"Da mich niemand liebt, liebe ich auch niemanden"
- Gaspard
Sommer
Die Helden in den Filmen Eric Rohmers sind anders
als die meisten Leute, die wir - wenigstens aus dem Kino - kennen: Fast alle
sind sie Nichtraucher, sie betrinken sich niemals und scheinen höchstens
Blümchensex zu praktizieren. Dazu neigen sie auch noch zu etwas anderem
Ungewöhnlichen: Sie reden lange, sie reden viel, sie reden bis zum Umfallen.
Dass dabei manchmal mehr herauskommen kann als verbrauchte Luft, beweist z.B.
die Episode "Sommer" aus Rohmers Filmzyklus "Erzählungen
der vier Jahreszeiten", ein lebenskluger Film, der jenseits aller modischen
Kinotrends eine unspektakuläre Geschichte erzählt, die vorstellbar
wäre,- wären ihre Helden (hier die der französischen oberen Mittelschicht)
ein bisschen weniger wohlerzogen und gesprächig.
Gaspard, ein Mathematik-Student kurz vor Eintritt
in das Berufsleben, verbringt seinen Sommerurlaub auf einer Bretagne-Insel,
in der Hoffnung, der ihn anziehenden, kapriziösen Lena zu begegnen, mit
der er dort locker verabredet ist. Doch Lena lässt auf sich warten, und
Gaspard, von Natur aus eher passiv und schüchtern, aber nach eigener Einschätzung
"süß" wirkend, kann nicht verhindern, dass sich schon bald
zwei andere Mädchen für ihn interessieren. Zu der unauffälligen,
kellnernden Studentin Margot, die ihn am Strand anspricht, entwickelt Gaspard
eher freundschaftliche Gefühle, gefördert durch ausgiebige Spaziergänge
mit langen Gesprächen, deren zentrales Thema oftmals – er selbst ist. Obwohl
bald darauf auch Solène ihn anspricht, ist sie sichtlich eher ein Objekt
seiner Begierde, rassig, temperamentvoll und zielbewusst. Sie hat sich gerade
"von zwei Freunden getrennt", und will sehr bald wissen, woran sie
bei Gaspard ist, auch ohne ihn so intensiv kennengelernt zu haben, wie zuvor
die kritischere Margot. Der nachgiebige Gaspard ist beinahe Solènes "neuer
Freund", als aus heiterem Himmel doch noch Lena auftaucht, und ihm Entscheidungen
abverlangt...
Ein paar tiefergehende Gedanken mag der studierte
Philosoph und Mitbegründer der "Nouvelle Vague" Eric Rohmer seinem
"Jahreszeiten-Zyklus" schon gewidmet haben, so dass die Jugendlichkeit
einer der Protagonistinnen seiner "Frühlingserzählung", oder die späten Bindungsversuche einer
reiferen Frau in der "Herbstgeschichte" sicherlich beabsichtigt sind. ‚Winter‘ lässt
spontan Alter und Tod assoziieren. Die mäßige französische Kälte
in Rohmers "Wintermärchen" jedoch generiert Glauben und Hoffnung einer
ausgerechnet noch jungen (aber einsamen) Frau. Die Gleichung Lebensalter = Jahreszeit
geht also in Rohmers "Jahreszeiten" nicht immer vollständig auf.
Nähert man sich den Jahreszeiten mithilfe ihrer psychologisch-emotionalen
Konnotationen, dann könnte ‚Winter‘ z.B. auch für Kargheit und Stagnation
und ‚Sommer‘ für Fülle und Lebendigkeit stehen, und diese Methode
erleichtert auch einen Zugang zu Rohmers "Sommer".
"Gaspard auf Freiersfüßen"
hätte vor hundert Jahren vielleicht ein Roman mit ähnlicher Geschichte
geheissen, und abgesehen von ein paar neuzeitlichen Errungenschaften könnte
"Sommer" unter ähnlich liberalen Bedingungen, wie etwa denen
der aufgeklärt-bürgerlichen Epoche der englischen Oberschicht prinzipiell
auch vor zweihundert Jahren spielen. Auf das Setting kommt es an. Doch "Sommer"
entpuppt sich eher als zeitlos, als als altmodisch. "Zeitlos" im Sinne
von ungebunden an Epochen, Moden oder Regionen. "Sommer" ist eher
die Studie einer "conditio humana" der Fülle, als ein Film über
das Jungsein in den 1990 - er Jahren. Diese Bedingtheit glaubwürdig zu
kreieren ist nur möglich in einer relativ offenen, sowie toleranten Umgebung,
wie die der hochsaisonalen sommerlichen Bretagne-Insel, wo wir Gaspard begegnen.
Erstaunlich ähnlich sind die ersten wackligen
Handkamera-Einstellungen mit Gaspard auf der Fähre den ersten des Filmes
"Idioten" von Lars von Trier, und im Nachhinein ist
es ist kein Wunder, über Eric Rohmers Authentizitätsliebe zu erfahren,
dass er z.B. keine hinterher eingespielte Musik in seinen Filmen verwendet,
nicht einmal einen Vogel, der nicht "live" zur Aufnahmesituation singt
(als wäre Rohmer ein "Dogma 95"-er ). Die kleine und dadurch
bewegliche Kamera in Rohmers Filmen wackelt selten dokumentarisch, aber sie
ermöglicht problemlosen Zugang zu vorgefundenen Drehorten, an denen dann
real existierende Szenarien die teilweise vorher ausgefeilten, aber auch improvisierten
Szenen und Dialoge untermalen.
Man darf von Rohmer kein fulminantes Spektakelkino
erwarten. Aus ‚Action‘ wird in "Sommer" der ‚Sprechakt‘, und beinahe
ausschließlich auf der sprachlichen Ebene entspinnt sich eine trotzdem
interessante und abwechslungsreiche Handlung. Charaktere,- ja geradezu präzise
ausgeführte Seelengemälde- liefern die Pole, zwischen denen Spannung
erzeugt wird.
Im Zentrum des Films steht der Charakter Gaspard,
der junge Mann in der Blüte seiner Jahre und auf der Höhe seines "Marktwerts",
der im Moment, da er die Wahl hat, realisiert, dass er noch nicht recht weiss,
was er will. Gaspard ist ein (passiv) Suchender (und der Zuschauer ist eingeladen,
mitzusuchen). Er sucht nach einer passenden Frau, aber damit auch nach seinen
eigenen Wertvorstellungen,- sprich: nach sich selbst. Wie er das macht, d.h.
wie Rohmer ihn und seine drei Wahlmöglichkeiten inszeniert, das zeugt von
symphatisierender Menschenkenntnis, weil es in "Sommer" de facto keinen
Charakter gibt, der ernsthaft schlecht abschneidet. In dieser Geschichte gibt
es nur drei Deckel und einen Topf. Mancher Deckel passt eben besser - das weiß
der Volksmund - aber Rohmer weiß auch, warum er das tut,- und warum manchmal
eine (erwachsene) Entscheidung das Wackeln verhindern könnte...
Wer Lust hat, länger aufmerksam zuzuhören,
wird garantiert dazu lernen,- wie so oft im Leben.
Andreas Thomas / 9 von 10 Punkten
Filmdaten
Sommer (Conte d'été),
F, 1996, 110 Min., Farbe,
Regie: Eric Rohmer;
Drehbuch: Eric Rohmer; Kamera: Diane Baratier; Schnitt: Mary Stephen; Produzenten:
Francoise Etchegaray für Les Films du Losagne / CER; Musik: Philippe Eidel,
Sébastian Erms; Ton: Pascal Ribier
Darsteller: Melvil
Poupaud (Gaspar), Amanda Langlet (Margot), Aurélia Nolin (Lena), Gwenaelle
Simon (Solène)
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei: filmrezension.de