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Scream – Schrei!

Wes Cravens „Scream“ verletzt eine der ältesten Regeln der Filmgeschichte: Er handelt von Charakteren, die regelmäßig ins Kino gehen. Sie haben sogar von Filmstars gehört. Sie erwähnen namentlich Tom Cruise, Richard Gere und Jamie Lee Curtis. Sie analysieren die Motivationen der Figuren („Hatte Norman Bates ein Motiv? Brauchte Hannibal Lecter einen Grund dafür, daß er Leute aufessen will?“). Natürlich gingen auch die Figuren von „Die letzte Vorstellung“ ins Kino, und die Helden von „Clerks“ arbeiteten in einem Videoladen. Sogar Bonnie und Clyde gingen ins Kino. Aber in diesen Filmen ging es um den Akt des Kinoganges; bei „Scream“ geht es um die Kenntnis von Filmen: Die Figuren von „Scream“ befinden sich in einem Horrorfilm, und weil sie so viele Horrorfilme gesehen haben, wissen sie, was man tun sollte und was besser nicht. „Sag niemals: ‚Ich komme gleich wieder’“, klärt einer der Jugendlichen einen Freund auf. „Denn wann immer einer das sagt, kommt er niemals wieder.“ In gewisser Weise war dieser Film unausweichlich. Viele moderne Filmkritiken betreiben „Dekonstruktion“ der Filmhandlung. „Dekonstruktion“ ist ein akademisches Wort und bedeutet, daß man über einen Film das sagt, was ohnehin schon jeder weiß, aber in Worten, die keiner kapiert. „Scream“ dekonstruiert sich selbst. Es ist wie bei einer dieser Suppendosen, die sich selbst erhitzen.

 

Anstatt es dem Publikum zu überlassen, die Horrorklischees vorauszuahnen, reden die Charaktere offen darüber. „In Horrorfilmen geht es immer um irgendeine großbusige Blondine, die in den ersten Stock rennt, damit der Mörder sie auch ja in die Enge treiben kann“, stellt eine der Figuren fest. „Ich hasse es, wenn die immer so blöd sind.“ Natürlich beginnt der Film mit einer jungen Frau (Drew Barrymore), die allein zuhause ist. Sie kriegt einen Drohanruf von jemandem, der sich anhört wie ein böser Jack-Nicholson-Stimmenimitator. Sie steht vor einer großen Verandatür aus Glas, durch die man in die tiefschwarze Nacht hinaussehen kann. Sie geht in die Küche, wo eine Menge richtig großer Messer herumliegen. Man kennt das ja.

 

Später treffen wir eine andere junge Frau (Neve Campbell). Ihr Vater ist übers Wochenende verreist. Ihre Mutter wurde ermordet, das war... meine Güte, das war ja auf den Tag genau vor einem Jahr! Ihr Freund klettert durch das Fenster. Auf ihrer High School gehen Gerüchte von rituellen Morden um. Der Mörder trägt eine Halloweenmaske die „Gevatter Tod“ heißt. Es gibt wieder Anrufe, wieder Mordversuche. Zum Kreis der Verdächtigen gehören ihr Freund, ihr Vater, und eine Menge anderer Leute. Ein nette Idee nebenbei: Der Rektor der High School ist Fonzie aus „Happy Days“.

 

Das ist so in etwa die Handlung des Films. Bei „Scream“ geht es nicht um die Handlung. Es geht um „Scream“ selbst. Anders ausgedrückt geht es um zwei Charaktere, die wissen, daß sie sich in einer Handlung befinden. Diese Figuren lesen das „Fangoria“-Magazin. Sie benutzen sogar Dialoge, wie sie nur in Filmen vorkommen: „Er hat mich gestern nacht angegriffen und beinahe filetiert.“ Die Hauptfigur hat sich die sexuellen Avancen ihres Freundes bisher erwehrt, und das war vermutlich auch besser so. Eine andere Figur erklärt, daß in den Horrorfilmen am Schluß die Jungfrauen überleben. Nur die unanständigen Jungs und Mädchen werden in Stücke geschnitten. Weil sie bemerken, daß sie sich mitten in einem Horrorfilm befinden, reden die Figuren auch darüber, wer sie in einer späteren Filmversion einmal verkörpern könnte: „Ich sehe mich selbst eher so als junge Meg Ryan. Aber bei meinem Glück kriege ich wahrscheinlich Tori Spelling.“ Der Film funktioniert, trotz aller ironischer Insiderwitze, auch als Horrorfilm – ein blutiger und grausamer, der genauso viele Klischees bedient wie veräppelt.

 

Eine dieser typischen Szenen ist die, in der jemand unerwartet ins Bild tritt und der Protagonistin einen Heidenschreck einjagt, während ein düsterer Musikeinsatz auf der Tonspur hämmert. Ich liebe solche Szenen, weil a.) die Musik vor Gefahr warnt, aber b.) die unerwartete Person natürlich immer ein harmloser Freund ist und c.) obwohl wir den Neuankömmling nicht gleich erkennen können, weil die Kamera so nah dran ist, die Protagonistin so steht, daß sie ihn natürlich schon die ganze Zeit erkannt haben sollte.

 

Auch mit der Darstellung von Fernsehreportern im Horrorfilm spielt „Scream“ sehr kenntnisreich. Die Reporterin in diesem Film, Courtney Cox aus „Friends“, stellt hinreißende Fragen wie: „Wie fühlt man sich, wenn man gerade beinahe das Opfer eines Serienmörders gewesen ist?“ So smart sie auch ist, sie schlägt dem örtlichen Sheriff dann doch vor, zu einem abgelegenen Ort auf dem Land nicht mit dem Auto zu fahren, wo es doch ein so schöner Spaziergang ist – an einer verlassenen Landstraße entlang mitten in tiefster Nacht, während gerade ein Serienkiller unterwegs ist.

 

Was ich von diesem Film halte? Als Kritiker mochte ich ihn. Ich mochte die Insiderwitze und die Figuren, die sich ihrer Geschichte so bewußt waren. Gleichzeitig ist mir die unglaubliche Menge an Gewalt in diesem Film aufgefallen, er ist richtig brutal. 

 

Wird die Gewalt durch den ironischen Selbstkommentar des Films entschärft? Für mich schon. Für andere wohl nicht, denen werden dann ganz schön die Haare zu Berge stehen. In welche Kategorie fallen Sie selbst? Hier ist ein einfacher Test: Als ich das „Fangoria“-Magazin erwähnte habe, wußten Sie da, wovon ich sprach?

 

Roger Ebert

 

aus dem Englischen übersetzt von Daniel Bickermann

Der Original-Text ist erschienen bei www.rogerebert.com

Zu diesem Film gibt es im archiv mehrere Texte

 

 

Scream - Schrei!

SCREAM

USA - 1996 - 111 (gek. 110) min. – Scope - FSK: ab 18; nicht feiertagsfrei (gek.16) - Verleih: Kinowelt - VCL (Video) - Erstaufführung:

30.10.1997/24.3.1998 Video

Regie: Wes Craven

Buch: Kevin Williamson

Kamera: Mark Irwin

Musik: Marco Beltrami

Schnitt: Patrick Lussier

Darsteller:

Neve Campbell (Sidney Prescott)

David Arquette (Deputy Dewey Riley)

Courteney Cox (Gale Weathers)

Jamie Kennedy (Randy)

Skeet Ulrich (Billy Loomis)

Rose McGowan (Tatum Riley)

Kevin Patrick Walls (Steven)

Drew Barrymore (Casey)

David Booth (Caseys Vater)

Carla Hatley (Caseys Mutter)

Matthew Lillard (Stuart)

Linda Blair (ungenannt)

Wes Craven (ungenannt)

Priscilla Pointer (ungenannt)

Henry Winkler (ungenannt)

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