonioni bricht die Regeln der
Montage, indem er oft die Reaktionen eines Gesichts zuerst und dann den Anlaß
zeigt - so in den Szenen Rosinas stiller Kommentare auf die Erwachsenen. Aldos
Herumirren mündet in drei Episoden mit drei Frauen, die alle einsam sind
wie er, aber vitalen Pragmatismus besitzen, während seine Lethargie zunimmt.
Je weiter er sich von Irma entfernt, desto stärker betont ist die erotische
Freizügigkeit, die ihm die Frauen anbieten. Mit Elvira und Andreina, zu
Beginn und am Ende der Irrfahrt, sind deren Ansprüche auf Gefühle
verknüpft. Bei Andreina schließlich ist der Anspruch elementar und
äußerlich; sie erwartet, nicht nur allein etwas zum Essen auftreiben
zu müssen.
Aldo kann zu keiner der Frauen
eine Beziehung finden. Bei Elvira und Virginia ist er nicht fähig zu sprechen.
In der Strandszene mit Andreina spricht er von Irma, wenn das Mädchen etwas
über ihn wissen will. Diese Szene faßt alle fremdgebliebenen Begegnungen
und den Angelpunkt seiner Welt zusammen. Sie ist in eigentlich zwei, nur indirekt
aufeinander bezogenen Monologen eine Anthologie-Sequenz des ganzen Films (vergleichbar
der Strandszene in DIE FREUNDINNEN). Aldo kann nicht vergessen. Sein Tod ist die radikale Konsequenz
daraus.
Antonioni setzte sich nach diesem
Film und den vorhergegangenen DIE FREUNDINNEN und TENTATO SUICIDO gegen die
Kritik zur Wehr, die ihn zum Anhänger einer schlichten Cesare-Pavese-Interpretation
stempelte und dessen Selbstmord zum zentralen Motiv Antonionis emporstilisierte.
Er tat dies brüsk ab, u.a. mit der Formulierung, der Unterschied sei, daß
Pavese tot sei und er lebe, und wies den Selbstmord als persönliche Lösung
von sich [Positif, Nr.30, Juli 1959, Questions á Antonioni]. Die Darstellung von Aldos Tod
schließt wie der Tod Fontanas in CHRONIK EINER LIEBE auch den notwendigen Zufall ein. Die Diskussion belegt die mechanischen
Interpretationsversuche von Antonionis Filme, die er selbst in keinem Fall pädagogisch
verstand oder als Definition praktischer Lösungen und Anleitungen.
IL GRIDO beschreibt seine Hauptfigur
so, daß Distanz zu ihr möglich wird. Ein übergreifender kritischer
Ansatz ist Gerard Gozlans Überlegung, der Film handle von einer Kritik
der Gefühle: »Da liegt der Skandal: ein Mann begeht Selbstmord, weil
ihn eine Frau verlassen hat; ein Mann begeht Selbstmord aus Liebe, da liegt
der Widerspruch. Auch hier könnte Brecht von einer >Krise des Empfindens<
sprechen, die für unsere verfaulten Traditionen und das Versagen einer
ganzen Skala unserer Gefühle bezeichnend ist, die nicht mehr mit der Wirklichkeit
übereinstimmen ... IL GRIDO ist nicht, wie man gern behauptet, ein Film
zum Ruhm der ewigen Liebe, sondern ganz einfach ein kritischer Film, dessen
Held weder schwach noch ohnmächtig, sondern einzig und allein von Sinnen
ist: IL GRIDO ist der Film der Gefühlsverwirrung ... die Macht und Tragweite
dieses Liebesfilms macht uns nachdenklich vor der Auffassung unserer Liebe,
unserem Liebeswahnsinn, unserer Liebesleidenschaft, unserem Liebesempfinden
usw.« [Gerard Gozlan, Positif, Nr. 35, März 60, zitiert nach P.
Leprohon].
Um Klarsicht bemüht, die sich trotzdem der Faszination nicht entledigt,
läßt dagegen Alfred Andersch eine seiner einsamen Hauptfiguren in
dem Roman Die
Rote über
den Film nachdenken. Er läßt IL GRIDO Revue passieren in der Phantasie
seines Musikers Fabio Crepaz, für den Liebe eine terra incognita ist: »Am
Ende der Stationen seines Dramas führte Antonioni Aldo in ein schwarzes
Paradies ohne Scham, als wolle er ihm beweisen, daß sein Drama auch dort
noch nicht endete, wo es mit allen Konventionen der Liebe vorbei war. Schließlich
hätte Aldo sich sagen können, daß seine ganze Affäre nicht
so wichtig sei, wenn es möglich war, die Beziehungen zwischen den Menschen
auf eine so einfache Weise zu regeln, wie die Tagelöhner der Emilia sie
übten. Aber Antonioni ließ Aldo hartnäckig an der Idee seiner
Liebe festhalten, was immer auch die Ethnologen der primitiven Stämme,
der Gesellschaften im Urzustand, dazu sagen mochten. Fabio bewunderte Antonionis
Eigensinn ... Aber wenn ich kennengelernt hätte, was Aldo kannte, überlegte
Fabio, woran hätte ich es erkannt? Woran erkennt man die Liebe? Er suchte
nach dem richtigen Wort, es konnte nur ein einziges Wort für das Wesen
der Liebe geben, und er fand das Wort: es hieß Abhängigkeit.« [Alfred Andersch, Die Rote, Zürich 1972].
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: * Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Der
Schrei
IL
GRIDO
Italien
1956/57
Regie: Michelangelo Antonioni – Sujet: Michelangelo Antonioni. - Drehbuch: Michelangelo Antonioni, Elio Bartolini,
Ennio De Concini. - Kamera: Gianni Di Venanzo. - Kamera-Führung: Enrico
Menzer. - Schnitt: Eraldo Da Roma. - Ton: Vittorio Trentino. - Ton-Schnitt:
Venanzio Lisca. -
Musik: Givanni Fusco; Interpretin: Lya De Barberis (Klavier). - Bauten: Franco Fontana. - Kostüme: Pia Marchesi.
- Regie-Assistenz: Luigi Vanzi. - Darsteller: Steve Cochran (Aldo), Alida Valli (Irma), Betsy Blair
(Elvia), Gabriella Palotta (Edera), Dorian Gray (Virginia), Lyn Shaw (Andreina), Mirna Girardi (Rosina), Gaetano Matteucci, Guerrino
Campanili, Pina Boldrini, Pietro Corvelatti. - Produktion: S.P.A. Cinematografica, Rom, in Zusammenarbeit
mit Robert Alexander Productions, New York.
- Produzent: Franco Cancellieri. - Produktionsleitung: Danilo Marciani.
- Mitarbeit: Ralph Pinto. -
Gedreht im Winter 1956/57 in der Unteren Po-Ebene: Occhiobello, Portelogoscuro,
Stienta, Umgebung von Ferrara, Po-Delta, Ca'Venier. - Format: 35 mm, sw. – Original-Länge: 116 min. – Deutsche Länge: 104 min. -
Uraufführung: 14.7. 1957, Filmfestival Locarno. – Deutsche Erstaufführung: 18.6. 1960. - TV: 2.4.1962,
4.1.1978, 28.11.1981 (S 3); 7.3.1978, 3.1.1982 (HR III); 26.10.1981 (WDR III).
– Verleih: offen.
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