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Schreie
und Flüstern
„Schreie
und Flüstern“ ist der vielleicht schonungsloseste Film Ingmar Bergmans.
Er handelt vom Tod. Das ist kein neues Thema für Bergman. Seit „Das Siebente Siegel“ ist der Tod ein ständiger Gast in seinen Filmen.
Doch dieses Mal ist der Tod nicht Thema philosophischer oder religionskritischer
Erwägungen. Es geht um den Vorgang des Sterbens - in allen seinen Einzelheiten,
es geht um viehische Schmerzen und Einsamkeit. Bergman erspart dem Zuschauer
nichts. „Schreie und Flüstern“ ist kein Film für einen netten Abend.
Es ist ein Film, den man erleidet. Und dennoch ist dieses Werk ein Plädoyer
für die Wärme des Lebens.
Am Beginn
sehen wir elegische Bilder aus einem herbstlichen Park und dann eine Uhr, die
von der Kamera in Großaufnahme abgetastet wird. Diese tickende Uhr ist
ein immer wiederkehrendes Motiv. Sie steht für die Zeit und für das
Leben und zwar für das ablaufende Leben, für das Leben zum Tode. Die
Kamera findet schließlich Agnes (Harriet Andersson), die gerade erwacht.
Wir sehen ihr zuckendes Gesicht und hören ihr Stöhnen. Agnes leidet.
Sie nimmt ein Tagebuch und trägt etwas ein. Mit der Nüchternheit einer
Chronistin stellt sie fest: „Es ist früher Montagmorgen. Ich habe Schmerzen.“
Agnes
leidet an Krebs im Endstadium. Sie lebt zusammen mit dem Hausmädchen Anna
(Kari Sylwan) im elterlichen Gutshof. Zur Betreuung der Sterbenden sind ihre
beiden Schwestern, Karin (Ingrid Thulin) und Maria (Liv Ullmann) angereist.
Der Film zeigt uns in langen Bildern die wenigen letzten Tage von Agnes. Es
gibt keine Erläuterungen, nur einige kurze schlaglichtartige Rückblicke
in das Leben der Familie. Agnes ist offensichtlich schon lange krank und sie
ist allein, während ihre beiden Schwestern gelinde gesagt unglücklich
verheiratet sind. Einmal erinnert Agnes sich an die Kindheit: „Noch immer kreisen
meine Gedanken um Mutter, auch wenn sie nun zwanzig Jahre tot ist. Für
mich war sie das Leben. Aber sie konnte auch abweisend, kalt und grausam sein.“
In der Geschichte dieser Familie muss es tiefe Verletzungen geben. Es sind in
der Hauptsache diese vier Frauen, Agnes, Anna, Karin und Maria, die den Film
bestreiten. Nur wenige andere Personen treten auf und dies nur für kurze
Szenen.
In keinem
anderen Film setzt Bergman so bewusst die Farbe ein wie hier. Die vier Frauen
sind konsequent weiß gekleidet, erst nach Agnes’ Tod tragen die Hinterbliebenen
Schwarz. Alle Innendekorationen sind rot. Rot sind die Wände, die Teppiche,
die Vorhänge und die Tischdecken. Die Figuren leben und bewegen sich in
einer Welt aus Rot. Bergman sagte hierzu in einem Interview, dass für ihn
Rot immer die Innenfarbe der Seele war. Handelt der Film neben seiner erzählten
Handlung auf einer zweiten Ebene im Inneren der Seele? Dies ist eine mögliche
Lesart. Die vier Frauen können so als vier Teile oder Ausprägungen
der Seele verstanden werden, als vier Teile einer Persönlichkeit.
Entsprechend
der Annahme der vier Seelenteile sind die vier Frauen völlig verschieden,
jede repräsentiert ein Element menschlicher Persönlichkeit. Karin,
die älteste Schwester steht für den Verstand. Sie ist streng und kalt,
wir finden sie beim Rechnen und Auflisten. Sie sagt von sich selbst, dass sie
ungeschickt und plump sei, dass ihre Hände ihr nicht gehorchten. Doch dies
ist nur ein Symptom. Sie hat ein gestörtes Verhältnis zu jeder Art
von Körperlichkeit, sie schreckt vor jeder Berührung zurück.
Ihr Antipode ist ihre jüngere Schwester Maria, die in ihren Körper
verliebt ist. Sie steht für Sinnlichkeit, aber eine Sinnlichkeit der Oberfläche,
der lächelnden Unverbindlichkeit. In einer Szene steht Maria mit David
(Erland Josephson), dem Arzt der Familie, ihrem früheren Geliebten vor
einem Spiegel und der Arzt liest aus ihrem gealterten Gesicht ihre Persönlichkeit:
Die Augen sind verstellend, der Mund zeigt einen Zug von Neid und Hunger, die
Falten kommen durch Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Müßigkeit,
Maria spottet zu oft. Maria ist der schöne Schein, ihr fehlt die Seele.
Die beiden Schwestern Karin und Maria können als eine Wiederholung der
feindlichen Schwestern aus „Das Schweigen“ verstanden werden. Doch diesmal wird
eine Synthese des Gegensatzes angedeutet.
Agnes
steht zwischen ihren Schwestern. Sie steht für das Gefühl, die seelische
Empfindsamkeit im eigentlichen Sinn, sie ist die Verbindung aus Verstand und
Sinnlichkeit. Und gerade sie muss sterben, denn in der bürgerlichen Welt
des Films, einer Welt die dominiert wird von kaltem kalkulierendem Verstand
und oberflächlichem schönen Schein ist kein Platz für die tiefe
Empfindsamkeit. Der innerste Teil der Seele muss sterben, oder besser absterben.
Nur in der zurückgezogenen Welt ihres Gutshofs und in ihrem intimen Tagebuch
kann Agnes leben.
Karin
und Maria repräsentieren diese äußere Welt. Der Zustand dieser
spätbürgerlichen Welt um die Jahrhundertwende wird uns in zwei kurzen
Rückblicken gezeigt, Szenen aus zwei Ehen. Maria ist verheiratet mit dem
weichlichen Joakim (Henning Moritzen). Ihre Gespräche sind distanziert
und sachlich. Diese Ehe ist nur noch bloßer Schein, neben dem Maria ihre
Verhältnisse pflegt, wie zu dem Arzt David. Joakim weiß oder ahnt
dies, doch statt eine Auseinandersetzung, statt überhaupt ein Gespräch
zu suchen, versucht er sich zu töten. Sein dilettantischer Selbstmordversuch
in der Art eines Samurai scheitert kläglich. Maria findet ihn blutend und
jammernd vor seinem Schreibtisch. Er bittet sie „Hilf mir“. Doch Maria schreckt
stumm zurück und geht. Sie ist unfähig, mit einer solchen Situation
umzugehen, einer Situation, die den schönen Schein brutal durchbricht.
Ein größeres Maß an Entfremdung als in dieser Beziehung scheint
kaum vorstellbar. Doch Bergman schafft es, dieses Bild durch ein noch stärkeres
zu überbieten. Karin ist verheiratet mit Frederik (Georg Årlin),
einem kalten gefühllosen Zyniker, und diese Ehe ist der innerste Kreis
der Hölle. Wir finden die Partner beim Abendessen und es wird spürbar,
dass diese Beziehung nur noch aus äußeren Ritualen besteht, es wird
aber auch spürbar, in welchem Maße Karin unter dieser emotionalen
Eiseskälte leidet. „Alles ist nur ein Haufen von Lügen, Alles“, ruft
sie verzweifelt, als sie allein ist. Von einem zerbrochenen Weinglas behält
sie eine Scherbe zurück, mit der sie sich nach dem Entkleiden in die Vagina
schneidet, d.h. sich zumindest symbolisch beschneidet. Ihr Gesichtsausdruck
bei dieser Selbstverstümmelung drückt neben Schmerz gleichzeitig Lust
aus. Als sie ins Bett steigt, fasst sie sich in ihr Geschlecht und schmiert
sich das Blut vor Frederiks Augen mit triumphierendem Lächeln ins Gesicht.
Die Welt
des Films ist eine Welt der Formen und des Scheins, eine Welt des gebändigten
Gefühls, eine Welt in der das echte Gefühl zum Absterben verurteilt
ist. Der Tod bricht laut und schmerzhaft in diese Welt ein und zerbricht sie.
Wir sehen Agnes sterben, wir sehen ihr verschwitztes Haar, ihre rissigen Lippen
und wir hören sie vor Schmerzen schreien. Bergman zieht sich nicht auf
eine gefällige Perspektive zurück, er macht uns zu Zeugen der quälenden
Einzelheiten. Dabei erreicht der Film ein schwer erträgliches Maß
an Privatheit und Intimität. Man möchte sich fast abwenden. Aber die
Kamera bleibt dabei. Agnes schreit vor Schmerzen und ruft: „Helft mir doch!“
Die Reaktionen der Schwestern sprechen für sich: Karin flieht in die Sachlichkeit,
sie geht den Arzt holen, Maria wendet sich ab, sie leidet, aber sie leidet,
weil die Situation sie überfordert, sie will einfach weg. Es ist Anna,
das Hausmädchen Anna, die Agnes als einzige Hilfe bietet. Sie steigt zu
Agnes ins Bett und sie streichelt und küsst die Sterbende zärtlich.
Schließlich entkleidet sie sich halb und bettet Agnes an ihre nackte Brust.
Diese Szene hat nichts Erotisches und nichts Anstößiges, sondern
sie drückt reine Mitmenschlichkeit aus.
Anna
bietet der Sterbenden ihren Körper als Hilfe. Sie kann keine Heilung bieten,
auch keine Betäubung des Schmerzes, aber sie kann Mitmenschlichkeit bieten.
Als Ausdruck dieser Mitmenschlichkeit bietet sie ihren eigenen Körper,
sich selbst. Es ist auffallend welche zentrale Rolle die Körperlichkeit
in Bergmans Film einnimmt. Wir erfahren das Sterben als Agonie des Körpers,
wir sehen Karins Angst vor jeder körperlichen Berührung und wir sehen,
wie Maria ihren Körper als schöne Oberfläche liebt. Die Welt
des Films ist gestört, weil die Beziehung zum Körper gestört
ist. Es ist die Figur Annas, die als einzige ein ursprüngliches Verhältnis
zum Körper hat. Für sie ist Körperlichkeit der tiefste Ausdruck
menschlicher Solidarität, Mitmenschlichkeit in ihrer tiefsten Form. Anna
bietet körperliche Erleichterung als Erleichterung auch seelischen Leides,
und sie bietet dazu die Wärme ihres eigenen Körpers, ihre entblößte
Brust. Darin liegt die hohe bildliche Symbolkraft dieser Szene.
Nach
Agnes' Tod mutet uns Bergman zur Bekräftigung nochmals eine Wiederholung
dieser Szene zu. Agnes erhebt sich als Untote aus ihrem Sarg und bittet um Hilfe.
Zum letzten Mal hören wir diese kreatürliche Bitte um Hilfe. Es ist
keine Wiederauferstehungsszene in einem irgendwie religiösen Sinn, denn
Agnes bestreitet nicht, dass sie tot ist. Aber sie bittet um Wärme. Die
Szene ist so angelegt, dass sie als Traumszene verstanden werden kann, und zwar
als Annas Traum. In dieser Szene wird nochmals der symmetrische Aufbau des Films
wiederholt. So wie vorher in den Rückblicken die beiden Schwester gezeigt
wurden, so erfolgt jetzt ihre exemplarische Bewährungsprobe. Agnes ruft
zuerst Karin zu sich und bittet sie, ihre Hände zu halten. Doch Karin weist
sie zurück, sie bringt als Verstandesmensch rationale Argumente und schreit
Agnes schließlich entgegen, dass sie sie nicht liebt. Als nächstes
soll Maria sie halten und wärmen. Maria kommt und erklärt, dass sie
Mitleid habe, doch dann reißt sie sich los und flieht. Es ist wiederum
nur Anna, die bei der Toten bleibt und sie nochmals an ihre nackte Brust bettet,
in der Haltung der Pieta. Die Kamera hält dieses Bild lange fest. In ihm
kulminiert das Anliegen des ganzen Films. Der Sinn dieser Traumszene liegt darin,
dass hier nochmals ausdrücklich dargestellt wird, was die Sterbende erhofft
hatte. Sie wollte nicht die Geschäftigkeit der pflegenden Schwestern, sie
wollte nur menschliche Wärme, sonst nichts.
Anna
bleibt während des ganzen Films eher still, aber doch ständig präsent.
Sie ist immer zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wird. Wir erfahren, dass
Anna eine Tochter hatte, die schon als Kind gestorben ist. In einer Szene ziemlich
am Anfang des Films sehen wir Anna bei der Morgentoilette. Sie kniet vor einem
Bild, das sie zusammen mit ihrer Tochter zeigt und betet. Sie dankt Gott und
bittet ihn für ihre Tochter. Dann nimmt sie einen Apfel und beißt
herzhaft hinein. Religion spielt im ganzen Film nur eine marginale Rolle und
es geht in dieser Szene auch nicht um Religiosität im eigentlichen Sinn.
Bergman veranschaulicht uns hier Annas naives Gottvertrauen, das zugleich ein
Weltvertrauen ist. Anna erwartet keinen Lohn und sie hadert nicht mit dem Schicksal.
Ohne dies zu benennen, verkörpert Anna aber eine gleichsam urchristliche
Güte, die nichts mit der formalen Religiosität der bürgerlichen
Gesellschaft zu tun hat. Als Anna nach der Beerdigung von der kaltherzigen Familie
ausgezahlt und entlassen wird, bietet man ihr an, dass sie sich etwas aus Agnes
Besitz behalten darf. Doch sie lehnt dankend ab, sie will nichts. Anna handelt
nicht wegen einer Belohnung gut, sie handelt so aus reiner mitmenschlicher Solidarität.
Wenn Karin den Verstand, Maria die Sinnlichkeit und Agnes die empfindsame Seele
repräsentieren, so steht Anna für das ursprüngliche Leben. Sie
verkörpert die ungekünstelte Basis menschlicher Seelenregungen. Unbefangene
Sinnlichkeit, praktisches Zupacken und reine Mitmenschlichkeit. Anna steht für
Menschlichkeit vor jeder Entfremdung. Die soziale Komponente, der Klassenunterschied
zwischen Anna und den großbürgerlichen Schwestern wird von Bergman
nicht ausdrücklich thematisiert. Die Entfremdung von jeder Humanität
bei den Vertretern des Großbürgertums wird jedoch sehr deutlich,
und zwar als Entfremdung, die sowohl den Umgang mit anderen wie auch die eigene
Erlebensfähigkeit betrifft.
Die am
wenigsten entfremdete von den drei Schwestern ist Agnes. Trotz oder vielleicht
gar wegen ihrer Krankheit und ihres bevorstehenden Todes gelangt Agnes zu einem
vertieften Lebensverständnis und Lebensgefühl, das ihren Schwestern
verwehrt bleibt. Einmal liest Karin in Agnes Tagebuch und findet folgende Stelle:
„ Mir ist das Schönste zu Teil geworden, was ein Mensch erfahren kann:
Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft, menschliche Wärme, Vertrauen. Das
ist es, was man Gnade nennt.“ Als habe Anna instinktiv gespürt, dass die
Schwestern Agnes’ Aufzeichnungen gar nicht verstehen können, hat sie dieses
Tagebuch für sich behalten. Sie schlägt das Buch auf und liest eine
Stelle, die von den letzten Bildern des Films illustriert wird. Wir sehen die
vier Frauen in Weiß gekleidet bei einem Spaziergang im Park. Diese Bilder
knüpfen an den Anfang des Films an. Der Kreis schließt sich. Und
wir hören zum Abschluss Agnes’ Stimme: „Alle Schmerzen waren verschwunden,
ich spürte die Gegenwart ihrer Körper, die Wärme ihrer Hände.
Diesen Augenblick für immer festzuhalten, wäre das höchste Glück.
Ich empfinde große Dankbarkeit gegenüber einem so reichen Leben.“
Siegfried König
Schreie und
Flüstern
Viskingar och
rop
Schweden 1972,
Regie: Ingmar Bergman, Buch: Ingmar Bergman, Kamera: Sven Nykvist, Produzent:
Lars-Owe Carlberg. Mit: Harriet Andersson, Kari Sylwan, Ingrid Thulin, Liv Ullmann,
Anders Ek, Erland Josephson, Henning Moritzen, Georg Årlin.
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