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Sidewalk
Stories
Ein Filmwunder aus New York. SIDEWALK STORIES, der
erste Spielfilm von Charles Lane, ist ein Film zum Durchatmen, poetisch, musikalisch,
menschlich, berührend - und gleichzeitig das Dokument der neuen und alten
Armut in der Stadt des World Trade Center. Der Film nimmt die Tradition eines
Buster Keaton auf, eines Charlie Chaplin (THE KID), das Engagement der neorealistischen
FAHRRADDIEBE, das Selbstverständnis der ersten Filme von
Spike Lee, und dennoch ist er unbefrachtet von den Ansprüchen der Filmgeschichte
und sozialer Repräsentanz. SIDEWALK STORIES hat die Konzentration und schon
dokumentarische Genauigkeit, die die Voraussetzung für das Spiel ist: das
Spiel zwischen dem Komischen und Tragischen, dem Märchen und der Realität.
Charles Lane, Regisseur, Autor, Produzent und Hauptdarsteller, hat auf Anhieb
seinen eigenen, unverwechselbaren Stil gefunden, der sich von all dem, was wir
als amerikanisches Kino vors Gesicht bekommen, auf das nachdrücklichste
und angenehmste unterscheidet. Also, um zu insistieren: ein Filmwunder.
An die Stelle der Dialoge ist die Musik (Marc Marder)
getreten. Sie spielt ihre Rolle, die Darsteller begleitend, kommentierend und
auch ironisierend, so vorzüglich, daß Körpersprache, Pantomimik
und Gestik in diesem dialoglosen Schwarzweißfilm viel mehr mitteilen können,
als das Wort es vermöchte. Die Fesseln, die der auf das Wort reduzierte
Tonfilm den Ausdrucksmöglichkeiten, die der Stummfilm bereits errungen
hatte, anlegte, sind gesprengt. Eine Befreiungs- und Wohltat. Aber wenn ich
die langersehnte Gelegenheit nutze, dies zu notieren, werde ich den SIDEWALK
STORIES nicht gerecht, die sich eben nicht mit Medientheorien befassen, auch
mit nichts abrechnen, sondern schlicht und ergreifend eine Geschichte erzählen.
Washington Square, West Fourth Street: auf der Straße
konkurrieren die Schnellporträtzeichner um Kunden. Der kleine, wendige
Lane braucht all seinen Witz, um seinen großen, kräftigen, indes
langsameren Standnachbar auszutricksen. Eine Slapstickszene vor einer übergroßen
Plakatwand der „Federation to preserve Greenwich Waterfront". Ein Raubmord
in einer Seitenstraße. Ein Kind bleibt zurück, jetzt vaterlos. Die
zweijährige Aloysia ist der Star des Films. Lane geht mit ihr auf die Suche
nach der Mutter. Die Kommunikation zwischen den beiden ist kein Problem, weil
der dialoglose Film eh die Pantomime vorschreibt. Im Abbruchhaus, in dem Charles
es sich gemütlich gemacht hat, wird Aloysia unterrichtet,
zum Beispiel in der Kunst, mit dem rechten Auge zu blinzeln. Auch muß
sie eingekleidet werden, wofür Charles sich aber noch in der Kunst des
Ladendiebstahls üben muß - und in der Kunst, den Avancen der schönen
Chefin, der Yuppiefrau (Sandye Wilson), zu widerstehen. Im Appartement, vor
dem Plakat „Free South Africa", bewundert Lane, der Schwarze, Negermasken
als Wandschmuck, um sich dann vor dem Spiegel über sein Gesicht zu entsetzen.
- Sein Unterschlupf wird von der Abrißbirne demoliert, mit der kleinen
Afoysia an der Hand zieht er durch die Stadtstreicherszene, nächtigend,
sofern Platz vorhanden, in der Bowery Mission oder in St. Anne's Center for
Homeless. Tags hat das ungleiche Paar groteske Abenteuer zu bestehen mit so
furchteinflößenden Amtsinhabern wie dem Portier des Luxushotels oder
gar der Leiterin der New York Public Library (Downtown Brauch), die den Schlaf
suchenden Kunden, dem die Pocketausgabe von „Alien" aus der Hand fällt,
zu vermahnen hat und insbesondere das ungebührliche Kind, das eben nicht
den Schlaf sucht.
Die nackte Armut und das bittere Elend kommen hinter
Poesie und Märchenhaftigkeit zum Vorschein. Vorbei sind die malerischen
Schatten der Balkongitter, die das Straßenlicht auf die sanierungsbedürftige
Fassade malte. In der bitterkalten Frostnacht wird es lebensgefährlich
auf dem Washington Square. Und die Obdachlosen, die sich um die Abfallkorbfeuer
drängen, bekommen zum Schluß des Films eine Stimme, erst wie von
fern: „Can you give me a little change?", dann kommen die Straßengeräusche
dazu. Der Film ist jetzt die reduzierte Gegenwart, die sich ästhetische
Umsetzung nicht mehr leisten und die auf die Eindeutigkeit der Sprache nicht
verzichten kann. - Eine - auch ästhetisch fundierte - Parteinahme und trotzdem
ein märchenhaftes Ende -, nur hat der Film das Vorzeichen geändert.
Der Tramp wandert nicht in die Perspektive hinaus, wohl aber kommen die Aussichten
auf die nackte Parkbank. Die schwarze Schönheit teilt dort das Brot mit
dem Obdachlosen.
In SIDEWALK STORIES wird kein
Einsamer schlußendlich auf die Reise geschickt. Statt dessen kommt er zu Wort
und Brot. Womit die SIDEWALK STORIES ihr ebenso menschlich wie ästhetisch
befriedigendes Ende finden.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 3/90
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