zur startseite
zum archiv
Sicko
Ein beliebter Running Gag unter Amerikanern ist die
Behauptung, dass man einen Engländer leicht an seinen schlechten Zähnen
erkennt. Glaubt man Michael Moores neuem Film Sicko, hat der Amerikaner allerdings selbst nichts zu
lachen, wenn es um seine eigene medizinische Versorgung geht. Der kritische
Patriot Moore muss erneut Nationalgrenzen – und einen Ozean – überqueren,
um seinen Landsleuten unter die Nase zu reiben, was im schönen Amerika
alles schiefläuft. Mit Sicko hat er nach Waffenwahn und 9/11 nun das amerikanische Gesundheitssystem aufs Korn
genommen; Unterstützung für seine These findet er ausgerechnet bei
den Engländern, im Land der schlechten Zähne, außerdem beim
alten Lieblingsfeind Frankreich (nicht einmal dem jovialen Anti-Amerikanismus
eines französischen Arztes hat er etwas entgegenzusetzen) und, kein Witz,
auf Kuba. Bis es allerdings so weit ist, vergehen anderthalb durchaus kurzweilige
Stunden mit dem Dampfplauderer und Brechstangen-Polemiker Moore, auf seiner
Odyssee durch die Gesundheitssysteme der westlichen Welt.
Es gehört inzwischen zu den Allgemeinplätzen
der Filmkritik, dass der hemdsärmelige Populismus Moores auf den aufklärerischen
Gehalt seiner Filme zurückschlägt. Vielleicht kommt es Sicko
darum zugute, dass sich sein Thema nicht entlang verhärteter politischer
Glaubenssätze (blaue gegen rote Staaten) zieht, sondern wie schon in seinem
Debüt Roger & Me eine Bresche durch die gesellschaftlichen Klassen
schlägt. Nirgendwo tritt die Ungleichheit der westlichen Zivilgesellschaften
heute deutlicher zutage als in der sozialen Versorgung ihrer Bürger. So
ist Sicko
Moores bislang am wenigsten kontroverser Film – gleichzeitig aber auch sein
schockierendster. Er zeigt eine Gesellschaft, die ihre Kranken und Schwachen
auf der Straße aussetzt, weil sie keinen Versicherungsschutz haben. Oder
Versicherungskonzerne, die ausbezahlte Hilfeleistungen als „medizinische Verluste“
verbuchen und Ärzten für die Zurückweisung von Patienten Prämien
zahlen.
„Man sagt“, sinniert Moore aus dem Off, „dass man
eine Gesellschaft daran bemisst, wie sie ihre Schwächsten versorgt. Aber
ist“, setzt er zu einer provokanten Volte an, „auch das Gegenteil wahr: Dass
man eine Gesellschaft danach beurteilt, wie sie sich um ihre Besten kümmert
– ihre Helden?“ In den freiwilligen Helfern von Ground Zero findet er seinen
nachhaltigsten Beweis für die moralische Skrupellosigkeit des amerikanischen
Gesundheitswesens. Die Regierung verwehrt vielen 9/11-Feuerwehrmännern
bis heute die nötige medizinische Versorgung, weil die meisten Helfer sich
zum Zeitpunkt der Anschläge nicht im Dienst befanden. Paradoxerweise werden
sie, im Gefolge von Moore, ihre ärztliche Behandlung auf Kuba kriegen.
Später wird ihnen die lokale Feuerbrigade noch ein Ehrenständchen
bringen.
All diese Unglaublichkeiten präsentiert Moore
mit gewohnt bravouröser Kaltschnäuzigkeit. Als Filmemacher mangelt
es ihm fraglos an technischem Geschick, seine Montagen sind plump und manipulativ.
Die Bilder entwickeln nie ein Eigenleben; immer nur dienen sie der Bebilderung
des gerade Gesagten. Eine perfide Bildlogik ist das, würde man Moore als
Dokumentarfilmer ernst nehmen. Aber um Seriosität geht es in seinem Werk
längst nicht mehr; der empörte und mitunter auch skandalierende Unterton,
der seine Filme durchzieht, zielt allein auf Sichtbarmachung ab. Das gelingt
Moore wie sonst kaum einem Filmemacher. Einmal schneidet er Bilder eines sowjetischen
Kolchose-Musicals gegen den Aufmarsch amerikanischer Feuerwehrmänner und
Postbeamter, welche er wiederum mit den stolzen russischen Arbeitergesängen
unterlegt. Ein anderes Mal hängt er Kongressmitgliedern hüpfende und
tanzende Preisschilder an: ihr Kopfgeld für die langsame Erosion des Gesundheitssystems.
Wie sehr eine tiefschürfende Analyse der sozialpolitischen
Verhältnisse aber unter Moores polemischen Effekten leidet, zeigt sich
unter anderem am Reizwort „socialized medicine“, das die American Medical Association
(AMA) schon in den vierziger Jahren gegen die Forderung nach einem gerechten
Gesundheitswesen in Stellung gebracht hat. Auch Moore hat Gefallen an dem Begriff
gefunden und an der perversen Lust, mit der sich Ärzte-Verband und Politiker
des kommunistischen Schreckgespensts bis heute bedienen, um ihre Macht zu stärken.
Moore übersieht bei seiner Schwarz-Weiß-Malerei aber die Rolle der
Gewerkschaften, die, besorgt um ihren eigenen politischen Einfluss auf die Sozialversorgung
der Arbeiterklasse, an der Seite der AMA gegen Roosevelts Reformen opponierten.
Er hat einen viel nützlicheren Sündenbock gefunden: Richard M. Nixon,
dessen konspiratives Telefongespräch mit John Ehrlichmann vom 17. Februar
1971 über die mögliche Privatisierung des Gesundheitswesens Moore
als historischen Wendepunkt in seine Argumentation wirft.
Dass diese Schwächen Sicko nicht irreparabel beschädigen und so Moores
Anliegen diskreditieren, liegt an den sozialen und politischen Dimensionen des
Horrorszenarios, das Patientengeschichten und Insiderbekenntnisse entwerfen.
Selbst wenn nur die Härtefälle der über 25.000 Betroffenen, die
sich auf Moores Internet-Aufruf gemeldet haben, in Sicko zu Wort kämen, würfe der Film ein katastrophales
Licht auf die Entwicklung der westlichen Sozialsysteme. Sicko hat weit über die amerikanischen Landesgrenzen
hinaus Brisanz, denn die „Umstrukturierung“ des Sozialstaats nach amerikanischem
Vorbild findet längst auch in Europa Anklang. Möglicherweise gewährt
Moores Film bereits einen Blick in unsere nicht allzu ferne Zukunft.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film
Sicko
USA
2007. R und B: Michael Moore. P:
Meghan O’Hara, Michael Moore. K: Christoph Vitt. Sch:
Christopher Seward, Dan Sweitlik, Geoffrey Richman. Pg: Lionsgate/Dog Eat Dog.
V: Senator. L: 116 Min. Mit: Michael Moore.
zur startseite
zum archiv