zur
startseite
zum
archiv
The
Sixth Sense
“The Sixth Sense” ist weniger ein Thriller im modernen Wortsinn als vielmehr eine Geistergeschichte von der Art, wie sie vor vielen Jahren in Mode war, als ganz gewöhnliche Menschen noch unbekannte Dimensionen entdeckten. Lange Zeit glaubte man, dass Kinder eher Geister sehen als Erwachsene, da bei ihnen die Barrieren des Skeptizismus und des Zweifels noch nicht errichtet sind. In diesem Film sagt ein kleiner Junge ganz ernsthaft zu seinem Psychiater: „Ich sehe tote Menschen. Sie wollen, dass ich Sachen für sie mache.“ Und er scheint recht zu haben.
Der Psychiater namens Malcolm Crowe (Bruce Willis) wird eines
Nachts in seiner Wohnung von einem Eindringling angeschossen. Der Mann, ein
früherer Patient, glaubt, falsch therapiert worden zu sein. Nach dieser
Tat erschießt er sich selbst. „Im folgenden Herbst“ (das verrät uns
ein Untertitel) sehen wir Crowe, der körperlich wiederhergestellt scheint
aber seelisch noch lange nicht geheilt ist. Der neue Fall, den er annimmt, ist
der kleine Junge Cole Sear (Haley Joel Osment), und er hat viele ähnliche
Probleme wie jener frühere Patient, der Crowe angeschossen hat. Vielleicht
kann der Psychiater es dieses Mal richtig machen.
Der Film zeigt uns Dinge, die Erwachsene normalerweise nicht sehen.
Als Coles Mutter (Toni Collette) für einen kurzen Moment die Küche
verlässt und dann wieder in den Raum tritt, stehen plötzlich alle
Schranktüren und Schubladen weit offen. In der Schule erzählt der
kleine Junge seinem Lehrer: „Man hat hier Menschen erhängt.“ Als der Lehrer
ihn fragt, wie er so etwas denn wissen könne, sagt Cole nur: „Als kleinen
Jungen nannte man dich Stotter-Stan.“
Crowes Aufgabe ist es, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen und
ihn zu heilen – wenn Heilung überhaupt das ist, was er braucht. Vielleicht
ist es auch ein Hilferuf; der Junge kann schließlich auf Latein „aus den
Tiefen rufe ich nach Dir, oh Herr“ sagen. Crowe glaubt zwar die Spukgeschichten
des Jungen nicht, aber auch er braucht Hilfe: Seine Frau zum Beispiel, die ihm
einst so nah stand, gibt sich einer Affäre hin und scheint ihm überhaupt
nicht mehr zuzuhören. Der Junge rät ihm: „Sprechen Sie mit ihr, wenn
sie schläft. Dann wird sie Ihnen zuhören.“
Crowe versucht es mit dem „was wäre, wenn“-Ansatz bei der
Therapie des Jungen und fragt ihn: „Was, glaubst du, wollen diese toten Menschen
dir sagen?“ Das ist eine großartige Frage, die in Geistergeschichten viel
zu selten ausgesprochen wird – meist sind die Helden so egozentrisch, zu glauben,
dass die Geister all den Spuk nur deshalb betreiben, um von ihnen gesehen zu
werden. Cole dagegen hat einige konkrete Ideen und Crowe überlegt sich,
ob die nicht hilfreich sein könnten, auch wenn es keine Geister gibt.
Bruce Willis findet sich häufig in Fantasy- und Science-Fiction-Filmen
wieder, vielleicht passt er so gut ins Genre, weil er so bodenständig ist.
Selbst, wenn alles um ihn herum absurd ist (wie in „Armageddon“ zum Beispiel),
wirkt er nie lächerlich, weil er nie überdreht, sondern seinen Charakter
trocken und nüchtern spielt. Diesmal ist in seiner Bestürzung eine
gewisse Bitterkeit enthalten. Der Film beginnt seine Geschichte damit, dass
der Bürgermeister ihm eine Ehrung überreicht – genau von dem Moment
an geht es mit seiner Karriere bergab. Aber er geht mit einer Art verhängnisvoller
Würde zu Grunde.
Haley Joel Osment, der junge zweite Star, ist ein sehr
guter Schauspieler in einem Film, in dem seine Figur möglicherweise mehr
Konturen besitzt als alle anderen. Er kommt in den meisten Szenen vor und muss
auch wirklich schauspielerisches Können zeigen – das ist keine Rolle für
einen süßen Fratz, der nurin der Gegend herumstehen und feierlich
vor der Kamera agieren kann. Statt dessen gibt es hier
hochkomplexe Dialogpassagen zwischen Willis und Osment, bei denen man ein Gespür
für gutes Timing, Reagieren sowie die Fähigkeit des Zuhörens
mitbringen muss. Osment ist all dem mehr als gewachsen. Aber trotz Osments mehr
als einnehmenden Spiels, sollte man darüber nicht vergessen, dass nicht
viele erwachsene Schauspieler schwierige Szenen mit einem Kind spielen können,
ohne herablassend zu wirken (oder, noch schlimmer, dabei so zu wirken, als würden
sie es heimlich anleiten und trainieren). Willis kann das. Die Szenen zwischen
diesen beiden geben dem Film sein Gewicht und machen ihn, unter den gegebenen
Umständen, so überzeugend wie nur irgend möglich.
Ich gestehe, dass ich vom Ende des Films völlig unvorbereitet
erwischt wurde. Die Lösung für viele Rätsel des Films liegt eigentlich
sichtbar vor unseren Augen, und der Film betrügt seine Zuschauer auch nicht.
Und doch hat mich die reine Kraft der Erzählung direkt an den entscheidenden
Hinweisen vorbei getragen, direkt zum Ende des Films, wo alles im Licht einer
frappierenden, neuen Dimension erscheint.
Für Drehbuch und Regie zeichnete M. Night Shyamalan verantwortlich,
dessen vorheriger Film „Wide Awake“ ebenfalls um einen kleinen Jungen mit übernatürlichen
Fähigkeiten kreiste: Er trauerte um seinen Großvater und verlangte
eine Erklärung von Gott. Ich fand nicht, dass dieser Film damals funktioniert
hat. Aber „The Sixth Sense“ hat genau dieses ruhige, hinterlistige Selbstvertrauen,
das er braucht, um uns bis ans Ende eines geheimnisvollen, faszinierenden Pfades
zu führen.
Roger
Ebert
aus dem Englischen übersetzt
von Daniel Bickermann
Der Original-Text ist erschienen
bei www.rogerebert.com
The
Sixth Sense
Originaltitel:
The Sixth Sense
USA
1999
107
Minuten
Regie:
M. Night Shyamalan
Drehbuch:
M. Night Shyamalan
Produktion:
Kathleen Kennedy, Frank
Marshall, Barry Mendel, Sam Mercer
Musik:
James
Kamera:
Tak Fujimoto
Schnitt:
Andrew Mondshein
Besetzung:
Bruce
Willis: Malcolm Crowe
Haley
Joel Osment: Cole Sear
Toni
Collette: Lynn Sear
Olivia
Williams: Anna Crowe
Mischa
Barton: Kyra Collins
Donnie
Wahlberg: Vincent Grey
Trevor
Morgan: Tommy Tammisimo
zur
startseite
zum
archiv