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Seit
Otar fort ist ...
Das
Beste an Seit
Otar fort ist...
sind seine Schauspieler: Mit unglaublicher Intensität spielen Esther Gorintin,
Nino Khomassouridze und Dinara Droukarova drei Frauen, die nicht nur einzelne
Charaktere sind, sondern auch drei ganze Generationen repräsentieren. Die
drei Frauen leben unter einem Dach, und doch wird ihr Leben von einem Mann bestimmt,
einem beständig abwesenden noch dazu: Otar, der vor Jahren fortgegangen
ist nach Paris und die drei zurück gelassen hat in Georgien, wo sie lediglich
gelegentlich Briefe von ihm bekommen, manchmal auch einen beigelegten Geldschein.
Regisseurin Julie Bertuccelli schildert zu Anfang des Films den Zwiespalt, in
dem Otars Schwester lebt: in beständiger Eifersucht auf ihren scheinbar
so erfolgreichen Bruder einerseits, mit der alltäglichen Arbeit für
sich und ihre Mutter beladen andererseits. Otar ist das Musterkind der Familie,
obwohl man von ihm nichts zu sehen bekommt als Papier. Seine Abwesenheit wird
auch dem Zuschauer spürbar gemacht. Das einzige, was man von Otar im ganzen
Film sieht, ist ein altes Foto, eine Fälschung noch dazu, wie sich später
herausstellt.
Das
Foto als Fälschung ist dabei nur eine kleine Metapher für die viel
größere Fälschung, die Lüge, die schon ziemlich früh
in Julie Bertuccellis Film ins Leben der drei Frauen kommt: Otar kommt bei einem
Unfall in Paris ums Leben, und weder die Tochter Ada (Dinara Droukarova) noch
ihre Mutter Marina (Nino Khomassouridze) bringen es fertig, Marinas Mutter Eka
die Wahrheit zu erzählen. Sie schaffen eine Kunstwelt, in der Otar noch
lebt, Marina imitiert seine Handschrift, schreibt Briefe und finanziert mit
dem heimlichen Verkauf einiger Bücher Otars und der Großmutter das
gelegentliche Beilegen der gewohnten Geldsummen. Die Lüge wird zur Lebensgrundlage
aller drei Frauen, und das ist sicher auch eine Allegorie auf die Vergangenheit
des Landes, von der der Film erzählt: Georgien lebte lange unter stalinistischem
Regime, und die Reste dieser Erfahrung blitzen noch immer hervor unter den Fassaden
der älteren Generation. Was Ada und Marina der Großmutter Eka vorspielen,
scheint eine Miniatur der Lüge der letzten Generation zu sein - das Nicht-Anerkennen
der Realität, nur um das eigene Leben und das der Geliebten erträglich
zu machen. Ada und Marina sehen weg, um es Eka - und damit sich selbst - zu
erlauben, glücklich zu bleiben. Vom Regime als erlogener Familie erzählt
Bertuccelli, und dieser Mikrokosmos ist es, der ihre Fabel glaubhaft werden
läßt und die Metapher mit Leben füllt.
Eka
jedoch, und damit hatten ihre Nachfahren wohl nicht gerechnet, ist hartnäckig:
Sie möchte mit Ada und Marina nach Paris, Otar besuchen, und sie ist selbstständig:
Allein kümmert sie sich um die Visa, und die Tickets werden kurzerhand
durch den Verkauf ihrer großen Bibliothek finanziert. Und wenn schließlich
Eka auf vielen Umwegen doch die Wahrheit erfährt, dann reagiert sie auf
die einzige Art, die möglich zu sein scheint nach einer so langen Zeit,
die sie mit der Lüge gelebt hat: mit einer neuen Lüge, die die alte
ablöst - so erspart sie sich auch den Besuch von Otars Grab in Paris und
lebt weiter im Glauben an sein Leben. Seit
Otar fort ist...
ist ein kleiner, durchaus sehenswerter Film, und dass seine Erzählung einige
Lücken und Längen hat, wird allemal wettgemacht durch die drei Schauspielerinnen,
deren Charisma leicht über den gesamten Film tragen.
Benjamin
Happel
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Seit
Otar fort ist ...
Frankreich
/ Belgien 2003 - Originaltitel: Depuis qu'Otar est parti - Regie: Julie Bertuccelli
- Darsteller: Esther Gorintin, Nino Khomassouridze, Dinara Droukarova, Temour
Kalandadze, Sacha Sarichvili, Roussoudan Bolkvadze - Länge: 99 min. - Start:
6.5.2004
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