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Sein
Bruder
Berlinale-Kritik
"Intimacy",
Patrice Chereaus Berlinale-Gewinner von 2001, war ein Film über die Nähe,
die entsteht, wenn zwei wildfremde Menschen außerhalb aller gesellschaftlicher
Bindungen im Sex, also über ihre Körper zueinander finden. Mit "Son
Frere" setzt Chereau seinen Erkundungen über menschliche Körper
und menschliche Bindungen fort - und radikalisiert sie. Es geht diesmal nicht
um Sex und nicht um Fremde, sondern um das noch viel intimere Verhältnis
zwischen den zwei einander lange entfremdeten Brüdern Luc (Eric Caravaca)
und Thomas (Bruno Todeschini), die durch die Krankheit des einen zu einer ihnen
zuvor ganz unbekannten Nähe finden.
Thomas'
Körper ist buchstäblich von der Auflösung bedroht. Seine Blutplättchen
verschwinden, aus Gründen, nach denen die Ärzte suchen, die sie aber
nicht finden. Diese Krankheit ist mit Bedacht gewählt: die Blutplättchen
sind für die Abdichtung des Körpers nach außen zuständig,
sie verhindern das Ausbluten, indem sie an den Bruch- und Schnittstellen einen
Damm errichten, einen Schutzwall. Sie sind der letzte Halt des Individuums,
indem sie seine Außengrenzen sichern. Dieser Schutz bricht für Thomas
zusammen, jede Blutung kann ihn töten. In seiner Not sucht er seinen Bruder
auf, verspricht sich Halt von ihm und Hilfe.
Damit
ist das grundlegende gesellschaftliche System zur Ordnung des Zusammenlebens
ins Spiel gebracht, die Familie. Es ergeht den Brüdern aber wie Thomas'
Körper: die Grenzen und Barrieren, die sie seit der Pubertät getrennt
haben, lösen sich auf. Luc wird zur sorgenden Mutter, zum besten Freund,
beinahe zum Liebhaber seines Bruders, ein Muster symbiotischer Fürsorge
für den todkranken Thomas. Die Intimität, die entsteht, ist ungeheuer
- viel ungeheurer als die, die der Sex in "Intimacy" herbeigeführt
hat. Und sie ist nicht weniger eine Sache der Körper, der Bloßstellung
des kranken Körpers und der Reduktion des Menschen in der Krankheit auf
seine hinfällige Körperlichkeit.
Chereau
inszeniert diese Annäherung sehr schlicht, mit viel Handkamera, den Blick
immer auf die Gesichter der Brüder gerichtet - und, das ist die Hauptsache,
niemals abwendend vom Elend der Versehrungen, die die Krankheit anrichtet -
und sei es in den zunehmend verzweifelten Heilungsversuchen der Ärzte.
Der Höhepunkt, fast zehn atemberaubende Minuten lang, ist die Vorbereitung
auf eine Operation. Es geschieht nicht mehr als die Rasur von Thomas Achseln,
seines Oberkörpers, der Schamhaare durch zwei ganz sachlich vorgehende
Schwestern (das Geschlecht ist durch ein Tuch schamhaft verdeckt).
Der
Blick der Kamera auf dieses Geschehen ist von faszinierender Selbstverständlichkeit,
hat mit Voyeurismus nicht das mindeste zu tun. Es ist auch der Blick Lucs, der
immer anwesend bleibt, wenig spricht, sich aufopfert als letzter Hüter
seines Bruders. Den Grund benennt er selbst sehr schlicht: es ist nicht Liebe
und nicht Pflichtbewusstsein. "Du hast mich um Hilfe gebeten, also helfe
ich dir." Eine Selbstaufopferung, die nicht ohne Folgen bleiben wird, die
ein Leben aus der Bahn wirft. Davon aber, von den Leben außerhalb dieser
Beziehung, erfahren wir kaum etwas, nur Thomas' bald überforderte Freundin
und Vincent, Lucs Liebhaber, kommen ins Spiel, Luc wird Vincent am Ende verlassen.
Erzählt
ist "Son Frere" auf zwei Zeitebenen. Die Gegenwart ist der Aufenthalt
der Brüder an einem Rückzugsort am Meer. Thomas hat alle Behandlungsversuche
aufgegeben, bereitet sich auf den Tod vor. In Rückblenden erfährt
man die Vorgeschichte, die Annäherung der beiden, dieser Teil spielt vor
allem im Krankenhaus. Mit zwei Ausnahmen verzichtet Chereau auf den Einsatz
von Musik - umso eindrucksvoller die entrückt wirkenden Szenen, die mit
einem der wunderbar pathetischen Songs von Marianne Faithful unterlegt sind:
Hier lösen sich die Grenzen in einem Traumbild endgültig auf, die
Brüder scheinen eins fast bis zur Ununterscheidbarkeit für den Augenblick.
Ekkehard
Knörer
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Sein
Bruder
Frankreich
2002 - Originaltitel: Son Frère - Regie: Patrice Chéreau - Darsteller:
Bruno Todeschini, Eric Caravaca, Maurice Garrel, Antoinette Moya, Fred Ulysse,
Nathalie Boutefeu, Catherine Ferran, Sylvain Jacques - FSK: ab 12 - Länge:
92 min. - Start: 6.11.2003
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