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Slumming
Orte sehen, die man sonst nicht gesehen hätte.
Menschen treffen, die man sonst nie getroffen hätte. Mit diesen Worten
schwärmt der schnöselige, aller Geldsorgen ledige Sebastian gegenüber
der Grundschullehrerin Pia einmal von dem schrägen Hobby, das er mit seinem
Freund Alex teilt. Sebastian sucht die Erfahrung des Fremdseins nämlich
in der eigenen Stadt; das titelgebende „Slumming“ – übersetzt etwa „Slum-Tourismus“
– soll ihm weite Reisen ins entfernte Elend ersparen.
Die beiden Yuppies Sebastian und Alex suchen soziale
Milieus wie Spielcenter, heruntergekommene Kaschemmen, Nachtclubs, Ausländerkneipen,
um dort Eindrücke zu sammeln, die dann wieder ihre Fantasiegeschichten
befeuern. Dies ist nämlich ein weiteres Hobby von Sebastian und Alex: Menschen,
denen man zufällig auf der Straße begegnet, folgen und ihr Verhalten,
ihre Handlungen für diese hörbar kommentieren, die Menschen so mit
einer „interessanten“ oder doch zumindest skurrilen Geschichte ausstatten –
und dann empört tun, wenn ihnen dabei Aggressionen entgegenschlagen. Man
kann sagen: Sebastian und Alex erproben eine Art von schwarzer soziologischer
Fantasie in der Praxis. Und dann sind da noch die Frauen, mit denen man per
Internet „dated“, denen man dann bei gelegentlichen Treffen ebenfalls Geschichten
erzählt – und sich dabei manchen bösen Scherz erlaubt. Gewissermaßen
am anderen Ende der sozialen Skala bewegt sich der Quartalssäufer und Gelegenheitslyriker
Kallmann, der sich fluchend und vor sich hin schimpfend durch Wien bewegt und
den Menschen mit bösem Witz auf die Nerven geht.
Die ersten Minuten des Films gehören einem paranoiden
Monolog Kallmanns und besitzen eine dunkle Kraft, die Thomas Bernhard in seinen
gelungensten Prosastücken teilte. Als sich dann die Wege von Sebastian,
Alex und Kallmann einmal kreuzen, hat sich letzterer gerade ins Koma gesoffen
und wird dafür von Sebastian mit einem surrealen „Erweckungserlebnis“ bestraft.
Während Kallmann nun auf dem Weg zurück in seinen gewohnten Wiener
Alltag allerlei Abenteuer erlebt, scheint sich Sebastian tatsächlich in
Pia zu verlieben und erweist sich als überaus anhänglich, wobei allerdings
nie ganz klar ist, inwieweit Sebastian auch das Verliebtsein bloß als
ein Rollenspiel begreift. Als Pia erfährt, was Sebastian und Alex mit Kallmann
angestellt haben, reagiert sie moralisch empört und versucht mit erstaunlichem
Engagement, den Verschollenen im Wortsinne zu retten. Doch Kallmann, der sich
mit somnambuler Sicherheit durch das Leben bewegt, braucht ihre Hilfe nicht.
Ist „Slumming“ mit seiner pointierten Boshaftigkeit
eigentlich eine schwarze Komödie? Oder doch eher eine mit spielfreudigen
Darstellern wie August Diehl und Paulus Manker hochkarätig besetzte Docu-Fiction?
Oder handelt es sich um einen Meta-Film über die unterschiedlichen Formen
des Dokumentarischen im Gewand einer Fiktion? Es ist höchst interessant
zu beobachten, wie spielerisch es Michael Glawogger mit „Slumming“ gelingt,
den bösen Blick von Ulrich Seidl („Hundstage“, fd 35 449) mit der schwerelosen Chaostheorie-Dramaturgie
Barbara Alberts („Böse
Zellen“, fd 36 427) zu kombinieren
und genau damit die Vorwürfe gegen seine deutlich inszenierten Dokumentationen
wie „Workingman‘s
Death“ (fd 37 581) konstruktiv auszuhebeln.
„Slumming“, dieses komplexe und widersprüchliche Traktat, an dessen Drehbuch
Barbara Albert mitgearbeitet hat, interpretatorisch fixieren zu wollen, hieße,
eine bestimmte Figurenperspektive gegenüber den anderen zu favorisieren.
Die anarchische Energie Kallmanns würde so gegen die Wurzellosigkeit Sebastians
oder die moralische Integrität Pias ausgespielt. Der Film hält sich
aber alle Möglichkeiten offen.
In einer der schönsten Szenen werden kurz vor
Schluss noch einmal die Energien „gebündelt“, wenn die Biografie der drei
Protagonisten quer durch Zeit und Raum zusammenfinden: Der erschöpfte Kallmann
hat glücklich wieder ins vertraute Netz des Wiener öffentlichen Nahverkehrs
zurückgefunden und blickt aus dem Fenster. Draußen stehen Pia und
Kallmanns Freundin Herta, diesen glücklos suchend, an einer Ampel, als
Pia einen Anruf von Sebastian erhält, den es nach Djakarta verschlagen
hat, um seinen Liebeskummer zu überwinden. Kurz darauf wird Sebastian versuchen,
seine geschärfte Beobachtungsgabe auf eine fremde Kultur anzuwenden und
ein Abenteurer, ein „Kallmann“ zu werden. Dabei sehen ihm zwei amüsierte
Indonesier zu, die ihn spielerisch mit einer fiktiven Vita ausstatten. Ein Teufelskreis!
Oder doch nicht?
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Slumming
Österreich / Schweiz 2006 - Regie: Michael Glawogger - Darsteller: Paulus Manker, August Diehl, Michael Ostrowski, Pia Hierzegger, Maria Bill, Martina Zinner, Brigitte Kren, Loretta Pflaum, Martina Poel, Andreas Kiendl - FSK: ab 12 - Länge: 96 min. - Start: 19.4.2007
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