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Sie
küssten und sie schlugen ihn
Raus und weg ...
Es geht um Missbrauch, ja, auch um Verrohung, sicherlich.
Aber man würde den ersten Teil der aus fünf Filmen bestehenden Antoine-Doinel-Reihe
von François Truffaut missverstehen, wenn man "Les quatre cents
coup" allein als einen Streifen über eine verhängnisvolle Jugend
begreifen würde. Zum einen enthält diese Reihe sicherlich autobiografische
Züge des französischen Meisterregisseurs und Vertreters der nouvelle vague.
Zum anderen wird - spätestens - in der Schlusseinstellung des Films mehr
als deutlich, dass Truffaut mit "Sie küssten und sie schlugen ihn"
- einem deutschen Verleihtitel, der die Thematik des Films nur unzureichend
beschreibt - eben nicht nur formal, filmtechnisch, inszenatorisch usw. das Kino
erneuern wollte, sondern auch inhaltlich über eingefahrene Sichtweisen
des (französischen) Films hinaus wollte.
Antoine Doinel, hier und in den folgenden vier Filmen
gespielt von Jean-Pierre Léaud (damals 14 Jahre alt), ist in gewisser
Weise eben auch eine Symbolfigur dieses neuen französischen Kinos und der
neuen Nachkriegskultur, innerhalb derer sich eine ganze Generation von den Fesseln
der Tradition, des Konservativen befreien wollte.
Antoine, im Film zwölfeinhalb Jahre alt, lebt
bei seiner Mutter Gilberte (Claire Maurier), die ihn nie wollte, und seinem
Stiefvater Julien (Albert Rémy), der mal freundlich zu Antoine ist, mal
deutlich zeigt, wie wenig Interesse er eigentlich an dem Jungen hat. Ähnlich
ergeht es Antoine in der Schule. Der Französisch-Lehrer (Guy Decomble)
führt ein hartes, patriotisches Regiment, durchsetzt mit oberflächlicher
Zuneigung in wenigen Situationen. Antoine ergeht es in der Schule nicht viel
anderes als seinen Mitschülern, aber dennoch hat er das Pech, für
viele "Vergehen" verantwortlich gemacht zu werden, ob er es nun war
oder nicht. Denn Antoine ist nicht besonders gut, und er hat - aus welchen Gründen
auch immer - einen Ruf weg als unzuverlässig, faul und desinteressiert.
Anstatt in die Schule zu gehen, schlendert er lieber
mit seinem Freund René (Patrick Auffay) durch die Stadt, fälscht
Entschuldigungsschreiben, die er dann doch nicht benutzt, oder verbringt aus
Angst vor Strafe durch die Eltern und Lehrer auch mal eine Nacht in einer alten
Fabrik. Seine "Vergehen" sind aus der Nähe betrachtet geringfügig
und unbedeutend. Doch das Erziehungssystem und seine Protagonisten sehen das
anders. Antoine lügt, behauptet gar einmal, er sei nicht in die Schule
gekommen, weil seine Mutter gestorben sei, stiehlt eine Schreibmaschine aus
dem Büro, in dem sein Stiefvater arbeitet, bringt sie - als René
und er sie nicht verkaufen können - wieder zurück und wird dabei dann
erwischt.
Das Erziehungssystem reagiert hart, so hart, dass
Antoine irgendwann bei der Polizei landet - vom Stiefvater selbst dort hingebracht
und behandelt wie ein Verbrecher -, später in einer der üblichen Erziehungsanstalten,
abgeschoben von den desinteressierten Eltern, die sich nur um sich selbst kümmern,
und selbst das mehr schlecht als recht. Seine Mutter behandelt ihn wie einen
Fremdkörper, einen lästigen Mitesser, und nur weil Antoine sie bei
einem seiner "freien" Tage zufällig mit einem anderen Mann Arm
in Arm erwischt, wird Gilberte plötzlich die Freundlichkeit in Person,
"vereinbart" mit ihm, wenn er in der Schule besondere Leistungen vollbringe,
bekäme er 1.000 (alte) Franc von ihr.
Antoine bemüht sich, liest Balzac, ja, verehrt
Balzac, schreibt einen Aufsatz über den Tod seines Großvaters. All
das nützt ihm wenig. Der Lehrer bezichtigt ihn des Plagiats, schickt ihn
zum Rektor usw.
Das alles jedoch ist nur die eine Seite von "Les
quatre cents coups". Als Antoine am Schluss aus der Erziehungsanstalt flüchtet,
läuft er wie um sein Leben. Und er läuft so lange, bis er das Meer
erreicht. An dieser Stelle "friert" Truffaut das Bild Antoines ein
(eine später gern kopierte Einstellung in anderen Filmen). Wir blicken
in der letzten Einstellung des Films auf einen Jungen, in dessen Gesicht ein
Begehren geschrieben steht, ein Verlangen, ein tief sitzender Wunsch, das Begehren
nach Freiheit, Unabhängigkeit, Zuneigung. Truffaut, der Jean-Pierre Léaud
für die Hauptrolle auswählte wie die anderen Kinder-Darsteller für
seine Mitschüler, zeigt uns Antoine in einer Szene, wie er - ausgefragt
von einer Psychologin, als es um seine Einweisung in eine Erziehungsanstalt
geht - direkt in die Kamera schaut und sich im wahrsten Sinn des Wortes: erklärt.
Ob er lüge, wird er gefragt. Ja, wenn es nötig sei. Ob er seiner Großmutter
10.000 Franc gestohlen hätte. Ja, sie habe es ja nicht mehr gebraucht,
weil sie schon kurz danach gestorben sei. Ob er schon einmal mit Mädchen
... er wisse schon. Nein, er habe es versucht, aber es sei nicht dazu gekommen.
Antoine erklärt sich. Und in seiner Erklärung scheint all das durch,
nicht nur eine verkorkste Jugend, die fehlende Zuneigung seiner Mutter, das
Unverständnis der Lehrer usw. - nein, auch das Unverständnis einer
festgefahrenen Gesellschaft, die an sozialen Subsystemen krampfhaft und mit
aller Gewalt festhält, die sich aber nicht mehr retten lassen. Und er erklärt
sich auch, nicht direkt, aber aus all seiner Mimik und Gestik sichtbar, bezüglich
seiner Sehnsucht nach etwas anderem in seinem Leben - eben nach Erfüllung
dieses für ihn (noch) nicht bewusst fassbaren Verlangens nach Freiheit.
Die Flucht aus der Erziehungsanstalt wird zum Synonym
dieses (noch) Unfassbaren, das die Arroganz, Ignoranz und das Desinteresse der
älteren Generationen hinter sich lassen will. Und (noch) weiß Antoine
nicht, wie sehr ihn möglicherweise diese Vergangenheit der Elterngeneration
später immer wieder einholen wird.
Das Ende des Films ist in zweierlei Hinsicht offen.
Zum einen ist nicht entschieden, was aus Antoine wird. Zum anderen aber führt
Truffaut uns hin zu einem unverkrampften, ehrlichen, sozusagen aus der Seele
springenden, den Verhältnissen geschuldeten Individualismus, sicherlich
auch existentialistisch beeinflusst, einem Individualismus als Ausdruck der
Sehnsucht danach, aus depressiv machenden, destruktiven Strukturen auszubrechen.
So, wie der Film für das Kino in inszenatorischer Hinsicht eine kleine
Revolution war, so war er es inhaltlich. Dieser unverkrampfte Individualismus
hat wenig, ja eigentlich nichts zu tun mit dem Ellenbogen-Individualismus heutiger
Art. Und gerade das macht "Les quatre cents coups" auch aus heutiger
Sicht zu einem geradezu erfrischenden Erlebnis. Dass Truffaut einen 12jährigen
Jungen zum Mittelpunkt seines Films machte, zu einem ganz unverkrampften Helden,
der allerdings in fast dokumentarischer Inszenierung vorgestellt wird, war ebenfalls
eine kleine Revolution - vor allem gegen die Ignoranz und die Verkrustungen
der Erwachsenengeneration.
• D V D •
Der Film erschien in der Truffaut-Collection
2 zusammen mit "Schießen Sie auf den Pianisten", "Geraubte
Küsse", Tisch und Bett" sowie "Liebe auf der Flucht"
in einer restaurierten Fassung. Der Schwarz-Weiß-Film ist in exzellenter
Bild- und Tonqualität zu genießen und in deutscher oder französischer
Sprache zu hören. Deutsche Untertitel sind einblendbar.
Als Zusatzmaterial enthält
die DVD:
• die Präsentation des Films
durch den Truffaut-Biografen Serge Toubiana
• einen Audiokommentar des Truffaut-Freunds
Robert Lachenay
• ein Portrait des Regisseurs
• sehr interessante Interview-Ausschnitte
mit Jean-Pierre Léaud, Patrick Auffay und Richard Kanayan aus dem Jahr
1959
• den Kurzfilm "Les Mistones"
Insgesamt also eine gelungene DVD-Edition
von mk2 und Concorde.
Wertung Film: 10 von 10 Punkten.
Prädikat: Besonders wertvoll.
Wertung DVD: 10 von 10 Punkten.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Sie
küssten und sie schlugen ihn
(Les
quatre cents coups)
Frankreich
1959, 99 Minuten (DVD: 95 Minuten)
Regie:
François Truffaut
Drehbuch:
François Truffaut, Marcel Moussy
Musik:
Jean Constantin
Kamera:
Henri Dacaë
Schnitt:
Marie-Josèphe Yoyotte
Darsteller:
Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Claire Maurier (Gilberte Doinel),
Albert Rémy (Julien Doinel), Guy Decomble ("Petite Feuille",
Französischlehrer), Georges Flamant (Mr. Bigey), Patrick Auffay (René)
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