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Silvester
Countdown
Ein kurzer Film über die Liebe in den späten
90er Jahren. Eine Geschichte von zwei jungen Leuten aus Berlin namens Romeo
und Julia. Keine Beziehungskiste, aber auch keine richtige romantische Love-Story.
Vielmehr ein Spiel, das jederzeit in bitteren Ernst umschlagen könnte.
Ein einfacher Film, und doch kompliziert - wie die Liebe selbst.
Wenn man Romeo zum erstenmal sieht, tanzt er nackt
in seiner Wohnung. Auf dem Kopf trägt er indianischen Federschmuck. Dieses
Bild gibt den Gesamteindruck von Roehlers Film wieder: Entblößung
wird verknüpft mit Maskenspiel, simple Strukturen mit unabwägbaren
Kapriolen.
Die Liebesgeschichte gleicht durchaus einem Experiment,
der Sex einem Theater-Workshop. Die Zeit des Kennenlernens und des Verliebens
haben Romeo und Julia schon hinter sich. Jetzt wollen sie, schreckliche Kinder
der Generation X, die Beziehung testen, Liebe und Leidenschaft proben. Werbespots
und Filme wie "Dressed
to Kill" und "9 1/2 Wochen"
dienen dabei als Vorbilder und Anhaltspunkte. Die Liebesrituale, Sex-Eskapaden
und Machtspiele sind enervierend und komisch zugleich. Manchmal geht auch ein
schöner Reiz von ihnen aus: wenn es nach heftigen, theatralischen Ausbrüchen
unschuldige Momente der Zweisamkeit gibt. Nach einem wilden, lauten Streit fragt
Romeo Julia ruhig, was sie jetzt machen könnten.
Als Lektüre zu Roehlers Film ist Roland Barthes'
"Fragment einer Sprache der Liebe" zu empfehlen. Um Wahrheit und Spiel
geht es in "Silvester Countdown". Um Wahrheit im Spiel und um Spiele
der Wahrheit: Romeo gibt den Macho mit Intellekt und Sensibilität. Er ist
klein und drahtig, eifersüchtig und sexbesessen, impulsiv und schnell beleidigt.
Julia gibt das Girlie: Zickig, provozierend, selbstbewußt in ihrer Hingabe.
Es scheint manchmal, als müßten sie Männchen und Weibchen spielen,
weil es nur noch Geschlechterrollen gibt. Ihr Background wird nur angedeutet:
Romeo arbeitet wohl in der Werbebranche, Julia ist Schülerin oder Studentin.
Romeo hat eine große, leere Wohnung, die zur schicken Spielwiese ihrer
Liebesspiele wird. In einem Zimmer hängt ein überlebensgroßes
Selbstporträt von Romeo: Zeichen einer Ego-Trip-Schau.
Romeo und Julia sind also ein wenig Hipster, ein
wenig Slacker. Wenn sie aber zu Silvester nach Polen fahren, erinnern sie an
Interrail-Touristen. Das scheinbar Disparate gibt Roehlers Film eine schöne
Authentizität. Eine Szene, die ganz und gar lebensecht wirkt, spielt sich
gleich in Polen ab. Mit einem befreundeten Paar steigen Romeo und Julia einen
schneebedeckten Berg hoch. Während sich Julia und die Bekannten dabei leichttun,
hat Romeo wegen schlechten Schuhwerks seine Probleme. Man macht sich natürlich
lustig über ihn, und er wird immer gereizter. Die kleine Reise, die einmal
ein Traum für die beiden war, wird zur Nervenprobe. Die Vorstellungen und
die Wirklichkeit: sie mögen nur selten zusammengehen.
Silvester verbringen die beiden in Warschau. Wie
Hänsel und Gretel irren sie durch die kalte polnische Metropole. In einer
Peep-Show kommt es zu grotesken Verwicklungen, als Julia auf der Bühne
zu tanzen beginnt. In einem Augenblick wirken sie arrogant in Warschau. Dann
wieder scheinen sie verloren, als sie den Weg zurück in ihre Unterkunft
nicht finden. Auch Mel Gibson, der von einem Plakat herunterleuchtet, kann ihnen
dabei nicht helfen. Die Rückreise nach Berlin handelt davon, wie Julia
aus Frust Unmengen von Wurst verdrückt, während Romeo versucht, auf
der Gepäckablage zu schlafen. Als polnischer Fahrgast hat zudem Christoph
Schlingensief, mit dem Oskar Roehler wiederholt zusammengearbeitet hat (er war
Co-Autor bei Schlingensiefs "Terror 2000" und "United
Trash"), einen Gastauftritt.
Silvester bedeutet auch Rückblick und Neubeginn.
Das junge Paar will sich etwas aufsparen für später: etwas Sex oder
eine Träne. Bonjour Tristesse! Das Melodram des Kinos ist schmerzlich-wunderbar,
das Melo des Lebens nur nervenzerfetzend. Romeo und Julia Ende der 90er: unbefriedigt.
Oskar Roehler und seinen hervorragenden Akteuren
Rolf Peter Kahl und Marie Zielcke ist eine kleines Kunststück gelungen:
die Mischung aus Generation-X-Frust, BRD-Wirklichkeit, Kino-Träumen und
Nouvelle-Vague-Reminiszenzen bereitet Vergnügen. Man möchte den Kopf
schütteln, man möchte weinen um dieses seltsame und typische Liebespaar.
Aber dann ertappt man sich dabei, daß man lächelt. "Love is
a many splendoured thing" hieß es in einem alten Filmschlager. Die
Liebe ist halt eine komische Sache. Neben Eckhart Schmidts "Broken Hearts"
einer der besseren deutschen Liebesfilme der letzten Jahre.
Hans Schifferle
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 3/1998
Silvester
Countdown
Deutschland
- 1996 - 86 min. – Erstaufführung: 12.3.1998
Produktion: Rolf Peter Kahl, Oskar Roehler
Regie:
Oskar Roehler
Buch:
Oskar Roehler
Kamera:
Lorenz Haarmann
Schnitt:
Christine Boock
Darsteller:
Rolf
Peter Kahl (Romeo)
Marie
Zielcke (Julia)
Robert
Victor Minich (Frank)
Juliane
Werner (Jessy)
Harry
Hass (Kassierer)
Wolfgang
Wimmer (Manager)
Eine
DVD des Films ist im Mai 2006 erschienen
bei www.filmgalerie451.de
Sprache:
Deutsch
Untertitel:
English, Español
Extra:
Interview mit dem Regisseur aus dem Jahr 2006
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