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Serpico
Die
Umkehrung der Verhältnisse
"Es war einmal
ein König. Der regierte sein
Reich friedlich
und glücklich. Der König
besaß einen
großen Brunnen, aus dem
reichlich Wasser
floss. Alle Bürger seines
Landes und er
selbst tranken aus ihm.
Aber eines Tages
vergiftete eine böse
Hexe den Brunnen.
Und als die Leute
aus ihm tranken,
wurden sie alle verrückt.
Nur der König
trank das vergiftete Wasser
nicht. Da meinten
alle seine Untertanen,
der König
sei verrückt, und sie setzten
alles daran, dass er abdanke.
Der
König war
verzweifelt. Schließlich trank
auch er aus dem
Brunnen. Und da
geschah es, dass
ihn alle seine Untertanen
wieder für
normal hielten."
Wenn Systeme sich verändern,
wechseln auch ihre Regeln und ihre Funktionsweise. Aber das sagt nicht alles
über sie. Spielt man "Mensch ärgere dich nicht", sind die
Regeln allen klar. Sie sind einfach und durchschaubar. Hält sich jeder
an sie, entscheidet vor allem das Glück - der Würfel - darüber,
wer gewinnen wird. Würde man das Spiel so ändern, dass Betrug zur
primären Regel des Spiels wird und alle - außer einer Person - sich
daran halten, entschiede nicht mehr der Würfel über den Ausgang des
Spiels, sondern der beste Betrüger würde gewinnen. Der, der sich noch
an die alten Regeln hielte, wäre zum Außenseiter gestempelt, zum
Gebrandmarkten - wenn es die anderen so wollten. Er vertraute nach wie vor dem
Glück, während die anderen den Betrug legalisiert hätten. Alle
Versuche des Einzelgängers, die anderen zur Einhaltung der alten Regeln
zu bringen, wären plötzlich systemwidrig. Wie sagt ein korrupter Cop
in Sidney Lumets "Serpico": "Wer traut schon einem Bullen, der
nicht bestechlich ist?"
"Serpico" fußt
auf dem Buch von Peter Maas, der das Leben des Officers Frank Serpico aufgeschrieben
hatte - einem Polizisten der in den 60er und 70er Jahren beim NYPD arbeitete,
fast alleine jahrelang gegen Korruption kämpfte und am 15.6.1972 seinen
Dienst quittierte und in die Schweiz zog, bis er 1980 in die Staaten zurückkehrte
und sich seitdem weiterhin für Bürgerrechte und gegen Korruption einsetzt.
Nachts in Manhattan. In einem
Polizeiauto liegt ein schwer verletzter Polizist. Man hat ihm in die Backe geschossen.
Er wird operiert. Er hat Glück. Er wird überleben. Er wird ab und
zu Schwindelgefühle haben. Er wird auf seinem linken Ohr taub bleiben.
Seine rechte Körperhälfte wird ab und zu steif sein. Aber er lebt.
Und er wird aussagen.
Frank Serpico (Al Pacino) wollte
schon als Junge Polizist werden. Er absolviert die Polizeiakademie, hört
sich an und glaubt, was die Vorgesetzten dort nach bestandener Prüfung
sagen. Sie reden von Gesetz und Ordnung, Ehrlichkeit und Ehrbarkeit und so weiter.
Und Serpico glaubt, dass er diese Arbeit gut erledigen wird. Als Streifenpolizist
nimmt er einen Mann fest, der zusammen mit zwei anderen eine Frau vergewaltigen
wollte. Ein Kollege namens Malone schlägt den Verhafteten, um eine Aussage
zu erzwingen. Serpico - angewidert von Malone - greift sich den Verletzten,
geht mit ihm Kaffee trinken und erfährt von ihm, der "nur" dabei
war, wer die beiden anderen waren. Auch die nimmt er fest.
So arbeitet Serpico fast zwei
Jahre beim DCI (Bureau of Criminal Identification), bis er von einem Vorgesetzten
beschuldigt wird, auf der Herrentoilette mit einem anderen Polizisten "rumgemacht"
zu haben - ein Vorwand, um den unbequemen Cop los zu werden. Von Anfang an ist
Serpico ein Außenseiter. Er lässt sich die Haare wachsen, einen Bart,
trägt eine Mütze und hat keine Freunde unter den Kollegen. Sein Vorgesetzter
McClain (Biff McGuire) sagt zu, ihn zu versetzen. Kaum hat er seine neue Stelle
angetreten, übergibt ihm ein Kollege einen Briefumschlag mit 300 Dollar.
Serpico meldet dies auf Anraten seines neuen Freundes Blair (Tony Roberts),
einem Polizisten, dem Vorsitzenden der polizeilichen Untersuchungskommission
- ohne Erfolg. McClain versetzt ihn daraufhin zur 7. Einheit, einer Abteilung,
die angeblich "reiner als Quellwasser" sein soll. Falsch. Hier blüht
die Korruption noch ärger als woanders.
Auch hier versucht man, Serpico
zur Annahme von Bestechungsgeldern zu bewegen. Ohne Erfolg. Serpico vertraut
auf einen Vorgesetzten, der die Sachlage dem obersten Polizeichef melden wolle.
Vergeblich. Es geschieht in Wirklichkeit monatelang nichts - außer, dass
kein Kollege Serpico mehr traut. Er gilt als Verräter. Schließlich
schlägt der einzige Polizist, der zu ihm hält, Blair, vor, zum Bürgermeister
zu gehen. Doch auch diese Hoffnung auf eine innerpolizeiliche Klärung der
Korruption zerplatzt wie eine Seifenblase. Der Bürgermeister lässt
verlauten, er wolle sich wegen angeblich anstehender Krawalle im Sommer nicht
mit der Polizei anlegen.
Als Serpico den Mafiosi Corsaro
festnimmt, fordern ihn seine Kollegen auf, den Mann, ihren "Kumpel",
laufen zu lassen. Er zahle gut. Serpico locht Corsaro ein und meldet den Vorfall.
Endlich kommt es zu einer Untersuchung der Korruption. Vor der Untersuchungskommission
mit Geschworenen verhindert Staatsanwalt Tauber (Allan Rich) allerdings, dass
das Verhalten der Vorgesetzten auch nur zur Sprache kommt. Serpico erkennt,
dass es den Verantwortlichen im Polizeiapparat vor allem auf eines ankommt:
den Apparat zu schützen.
Und wieder wird der Polizist versetzt:
zur Drogenfahndung nach Manhattan. Dort blüht die Korruption ebenso, und
lediglich sein unmittelbarer Vorgesetzter Lombardo (Edward Grover) unterstützt
Serpico. Auch hier nachgewiesene Bestechungsfälle wollen die Verantwortlichen
nicht verfolgen. Schließlich entscheiden sich Serpico, Lombardo und Blair,
über die jahrelange Korruption der New York Times zu berichten ...
Nach seiner Darstellung des Michael
Corleone in Coppolas "Der Pate" 1972 fand Pacino in "Serpico" eine weitere Gelegenheit,
seine Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Seine Darstellung des unbestechlichen
Cop ist denn auch ein Meilenstein in seiner weiteren Karriere. Pacinos Cop schlendert
und schlurft durch New York, die Gassen, die Reviere, die Hinterhöfe und
über die Dächer wie ein Hippie - mit immer länger werdenden Haaren,
Bart und einem Mützchen, wie man es am Strand vielleicht trägt. Er
sieht nichts anders aus als die Kriminellen, denen er hinterherjagt. Pacino
spielt ihn mal überlegt, mal ausrastend, verzweifelt und voller Angst,
aber nicht aufgebend, standhaft. Er spielt ihn als Mann, der nur zwei Dinge
will: seinen Job ordentlich erledigen und die Korruption bekämpfen. Er
spielt ihn als Einzelgänger, nicht nur, was seine Arbeit angeht. Auch privat
ist Serpico ein Außenseiter. Seine Beziehung zu Leslie (Cornelia Sharpe)
geht schief, weil sie heiraten will, er aber nicht. Die darauf folgende Beziehung
zu einer Nachbarin, Laurie (Barbara Eda- Young) scheitert schließlich,
weil Serpico nur noch seinen Job und den Kampf gegen die Korruption im Sinn
hat und Laurie dies nicht erträgt.
Lumet ("Die
zwölf Geschworenen", 1957; "Hundstage", 1975; "Network", 1976; "The Verdict", 1982), der sich streng
an die Vorlage von Maas hielt, schildert die Ereignisse realistisch, ungeschminkt
und ohne irgendwelche Zugeständnisse - so, wie er es in "Network"
später (1976) zum Thema Medien ebenso halten wird. Lumet zeigt die Funktionsweise
eines Apparates in aller Deutlichkeit, der nach außen andere Regeln verkündet,
als sie im Inneren gelten. Diese inneren Regeln sind klar und eindeutig: Man
nimmt Geld von Beschuldigten, auch von überführten Verbrechern, und
lässt sie zumeist dafür in Ruhe. Manche kassieren Spielgelder, andere
Gelder aus Betrügereien, Hehlerei-Geschäften, Drogengeschäften
und so weiter und so fort. In Manhattan kassieren Cops aufgrund des dort blühenden
Drogengeschäfts auch schon mal 40.000 Dollar pro Nase. Das alles kann nur
geschehen, weil die Vorgesetzten in allen Teilen des Apparates entweder die
Korruption dulden, sprich beide Augen zu machen, oder gar selbst abkassieren
oder - wie das Amt des Bürgermeisters - keinen Streit mit der Polizei und
vor allem den Medien wollen.
Lumet zeigt aber auch mit überzeugender
Präzision in den Details, dass in diesem System eine immanente Klärung
und Aufklärung oder gar Beseitigung dieser Zustände nicht möglich
ist. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, diesen Zuständen zu begegnen:
den Weg, den Serpico schließlich geht (Öffentlichkeit), der mit Gefahr
für das eigene Leben verbunden ist, oder den Weg, den Laurie ihm vorgeschlagen
hatte - den des Märchens vom König und dem vergifteten Brunnen.
"Serpico" weist über
den Einzelfall hinaus. Er zeigt, dass alle Systeme, die ein gewisses Maß
an Abgeschlossenheit gegenüber ihrem "Außen" haben, eine
Eigendynamik entwickeln, die von innen heraus nicht aufgebrochen werden kann,
sofern die überwältigende Mehrheit der Personen im System mitspielen.
Dabei ist es nicht einmal notwendig, dass alle aus Überzeugung mitspielen,
d.h. skrupellos Geld annehmen und das für richtig halten. Die meisten Cops
in Serpicos Fall tun dies aus Angst, als Außenseiter abgestempelt zu werden,
aus Angst, ihr Leben könne in Gefahr geraten, und andere haben Gründe,
die sie als Rechtfertigung vorschieben: die Familie etwa. Mitläufer sind
wesentlicher Bestandteile solcher kriminell modifizierter Subsysteme, ohne dies
das alles nie funktionieren würde. Wieder andere haben Gruppen gebildet,
die das Bestechungssystem zur Blüte und Effizienz treiben. Und noch etwas
funktioniert: die abkassierten Gangster. Sie würden den Teufel tun und
Anzeige erstatten. Denn Straffreiheit ist das schönste Geschenk, was sie
erwarten können.
Dadurch verändert sich allerdings
das System selbst auch in seinen Zwecken. Die Verbrechensbekämpfung ist
nicht mehr Zweck, sondern höchstens noch Mittel zum Zweck des Abkassierens.
Auch dieser wesentliche Faktor kann auf andere Subsysteme der Gesellschaft mühelos
übertragen werden - gerade wenn es sich um die "besonderen Gewaltverhältnisses"
handelt, also etwa das Militär oder die Geheimdienste. Je geringer die
Kontrolle und Überwachung solcher Systeme von außen ist, desto geringer
ist die Chance, dass eine Perversion solcher Systeme verhindert werden kann.
Das - auch das wurde mir bei Lumets Film deutlich - gilt nicht nur für
staatliche, öffentliche Behörden; es gilt im gleichen Maße z.B.
auch für die Wirtschaft. Serpico kam mit dem Leben davon. Er verließ
die Polizei, lebte eine Zeitlang in der Schweiz. Wer sich näher über
ihn informieren will, dem sei folgender Link (Serpicos Homepage) empfohlen:
DVD
Format: Dolby, HiFi Sound, PAL
Sprache:
Deutsch, Englisch
Untertitel:
Deutsch
Region:
Region 2
Bildseitenformat:
16:9
FSK:
Freigegeben ab 16 Jahren
Studio: CMS Complete Media Services GmbH
DVD-Erscheinungstermin:
4. Juni 2007
Den
Film, der schon in mehreren DVD-Editionen erschienen ist, gibt es seit kurzem
in der Reihe "Focus Edition", in der weitere 49 Filme zu einem günstigen
Preis knapp unter 10 Euro(etwa bei jpc oder amazon) zu erwerben sind (vgl. http://www.focus.de/edition ). Die DVD bietet den Film in ausgezeichneter Bild- und Tonqualität
dar - in deutscher oder englischer Originalfassung mit einblendbaren deutschen
Untertiteln. Die DVD enthält weiterhin lediglich den Trailer und eine Übersicht
über die Reihe "Focus Edition".
Ulrich Behrens
Dieser Text ist
zuerst erschienen in:
http://www.follow-me-now.de
Serpico
(Serpico)
USA,
Italien 1973, 129 Minuten
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Waldo Salt, Norman Wexler, nach dem Roman von Peter
Maas
Musik:
Mikis Theodorakis
Kamera: Arthur J. Ornitz
Schnitt: Dede Allen, Richard Marks
Ausstattung: Charles Bailey
Darsteller: Al Pacino (Frank Serpico), John Randolph (Chief Sidney
Green), Jack Kehoe (Tom Keough), Biff McGuire (Captain Inspektor McClain), Barbara
Eda-Young (Laurie), Cornelia Sharpe (Leslie Lane), Tony Roberts (Bob Blair),
John Medici (Pasquale)
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