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Songs
from the Second Floor
Alles
hat seine Zeit
Von
irgendwo her scheinen dunkle Wolken aufzuziehen. Man hört noch nichts.
Kein Getöse weit und breit. Aber es liegt in der Luft, merklich, gespenstisch,
unsichtbar, doch fühlbar, als wenn der Tod hinter einem stünde und
man die Kälte im Rücken spüren könnte, als wenn er gleich
zugreifen würde. Panik macht sich breit. Gerade hat Lennart (Bengt W. Carlsson)
seinem Untergebenen Pelle (Torbjörn Fahlström) erklärt: „Alles
hat seine Zeit.” Es ist Zeit, Entlassungen vorzunehmen, meint er damit. In einem
vom künstlichem Licht eines Solariums bestrahlten Raum liegt Lennart unter
der Heizsonne. Nur seine Füße sind zu sehen und seine Stimme zu hören.
Pelle steht noch halb in der Tür, hinunter gebeugt zu Lennart, devot seine
Befehle entgegennehmend. „Orakel im Solarium” nennt Regisseur Roy Andersson
diese Anfangsszene seines Films. Kurz darauf ist Lasse (Sten Andersson) entlassen.
Er kriecht auf dem Flur des ersten Stocks des Geschäftshauses und klammert
sich an Pelles Beinen fest. Es nützt ihm nichts, dass er immer wieder ausruft,
er sei doch seit 30 Jahren hier. Pelle will sich seiner entledigen. Alle Türen
auf dem Gang sind einen Spalt geöffnet. Schließlich reißt sich
Pelle los. Lasse bleibt liegen. Pelle schließt seine Tür hinter sich.
Die anderen Türen schließen sich. Schnitt.
Die
surreale Welt, die Roy Andersson uns zeigt und die von Absurdität geprägt
ist, scheint aus den Fugen zu geraten. Kommunikation scheint in dieser Welt
eine Fremdwort, eine verlorene Technik, deren Sinn abhanden gekommen ist. Eine
Schwester im Krankenhaus fragt immer wieder den Arzt danach, wann er sich scheiden
lassen werde. Sie bekommt keine Antwort. Der Arzt schweigt, scheint abwesend.
Ein Fremder (Roland Núñez), der nach einem „Allan Svensson” fragt
bekommt ebenfalls keine Antwort, man ignoriert ihn. Erst als er vor dem Gebäude
des Unternehmens steht, in dem Pelle den Fahrstuhl gerade verlässt, um
auf den Golfplatz zu fahren, antworten ihm vorbeikommende Männer: Sie schlagen
ihn zu Boden, als sie seine Stimme hören und treten auf ihn ein. Die auf
der anderen Straßenseite Wartenden kümmert es nicht. „Sånger
från andra våningen” handelt von Entwertung und Verlust. Alle Räume,
Gebäude erscheinen gleich, gleichartig und gleichwertig, das heißt
nutzlos, entwertet. Das Grau, mit leichten Grüntönen, das den Film
durchweg beherrscht, kontrastiert mit den fahlen, bleichen Gesichtern der Charaktere,
die alle äußerst verletzlich, ja nackt erscheinen, ebenfalls entwertet
und von immensem Verlust geprägt. Die Kamera fängt diese Szenen jeweils
in einer weitwinkligen Einstellung ein. Ähnlich der surrealen Malerei ist
jede Szene durchkomponiert bis in alle Einzelheiten.
So
z.B. eine Szene in der U-Bahn. Wir sehen Kalle (Lars Nordh), dessen bleiches
Gesicht und dessen Anzug mit Asche verschmutzt sind. Um ihn herum starren etliche
Fahrgäste, teils stehend, teils sitzend wie ins Leere in Fahrtrichtung.
Dann stimmen sie, erst leise, dann zu einem mächtigen Chor werdend, eine
Art Choral an (die Musik stammt von Ex-Abba Benny Andersson). Kalle hat gerade
sein Möbelgeschäft in Brand gesetzt, um die Versicherungsprämie
zu kassieren. In seiner Hand hält er einen Plastikbeutel mit den verbrannten
Resten seiner Buchhaltungsunterlagen. Kalle ist völlig verzweifelt, außer
sich, weiß, dass er mit seinem Betrug keinen Erfolg haben wird. Sein Sohn
Tomas (Peter Roth) befindet sich in der Psychiatrie, schweigend, mal weinend.
Tomas schrieb Gedichte und sitzt deshalb im Irrenhaus. Wer Gedichte in dieser
Welt schreibt, muss irre sein. „Alles hat seine Zeit”, kommentiert sein Bruder
Stefan (Stefan Larsson), dessen tröstende Worte er selbst gebrauchen könnte.
Stefan irrt durch die Straßen der namenlosen Stadt, in der sich die Autos
in einem schier endlosen Stau verbarrikadiert haben. Niemand weiß warum.
Dann steht er vor der Wohnung seiner Ex-Freundin, die gerade mit ihrem neuen
Liebhaber Sex hat. Irgendwann hatte sie Stefan vor die Tür gesetzt. Ein
im Müll nach irgend etwas Verwertbarem Suchender schreit hinauf, das könne
sie doch nicht machen; sie solle ihn wieder aufnehmen. Aber Wert hat nur noch
das bisschen, was der Mann aus dem Mülleimer fischt.
Stefan
geht zu Tomas Frau, setzt sich an den Tisch und sagt: „Geliebt sei, wer sich
hinsetzt.” Es sind solche sinnlosen Sätze, die die apokalyptische Stimmung
zum Ausdruck bringen.
In
einer pompösen Zeremonie unter den Augen kirchlicher und weltlicher Würdenträger
wird ein in Weiß gekleidetes Mädchen einen Abgrund hinunter gestoßen.
Hilflosigkeit paart sich mit Gefühllosigkeit und Gewalt. Den Göttern
wird ein Opfer dargeboten, das genauso sinnlos ist wie der Verkauf von Christuskreuzen
durch einen Geschäftemacher, den Kalle kennt. Beide sitzen in einem Raum,
in dem solche Kreuze in allen Größen herumliegen. An einem Kreuz
hat der Nagel an der rechten Hand der Jesusfigur gelockert. Die Figur baumelt
wie ein Pendel, aber keiner beachtet dies. „Sånger från andra våningen”
handelt auch vom Verlust des Transzendenten, von der Bedeutungslosigkeit von
Religion und von Wahrhaftigem. Die Handlungen der Menschen werden immer absurder.
Die Mitglieder eines Aufsichtsrats scheinen verrückt geworden zu sein.
Pelle und andere schleppen Unmengen von Koffern zum Bahnhof. Wollen sie flüchten?
Aber wohin? Eine Abordnung von Offizieren und Soldaten gratuliert im Krankenhaus
einem dem Tode nahen ehemaligen Oberbefehlshaber (Hasse Söderholm) zum
100. Geburtstag. Der Greis, der sich an das Gitter seines Bettes klammert und
meist zur Seite schaut, hebt die Hand und ruft: „Grüßen Sie Göring.”
Die
Schrecknisse der Vergangenheit verfolgen auch Kalle, der sich an die Hinrichtung
eines russischen Jungen durch die Wehrmacht erinnert. Die Schrecknisse der Gegenwart
dokumentieren sich etwa in einer Szene, in der ein Zauberer (Lucio Vucina) einen
Mann im Zauberkasten ansägt. Der Trick misslingt. Das leise, fast kaum
merkbare Staunen dieser Szene korrespondiert mit der nächsten Einstellung,
in der Verletzte dem Arzt und der Schwester, die vergeblich auf eine Antwort
des Arztes wartet, gebracht werden. Die Personen stehen da, starren, der Verletzte
hält seine Hand an der Kopfwunde. Aber es passiert nichts. Warum auch?
In
„Sånger från andra våningen” dringt das Chaos ein. Als ob
unsichtbare Dämonen und Teufel sich langsam in die Seelen der Menschen
einschleichen und sie verrückt machen, ver-rückt sich diese Welt aus
einer sicher geglaubten Ordnung in ein sinnentleertes, absurdes Chaos. Die Dämonen
aber sind die Geister der Vergangenheit und des Todes. Als Kalle an einer Wegkreuzung
vor der Stadt auf den Geschäftemacher trifft, der Jesus-Kreuze verkaufen
wollte, sieht er, wie der von seinem Wagen sämtliche Kreuze wegschmeißt.
„Wie kann man nur so dumm sein zu glauben, mit einem gekreuzigten Versager Geschäfte
machen zu können”, sagt er und fährt weg. Kalle steht da und sieht
die Gespenster der Vergangenheit, die auf ihn zukommen. Er wirft mit den Kreuzen
nach ihnen, aber sie lassen sich nicht vertreiben. Sie lassen sich nicht ins
Jenseits vertrösten. Das geopferte Mädchen, der gehängte russische
Junge und ein ebenfalls als Widerstandskämpferin von der Wehrmacht erhängtes
Mädchen, ein Mann, für dessen Tod Kalle verantwortlich ist, folgen
ihm. Er wird sie nicht los. Sie fordern ihr Recht, wollen wahrgenommen werden.
Kalle steht plötzlich in der Verantwortung. Er ist der einzige, der die
Absurdität der Welt langsam durchschaut hat, der einzige wirklich Über-Lebende
– und nun hat er es mit den Toten der Vergangenheit zu tun.
„Sånger
från andra våningen” ist einerseits bitterböse, antiklerikal,
aber nicht antireligiös, eine Passionsgeschichte der besonderen Art. Nicht
ein einzelner Erlöser wird gekreuzigt und nicht im Leid eines einzelnen
manifestiert sich das Leid der Welt. Andererseits spürt man Anderssons
Nähe zu seinen Charakteren, die nicht von Hass und Distanz geprägt
ist, sondern von mit Ironie, Sarkasmus, Humor, aber auch Bitterkeit und beissender
Kritik versehener Sympathie. Tatsächlich ist „Sånger från andra
våningen” eine surreal verfremdete, in die kalte Geschäftswelt des
„modernen” Kapitalismus entrückte Passionsgeschichte („Alles hat seine
Zeit” stammt beispielsweise aus dem Hohelied Salomons), deren realer Rückbezug
darauf verweist, dass Vergangenes nicht ausgelöscht werden kann. (Kalle
hat das verstanden, zumindest ahnt er es. Seine Brandstiftung ist insoweit symbolhaft.)
Die surreale Darstellung ermöglicht es Andersson, die Kält dieser
Welt in ihrer Konsequenz zu visualisieren. Die Toten fordern ihr Recht – das
bedeutet aber auch, dass Kalle als „modernem Erlöser” die Bürde der
Verantwortung aufgegeben wird. Die Kirche hat versagt, der Staat hat versagt,
die skrupellose Wirtschaft ebenfalls, die Institutionen insgesamt sind Manifestationen
des Versagens. Es bleibt der nackte Mensch.
Andersson,
der seit 25 Jahren in der Werbebranche tätig ist, ist (nicht nur) für
Ingmar Bergman der erfolgreichste und beste Werbefilmer Schwedens. Nach dem
Misserfolg mit seinem Film „Giliap” 1974 hatte sich Andersson aus dem Filmgeschäft
zurückgezogen. Der Symmetrie seiner Bilder, den akribisch durchmessenen
„Stand”-Fotos seines Films ist diese Tätigkeit als Werbefilmer deutlich
anzumerken, ohne dass „Songs from the Second Floor” irgend etwas mit Werbung
zu tun hätte. Andersson denkt eine Welt zu Ende, die für ihn im Chaos
der Bedeutungslosigkeit und der emotionalen Kälte endet (1), in der aber
etwas zutiefst Menschliches als „Restposten” bleibt. An der Stätte des
Mülls, an dem die Jesus-Kreuze liegen, deutet sich dies an: Kalle und die
Toten, die Nackten, könnten von vorne anfangen. Die Aufmerksamkeit, den
Respekt, den sie fordern – und den auch Kalle fordert – eröffnen eine Chance
jenseits einer „zivilisierten” Gesellschaft. Phantasie? Utopie? Jedenfalls hat
etwas die Kälte der Szenerie ganz am Schluss überdauert. Alles hat
seine Zeit – aber erst dann, wenn die Zeit- und Bedeutungslosigkeit dieser chaotischen
Szenerie überwunden werden kann.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei ciao.de
Zu
diesem Film gibt’s im fz-archiv
mehrere Texte
(1)
Andersson selbst kommentiert seinen Film u.a. folgendermaßen:
„Eines
der Hauptthemen ist die Frage von Respekt und Demütigung. Jesus bracht
die gleichen Überlegungen in seiner Bergpredigt zum Ausdruck, die für
mich eine große Inspirationsquelle darstellte. Die Charaktere im Film
verbindet die Tatsache, dass sie alle schwach und verwundbar sind. Jesus Predigt
ist ein Ausdruck absoluten Respekts gegenüber dem schwachen und verwundbaren
Menschen, der von Mächten verängstigt wird, die ihn demütigen
und sein Potential unterdrücken.
Es
gibt verschiedene Arten von Demütigungen. Sogar die eigene Erbschaft kann
der Grund für eine Demütigung sein. Wir schwimmen alle in dieser Suppe
von absurden Werten und absurder Erbschaft. Vielleicht sollten wir beginnen,
unsere Verantwortung für die Umstände, die uns hilflos machen, zu
akzeptieren. Ich glaube, dass die westliche Lebensart das menschliche Potential
hemmt. Wenn Sie ‘Songs From The Second Floor’ sehen, sollten Sie verstehen wie
dumm sich Menschen verhalten. Chaos dringt immer mehr ein, und wird zunehmend
real.
So
schwierig es auch sein mag, die Probleme unserer Gesellschaft zu porträtieren
– geschweige denn zu lösen – hoffe ich dass dieser Film helfen wird, einen
Ansatz und eine Referenz für eine Diskussion zu bieten. Das ist der Grund,
weshalb ich glaube, dass dieser Film die Art von Qualität erreichen muss,
zu der man sich immer hingezogen fühlt, so als ob man einen Van Gogh immer
wieder neu sieht oder sich ein Stück von Beethoven immer wieder anhören
kann. Auch wenn es ziemlich anmaßend klingt, es muss ewige Referenzen
auch im Film geben; als ein Regisseur fühle ich mich verantwortlich dafür,
mich darum zu bemühen dieses Niveau zu erreichen.”
(Quelle:
http://www.rapideyemovies.de/movies/songs-from-the-second-floor/backgrounds.php)
Songs
from the Second Floor
(Sånger
från andra våningen)
Dänemark,
Schweden, Norwegen 2000, 98 Minuten
Regie:
Roy Andersson
Drehbuch:
Roy Andersson
Musik:
Benny Andersson
Director
of Photography: István Borbás, Jesper Klevenas, Robert Komarek
Schnitt:
Roy Andersson
Produktionsdesign:
Darsteller:
Lars Nordh (Kalle), Stefan Larsson (Stefan), Bengt C. W. Carlsson (Lennart),
Torbjörn Fahlström (Pelle), Sten Andersson (Lasse), Roland Núñez
(Der Fremde), Lucio Vucina (Der Zauberer), Per Jörnelius (Der angesägte
Mann), Peter Roth (Tomas), Klas-Gösta Olsson (Der Redenschreiber), Nils-Åke
Eriksson (Patient), Hanna Eriksson (Mia), Tommy Johansson (Uffe), Sture Olsson
(Sven), Fredrik Sjögren (Der russische Junge), Stephen Whitton (Patient),
Jöran Mueller (Der Bürokrat), Eva Stenfelt (Die Psychologin),Helene
Mathiasson (Anna), Kristina Hukkala Ranch (Lasses Frau), Hasse Söderholm
(Oberbefehlshaber)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0120263
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