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Die
Spielregel
Vitamine
und Indianer
Wann
war die Postmoderne noch mal? Anmerkungen
zu Claude Renoirs „La Règle du Jeu”
Eine
gefühlsarme, von Ironie zerfressene, technikgläubige, beziehungsunfähige
Gesellschaft, die sich an infantile Superstars ranschmeisst, der aber eigentlich
alles egal ist, weil: Werte wieso? Dekadenz am Rande der Katastrophe. Nicht
2001, sondern 1939. Die Parallelen zwischen den Idealen der 90er und Renoirs
Szenerie der französischen „besseren Gesellschaft“ kurz vor Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs sind verblüffend. Renoir stattet seine Zuschauer mit
einem nicht gerade funktionstüchtigen Koordinatensystem aus: In „La Règle
du Jeu” gibt es keine echten Protagonisten. Das macht die Rezeption schwierig,
da der Zuschauer keine Anker auswerfen kann, um kurz inne zu halten und sich
eine Übersicht zu verschaffen. In keiner Szene ist jemand alleine. Privatsphäre
ist auch gar nicht nötig, denn das ganze Leben ist eine Bühne: Inszenierung
ist alles und Entdeckung ausdrücklich erwünscht. Nicht nur für
die Filmfiguren, sondern auch für den Zuschauer. Und der hat einiges zu
tun: In manchen Einstellungen erleben wir zwei, drei und mehr Handlungsebenen
gleichzeitig: Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund – es gibt viel zu sehen
auf dem Landschloss La Coliniere.
Die
Kamera steht manchmal richtiggehend unter Strom: Mit teils irrem Tempo und großer
Leichtigkeit rauscht sie durch die Bilder: Die Reißschwenks, die Montage
und die wilde Beleuchtung während der Theateraufführung, die Komplexität
der Bilder – all das wirkt unglaublich modern. Auch die meisten Protagonisten
vertreten recht moderne Ansichten: Man befasst sich mit der Geschichte der Indianer
und isst Gemüse wegen der Vitamine. Natürlich befasst sich niemand
wirklich mit diesen Themen, aber es ist einfach sehr schick, sich mit ihnen
zu schmücken. Geradezu postmodern ist die Verlorenheit der Figuren: Sie
verstecken sich hinter andauernder Ironie und sich zu verlieben ist fast eine
Frage des guten Stils – ein echtes Gefühlsleben jedenfalls kommt bei Renoirs
Figuren nur selten vor. Stattdessen geht es um Fragen der richtigen Darstellung:
Warum hält sich André, der – immerhin aus Liebe zu einer Frau –
alleine den Atlantik überquert hat, nicht an die Regeln und lässt
sich als Nationalheld feiern? Muss er sich weinerlich im Radio beschweren, dass
die Angebetete sich für sein Kunststück gar nicht interessiert? Und
was ist das eigentlich für ein Spiel, auf das sich die titelgebende Regel
bezieht? Roberts Sammlung von mechanischem Nippes, eine Art Glasmenagerie zum
Aufziehen, gewährt zumindest einen kurzen Blick auf eine zwanghafte Seele:
Wenn doch nur alles so berechenbar wäre und so verlässlich funktionieren
würde, wie die kleine Porzellannegerin, die den Kopf automatisch drehen
kann! Die digitalen Äquivalente dieser Geräte finden sich heute als
Handy, PDA und mp3-Player in allen Hosentaschen. Auch sie funktionieren weit
verlässlicher als menschliche Beziehungen. Und sie sind immer da, wenn
man sie braucht.
So
hat Renoir eine Gesellschaft porträtiert, die viel näher an heute
ist, als man glauben will. Und sogar dass man den Deutschen keine Waffen in
die Hand geben darf, zeigt er. Die Pointe allerdings, die er 1939 ahnungsvoll
formuliert, ist unheimlich: Der Mord, den der deutsche Schumacher begeht, wird
zum Unfall erklärt und kollektiv geleugnet. Die Party geht weiter. The
show must go on.
Gabriel
F. Yoran
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der filmzentrale
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der
filmzentrale mehrere Texte
Die
Spielregel
(La
Règle du jeu, 1939)
Regie:
Jean Renoir
Premiere:
08. Juli 1939 (Frankreich)
Drehbuch:
Carl Koch & Jean Renoir
Dt.
Start: 24. November 1972
Land:
Frankreich
Länge:
110 min
Darsteller:
Nora
Gregor (Christine de la Cheyniest), Paulette Dubost (Lisette, sa Camériste),
Mila Parély (Geneviève de Marras), Odette Talazac (Mme de la Plante),
Claire Gérard (Mme de la Bruyère), Anne Mayen (Jackie, nièce
de Christine), Lise Elina (Radio-Reporter), Marcel Dalio (Robert de la Cheyniest),
Julien Carette (Marceau, le braconnier), Roland Toutain (André Jurieux),
Gaston Modot (Schumacher, le garde-chasse), Jean Renoir (Octave), Pierre Magnier
(Le Général), Eddy Debray (Corneille, le majordome), Pierre Nay
(St. Aubin)
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