Auf „Haben oder Sein“, das populärphilosophische Buch von Erich Fromm aus den Siebzigern, bezöge sich der Titel dieses Dokumentarfilms, liest man in jeder zweiten Kritik. Allein: Es fehlen die Anhaltspunkte dafür. Mit den west-östlichen alternativen Lebensmaximen Haben oder Sein beschäftigt sich keines der 12 Dorfschulkinder in der französischen Auvergne, weil für diese Neuzugänge auf diesem Planeten beides, Haben und Sein, gleich wichtig, weil gleich neu ist - und weil der Lehrer Monsieur Lopez dafür da ist, ihnen beides zu erklären.
„Wieviel sind drei mal fünf Ohrfeigen?“ versuchen die bäuerlichen
Eltern die schwierige Mathematik, die Lehre der Quantität, also des HABENS,
zuhause zu veranschaulichen, weil in mancher der ländlichen Familien Schläge
ein gebräuchliches Lernvehikel sind und das Söhnchen Probleme mit
Mathe hat. Georges Lopez, von seinen Schülern mit ehrfürchtiger Liebe
"Monsieur" genannt, kennt Seele und Materie, Qualität und Quantität,
Ethik und Mathematik gut genug um seinen kleinen Schülern beides besonnen
zu vermitteln.
Etwa ein halbes Jahr lang wird die einräumige Schule mit
Kindern zwischen sechs und vierzehn Jahren beobachtet. Stets ist das Lernen
mit dem SEIN in der Gemeinschaft, der Natur und den Jahreszeiten, der Qualität,
verknüpft. Im Winter wird gerodelt, im Sommer gepicknickt. „Monsieur“ kümmert
sich um das Essen, trockene Kleidung, um Kindergeburtstage und um ein faires
Miteinander. Aber meistens wird mit unermüdlicher Geduld gelehrt und gelernt,
individueller, als es jede andere Grundschule leisten kann, weil „Monsieur“
für jede und jeden Zeit hat. Wir sehen, wie verschieden diese Kinder sind,
wir rühren an ihre familiären Hintergründe, wir erfahren, dass
die Grenze zwischen Spielen und Lernen fließend sein kann, wir staunen,
wie friedlich zwölf verschieden alte Kinder in einem Klassenzimmer gemeinsam
lernen können, wir lernen aber vor allem dies: Man kann jedes Kind auf
besondere Art lieben. Georges Lopez, der Lehrer kurz vor der Pensionierung,
macht es uns vor.
Liebe und ihre Attribute Toleranz, Nachsicht, Güte, Einfühlung und Respekt, „Sein und Haben“ stellt sie uns vor, als seien sie neueste pädagogische Errungenschaften,- oder kommt uns das nur so vor, weil wir in unseren großen Lernmaschinen und mit unseren Stressberufen keine Zeit mehr dafür haben? Wann nehmen wir uns schon noch die Zeit, ein in seiner Gedankenwelt entrücktes Kindergesicht so lange und zärtlich zu betrachten, wie die unaufdringliche Kamera des Dokumentarfilmers Nicolas Philibert es tut?
In Cannes wurde „Sein und Haben“ begeistert aufgenommen, Publikum
und Kritik loben den Film überschwänglich, u. a. weil man sich „zauberhaft
an die Kindheit erinnert“ fühle, er sei „unentbehrlich“, weil er „ein Film
über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden“ sei. Dabei zeigt der Film
keine neuen, Aufsehen erregenden, Erziehungsmethoden, keine bahnbrechenden Erkenntnisse
über das Heranwachsen, nichts, was uns hat entgehen können, solange
wir selbst Kinder waren oder Eltern sind. "Sein und Haben" zeigt nur
das eigentlich Selbstverständliche, das Mindestmaß einer humanen
Pädagogik: respektierte Schüler mit einem respektvollen, sorgsamen
Lehrer. Wie falsch leben wir eigentlich, wenn etwas so nahe Liegendes wie das
Kindsein und ein liebevoll erzieherischer Umgang mit Kindern uns schon so fremd
sind, dass wir deren Dokumentierung als etwas "Unentbehrliches" und
"zauberhaft" Exotisches feiern müssen?
Être et avoir. F 2002. R,K,S: Nicolas Philibert.
K: Laurent Didier, Katell Dijan, Hugues Gemignani. M: Philippe Hersant. P: Canal+, Gimages 4 u.a. D: Georges Lopez
u.a. 104 Min. Ventura ab 16.1.03
Auf DVD erhältlich bei: AbsolutMedien