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Le
Fils (Der Sohn)
Nur
ganz wenige Schnitte werden dem Film gegönnt, meist folgt die Kamera unablässig
ihren Figuren, genau wie diese immer in Bewegung. Jean-Pierre und Luc Dardenne
arbeiten, daran lassen die Bilder ihres neuen Filmes Le
Fils
keinen Zweifel, mit dem gleichen Kameramann (Alain Marcoen) zusammen, mit dem
sie 1999 auch Rosetta - einen
der besten Filme der letzten Jahre - schufen. Trotz der formalen Ähnlichkeit
zu ihrem letzten Film unterscheidet sich die aktuelle Arbeit der Dardenne-Brüder
allerdings sehr von ihrem Vorgänger: In Rosetta wurde
der immer gleiche Alltag einer jungen Frau nachgezeichnet, die in Arbeitslosigkeit
und Verzweiflung zu versinken begann - Alltag wurde zum Drama, der tagtägliche
Kampf um Anerkennung zur Entscheidung über die eigenen Existenz. Le
Fils
geht den umgekehrten Weg: nicht Alltag wird hier zum Drama, sondern eine in
höchstem Maße dramatische Situation wird von den Personen des Films
in den Alltag zurückgelebt:
Schreinermeister
Olivier (Olivier Gourmet), beschäftigt als Lehrer an einer Ausbildungsanstalt,
nimmt den 16-jährigen Lehrling Francis (Morgan Marinne) auf. Der Film lässt
sich viel Zeit, die merkwürdige Faszination zu erklären, die für
Olivier von dem Jungen auszugehen scheint - zu Beginn erfährt man nicht,
warum er seinem Schüler auf Schritt und Tritt folgt, warum er seinen Spind
durchsucht, seinen Wohnort ausfindig macht. Erst nach einer Weile wird dem Zuschauer
vor Augen geführt, wen Olivier sich mit seinem neuen Schützling in
die Werkstatt geholt hat: Den Mörder seines eigenen Sohnes. Dass sich zwischen
den beiden dennoch eine Art Vater-Sohn Beziehung aufbaut, trotz der - nur einseitig
erkannten - tragischen Vergangenheit, die sie bereits verbindet, liegt wohl
vor allem an der tiefen Traumatisierung der beiden: Olivier verlor über
den Tod seines Sohnes auch seine Frau, die Wunden, obschon bereits fünf
Jahre alt, sind offenbar noch nicht geheilt, während der junge Mörder
nach fünf Jahren im Jugendgefängnis Ruhe nur finden kann indem er
allabendlich
Schlaftabletten
nimmt, die ihn durch die Nächte bringen.
Die
eigentlich überaus künstlich wirkende, konstruierte Situation wird
von den Dardenne-Brüdern und dem großartigen Schauspiel vor allem
von Olivier, dem sich die Kamera an die Fersen heftet wie sie bereits Rosetta
verfolgte, gänzlich glaubhaft in den Alltag der tagtäglichen Vorrichtungen
überführt: Hölzer werden zugeschnitten, Kisten genagelt, Holzarten
gelehrt und gelernt. Der Versuch der völligen Aneignung von Francis' Alltag
wird deutlich, wenn sich Olivier des Hausschlüssels seines Schülers
bemächtigt, um tagsüber heimlich dessen Wohnung zu betreten, paralysiert
durch die Zimmer zu wandeln und in Francis' Bett am eigenen Leibe zu erfahren,
wie der Mörder seines Kindes sich im Schlafe wohl fühlen mag. Die
Immersion im fremden Alltag wird zum Versuch der Heilung des eigenen Traumas,
zum Versuch, den Geisteszustand und damit die Beweggründe des für
das eigene Trauma verantwortlichen Täters zu erfahren. Es ist verblüffend,
wie einer der größtmöglichen Konflikte - die Konfrontation eines
Mörders mit einem Angehörigen des Opfers - in Le
Fils
zum Alltag wird, wie man Szene für Szene auf die Eskalation wartet, wie
sich eine ungeheure Spannung in die Arbeit am Holze schleicht, in jedes Aufgreifen
eines scharfen Gegenstandes, in jede Situation, in der der Schüler vom
Lehrer abhängig ist.
Die
Geschichte ist auch ein Ödipusdrama mit seltsam verschobenen Vorzeichen:
Nicht der Sohn begeht den symbolischen Vatermord, sondern der Ziehsohn tötet
das leibliche Kind der Eltern und der Vater ist gar nicht mehr in der Lage,
seinen Sohn in die symbolische Gesellschaftsordnung einzuführen, weil er
viel zu traumatisiert ist ob seines Verlustes, viel zu überfordert angesichts
der Situation. Die alten Zeichensysteme funktionieren nicht mehr in Le
Fils,
sie brechen in sich zusammen, und mit ihnen die Figuren, die sich nun nurmehr
an den Alltag klammern können, um nicht gänzlich den Halt zu verlieren.
Olivier versucht, die leere Hülle einer realen Vater-Sohn Beziehung aufrecht
zu erhalten, um ein wenig länger auf den Pfaden des Gewohnten wandeln zu
können, Pfade, die aber in der Konstruktion, in die das Drehbuch seine
Charaktere einbindet, nur geradewegs hin zum Zusammenfallen der aufgebauten
Fassade führen können. Mit Le
Fils
schaffen die Dardenne-Brüder einen großartigen Film über das
Ende und die Wiederkehr des Alltags im Trauma, über den Versuch mit Verlust
umzugehen, und geben dabei auch den beiden Hauptdarstellern die Gelegenheit
in ihrem wundervollen Zusammenspiel eine Atmosphäre zu schaffen, deren
Intensität im Kino nur selten erreicht wird.
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt's im archiv mehrere Texte
Der
Sohn
(Le
Fils)
Belgien,
Frankreich 2002, 103 Minuten
Regie:
Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Drehbuch:
Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Kamera:
Alain Marcoen
Schnitt:
Marie-Hélène Dozo
Produktionsdesign:
Igor Gabriel
Darsteller:
Olivier Gourmet (Olivier), Morgan Marinne (Francis), Isabella Soupart (Magali),
und als Lehrlinge: Nassim Hassaïni (Omar), Kevin Leroy (Raoul), Félicien
Pitsaer (Steve), Rémy Renaud (Philippo)
DVD
In Zusammenarbeit von http://www.revolver-film.de/ und www.filmgalerie451.de ist im Mai 2006 eine DVD des Films erschienen.
Darauf die französischsprachige Originalfassung mit deutscher Untertitelungsoption
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