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Songs
from the Second Floor
Inhalt:
Ein
Möbelverkäufer setzt seine Firma in Brand, um die Versicherungssumme
zu kassieren, sein Sohn ist vom "Gedichteschreiben verrückt geworden",
der Vater beginnt ein neues Geschäft mit dem Verkauf von Kruzifixen; ein
Zauberkünstler sägt versehentlich einen Freiwilligen in den Bauch;
ein 100-jähriger schwedischer General a. D. empfängt seine Geburtstagsgäste
im Pflegeheim mit nationalsozialistischen Parolen; Manager ziehen in langen
Aufmärschen durch die Straßen Stockholms und geißeln sich selbst
ihrer Sünden wegen und ein nie endender Verkehrsstau hat alles Leben lahm
gelegt.
Kritik:
"Geliebt
sei, wer sich hinsetzt." Dieser Satz aus einem Gedicht von Caesar Vallejo
steht am Anfang des neuen Films von Schwedens hochbegabtem Regisseur Roy Andersson
und ist der Schlüssel zur Findung der Wahrheit hinter seinem neuesten Film
Sånger
Från Andra Våningen,
der international unter dem Titel Songs
From The Second Floor
in diesem und dem letzten Jahr für Furore sorgte.
Der
Film, der am 18. April 2002 in Deutschland startete, und den Spezial Preis der
Jury in Cannes 2000 gewann, ist rückblickend betrachtet sicherlich einer
der interessantesten Filme, die die Angst der Menschen vor der Jahrtausendwende
betrachten. Wer Songs
From The Second Floor
anschaut, wird sehr schnell feststellen, dass nichts Geringeres als das Ende
der Welt die Thematik ist, die Andersson in diesem Film aufnimmt, an dem er
über zehn Jahre lang gearbeitet hat. Dabei erzählt er nicht von einem
"furiosen" Untergang oder einer Endzeitstimmung, sondern er beschreibt
schlicht und eindringlich den Stillstand und das "Auspendeln" aller
uns bekannten Systeme, Werte und Strukturen. Seine Figuren suchen nach Absolution
in einer Welt, deren erbarmungslose Maschinerie des Kapitalismus sie alle schuldig
gemacht zu haben scheint. Sie wollen wieder zur Ruhe finden, sich setzen, aber
der Stuhl wird ihnen weggerissen und so wandeln sie weiter wie moderne Monstren
mit leichenblassen Gesichtern durch die klaustrophobischen Straßen Stockholms,
die in Songs
From The Second Floor
wie Einbahnstraßen in die Humiliation und Entmenschlichung wirken.
Regisseur
Andersson bedient sich zur visuellen Umsetzung seines "Armageddons"
einer atemberaubenden Bildsprache, die in ihrer surrealistischen Konzeption
an Luis Bunuel und in ihrer kargen, konzentrierten Ausleuchtung an Jacques Tati
erinnert, mit dessen an der modernen, davonrasenden Welt verzweifelnden Meisterwerken
Anderssons Film durchaus Parallelen vorzuweisen hat. Andersson und seine drei
Kameraleute komponieren 46 geniale Einstellungen, die jede für sich den
resignierenden Grundton des Werkes mit einer immensen Fülle an Symbolen
unterstreichen: Der Möbelverkäufer sitzt in seinem abgebrannten Geschäft,
sein Gesicht und seine Hände mit Ruß verschmiert, er verhandelt mit
der Versicherung und im Hintergrund ziehen die sich der Selbstgeißelung
unterziehenden Geschäftsleute durch die Straßen, die mich in ihrer
bedrückenden, absurd wirkenden Aura auf seltsame Weise sofort an die aussätzigen
Selbstgeißler in Bergmans Das
Siebente Siegel (Det
Sjunde Inseglet,
1957) erinnerten. Oder auch jenes Bild: Ein Mann wird von seinem Arbeitgeber
entlassen und in einer, im extremen Weitwinkel aufgenommenen Szene, hängt
er sich an dessen Füße und wird von ihm meterweit über einen
endlos langen Flur, weg von der Kamera und weg vom Zuschauer gezogen. Die ganze
Zeit über achtet der Betrachter nur auf die beiden Protagonisten, die sich
genau in der Mitte des Bildes befinden, und erst als deren Bewegung zum Stillstand
kommt, fällt ihm auf, dass die ganze Zeit über die Türen zu den
Büros an den Seiten des Flures einen Spalt weit offen standen und die restlichen
Mitarbeiter die Szenerie begafften. Ein genialer Augenblick, der wie eine Reminiszenz
an Tatis Playtime
wirkt, in dem sich viele der grandiosen Einfälle am Bildrand abspielten.
Nicht
nur in seiner optischen Gestaltung mit ihrer kalten, grau-blau-gelben Beleuchtung,
der starren Kamera, die die Bilder häufig erst sekundenlang bewegungslos
stehen lässt, bevor sie plötzlich mit langsamem, elegischem Leben
versehen werden, und den sich Furcht einflößend erhebenden Bauwerken,
die wie die monströsen Grenzpfeiler der Welt der Protagonisten des Films
wirken, sondern auch gedanklich steht Anderssons Film Tati wohl näher als
irgendeinem anderen großen Filmemacher. Denn obwohl Jacques Tati ein begnadeter
Komiker war, so strahlt doch jeder seiner Filme - ähnlich wie später
bei Woody Allen - eine gewisse Depression, eine hohe Melancholie und ein Kopfschütteln
gegenüber der modernen Welt aus. Auch Songs
From The Second Floor
ist ein Film mit einigen erstaunlich humoristischen Momenten, doch überwiegt
- und hier unterscheiden sich Andersson und Tati dann doch wieder - der resignative
Aspekt, die Verzweiflung über die Ausbeutung der sozial schwächeren
Glieder der Gesellschaft durch den rücksichtslosen Wahn nach Kommerz, Macht
und Expansion. Anderssons komplexe Satire macht vor nichts halt, vor keinem
Wert und keinem "altehrwürdigen Ideal": Man verkauft beispielsweise
massenweise Kruzifixe und wirft sie wie Sperrmüll weg, als man feststellt,
dass man "mit einem gekreuzigten Versager keine Profite mehr machen kann".
Die Welt von Songs
From The Second Floor
ist eine, in der die Menschen Gott aus ihrem Bewusstsein gestrichen haben, in
der Spiritualität keinerlei Stellenwert mehr hat - es ist jene Horrorvision,
vor der uns die Filme Andrei Tarkovskys bewahren wollten.
Und
dennoch macht der Film im Verlaufe seiner Entwicklung auch an manchen Stellen
immer wieder klar, wie wenig die Menschen in dieser von ihnen geschaffenen,
dämonischen Welt leben können und wollen: Da wird unter Tränen
und in einem biblischen Zeremoniell ein weiß gekleidetes, schuldloses
Mädchen geopfert, als Symbol des Versuchs der Reinwaschung von aller Sünde
und in einem der letzten der faszinierenden Bilder des Films, in einer Phase,
in der er immer mehr das Lineare verlässt und in seiner surrealistischen
Art seine bereits vorher eingeschlagene Annäherung an Bunuel vollendet,
versuchen zahlreiche Charaktere in einer enorm breit aufgefächerten, großflächigen
Einstellung mit ihrem Hab und Gut auf einem Flughafen zu den Abfertigungsschaltern
zu kommen, um endlich aus diesem Moloch fliehen zu können, müssen
aber feststellen, dass ihr Gepäck, in dem sie ihre Kostbarkeiten verstaut
haben, viel zu schwer geworden ist. Songs
From The Second Floor
ist depressiv, finster und apokalyptisch - aber nicht wirklich hoffnungslos.
Denn an den Stellen, an denen der enorm komplizierte, symbolträchtige Film
plötzlich zu einer erhabenen Schlichtheit und einer völlig klaren
Simplizität findet, da keimen die Ansätze einer Lösung. Etwa
dann, wenn dem vom "Gedichtschreiben verrückt gewordenen" und
des Sprechens unfähigen Sohn des Möbelverkäufers aus den Gedichten
Vallejos zitiert wird: "Geliebt sei, wer eine Uhr trägt und Gott gesehen
hat. Geliebt sei, wer sich den Finger in der Tür klemmt. Geliebt sei, wer
sich hinsetzt."
Janis
El-Bira
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im fz-archiv
mehrere Texte
Songs
from the Second Floor
(Sånger
från andra våningen, 2002)
Regie:
Roy Andersson
Premiere:
Mai 2002 (Cannes Film Festival, Frankreich)
Drehbuch:
Roy Andersson
Dt.
Start: 18. April 2002
FSK:
ab 16
Land:
Dänemark, Norwegen, Schweden
Länge:
98 min
Darsteller:
Lars
Nordh (Kalle), Stefan Larsson (Stefan), Bengt C.W. Carlsson (Lennart), Torbjörn
Fahlström (Pelle), Sten Andersson (Lasse), Rolando Nunez (Fremder), Lucio
Vucina (Zauberer), Peter Roth (Tomas), Klas-Gösta Olsson (Spanischer Autor),
Nils Eriksson (Patient), Hanna Eriksson (Mia), Tommy Johansson (Uffe), Sture
Olsson (Sven), Fredrik Sjögren (Russischer Junge)
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