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Spurlos
verschwunden
Das Leitmotiv von Spurlos verschwunden ist, wie der Titel bereits ankündigt, das rätselhafte
Verschwinden einer jungen Frau, Saskia Wagter. Der mysteriöse Vorfall fungiert
in der filmischen Adaption des Romans „The Golden Egg“ von Tim Krabbé
als Folge einer moralischen Selbstprüfung und Ausgangspunkt einer Suche.
In zunächst getrennten Handlungssträngen folgt Regisseur Georg Sluizer
der obsessiven Suche ihres Freundes, Rex Hofman, und macht den Zuschauer in
Rückblenden mit der Vorgeschichte der Tat vertraut. Getrieben von metaethischer
Beweisnot tritt im Laufe der Geschichte der Mann hervor, der Hofman Anlass zur
Suche gibt: Raymond Lemorne. Jahre nach dem ungeklärten Vorfall verwickelt
Lemorne Hofman in ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel um Lemornes düsteres
Geheimnis, ehe erst in der letzten Einstellung Saskias Verbleib offenbart wird.
Wir lernen Rex und Saskia auf ihrer Fahrt in den Urlaub
nach Frankreich kennen. Sluizer konstruiert bei dieser Gelegenheit eine schaurige
Assoziation mit dem Schicksal, das ihnen blüht, indem er sie in einem langen
Tunnel, der durch ein Bergmassiv führt, mit leerem Tank stecken läßt.
Einen weiteren gleichnishaften Bezug zu ihrer beider Verderben findet man im
Traum vom goldenen Ei, allerdings in einem inversen Verhältnis: Im Traum
sind Rex und Saskia zunächst voneinander getrennt, jeder für sich
gefangen in einem goldenen Ei, und finden daraufhin zueinander. Im Laufe der
Geschichte werden sie nach anfänglichem Miteinander voneinander getrennt,
bis jeder der beiden für sich allein ... Aber diese metaphorischen Anspielungen
sind Marginalien.
Die Entführung Saskias ereignet sich auf einer Autobahnraststätte.
Der Wagen wird aufgetankt, man legt eine Pause ein, Saskia geht, um Getränke
zu holen - und kehrt nicht zurück. In einer kurzen Einstellung zuvor bekommen
wir Raymond Lemorne bereits zu Gesicht. Hinter dem Steuer seines Wagens sitzend
legt er eine Gipsattrappe an und nimmt eine Flasche Äther an sich, Vorbereitungen
auf kommendes Ungemach. Kurz vor Saskias Verschwinden sieht man ihn noch einmal
am Eingang zur Raststätte Ausschau halten. Nachdem Saskia trotzt Rex‘ hartnäckiger
Suche nicht mehr aufzufinden ist, drängt sich in Erinnerung jener Szenen
eine unheilvolle Verbindung zu Lemorne auf, mehr erfährt man nicht; andernfalls
ließe Sluizer der Geschichte die Luft raus. In den folgenden Rückblenden
gewährt Sluizer einen fragmentarischen Einblick in die Planung und Vorbereitung
der Tat. Hinsichtlich des Tathergangs und Saskias Verbleib wird der Zuschauer
zwar nicht klüger, aber er lernt Lemorne kennen.
Raymond Lemorne ist ein Mann, der nichts dem Zufall überlässt.
Jeder Bestandteil seines Vorhabens wird einem eingehenden Test unterzogen: Erregen
Schreie bei seinem Landhaus die Aufmerksamkeit der Nachbarn? Wie lange hält
die narkotisierende Wirkung einer gegebenen Menge Äther an? Wie lassen
sich potentielle Opfer ködern? Wie lang ist die Fahrzeit vom Ort der Entführung
bis zum Landhaus? Alles wird gründlich ermittelt, genau vermessen und akribisch
protokolliert. Nachfragen seiner Frau und seiner Tochter ob der damit verbundenen
Extratouren begegnet Lemorne mit dem Hinweis auf seine vermeintliche Leidenschaft für
das Landhaus. Da Lemorne sich als guter Ehemann und Vater gibt, wird seine Erklärung
ohne Argwohn akzeptiert. Lemorne bleibt unentdeckt und die näheren Umstände
der eigentlichen Tat – vor allem des Motivs – vorerst im Dunkeln.
Die Zeit geht ins Land und auch drei Jahre nach dem Verschwinden Saskias
ist Rex Hofman nicht klüger als drei Minuten danach. Er lebt zwar nicht
mehr allein, aber seine Sehnsucht nach Saskia ist ungebrochen, genau wie seine
verzweifelte Suche nach ihr. Diese Situation macht seine neue Gefährtin
Lienecke zur Assistentin, zur Therapeutin, zur Seelentrösterin, ... zur
zweiten Wahl.
Was Sie unter diesen Umständen dazu bewogen hat, mit Rex Hofman
zusammen zu leben (die Frage geht auch an ihn), schließlich hat sie ihn
ja nicht anders kennen gelernt, sei hier nicht erörtert.
Es
ist lohnender, sich auf die eigentliche Hauptfigur der Geschichte zu konzentrieren,
auf Raymond Lemorne. Der wird durch die öffentlich gemachte Suche Hofmans
auf Rex aufmerksam. Mit wachsendem Interesse verfolgt er die Anstrengungen Rex
Hofmans Saskias Verbleib aufzuklären. Wohlbemerkt: Lemorne reagiert interessiert,
nicht beunruhigt ob einer möglichen Entdeckung. Von Rex‘ Aktivitäten
scheint für ihn keine Bedrohung auszugehen. Lemornes gewissenhafte Vorbereitung
zahlt sich offenbar aus. Er ist für Hofman nicht greifbar. Umgekehrt wird
Hofman für Lemorne zum Studienobjekt. Wie ein Versuchstier aufgrund seiner
elementaren Dispositionen (Hunger und Furcht vor Schmerz) steuerbar ist, nutzt
Lemorne Hofmans Fixiertheit auf Saskia, um abzuschätzen, wie weit er ihn
treiben kann. Er zitiert Hofman eins ums andere Mal zu verschiedenen Orten,
beobachtet ihn, zeigt sich ihm sogar, allerdings ohne sich ihm erkennen zu geben;
so erkundet er, ob Hofman möglicherweise eines Photos vom Rastplatz habhaft
geworden ist, auf dem Lemorne (zufällig) zu sehen ist; Hofman hat jedoch
nichts dergleichen in der Hand, er tappt völlig im Dunkeln.
Lemorne
analysiert Hofman mit der gleichen Emotionslosigkeit und Akribie, mit der er
als Lehrer der Chemie chemische Reaktionen analysiert. Und wie sich chemische
Reaktionen bei hinreichender Kenntnis der beteiligten Substanzen voraussagen
lassen, lernt Lemorne aufgrund Hofmans Profil dessen
Reaktionen abzuschätzen. Rex Hofman ist geradezu besessen von Saskia. Worauf
beruht dieser manische Bezug
? Wir erfahren, was Lemorne beruflich
macht, aber nicht, womit Rex und Saskia ihren Lebensunterhalt bestreiten bzw.
ihre Zeit verbringen. Die Identität der beiden wird ausschließlich
durch ihre Beziehung zueinander vermittelt. Mit dem Verlust Saskias hat Rex
Hofman jede Perspektive verloren. Saskia und Rex kreisen um ihren gemeinsamen
Schwerpunkt, ihrem (und vor allem seinen) einzigen Halt. Daraus resultiert Rex‘
Besessenheit, Saskia wiederzufinden: er sucht seinen Halt im Leben. Das hat
Lemorne erkannt.
Den entscheidenden Anstoß zu der Entscheidung,
Hofman gegenüber zu treten und sich ihm zu offenbaren, dürfte Hofmans
Aufruf im Fernsehen sein. Dort verkündet er glaubhaft, an den ihm unbekannten
Entführer gewandt: „Ich möchte Ihnen gern etwas sagen. Ich möchte
mich gern mit Ihnen treffen. Ich will wissen, was mit meiner Freundin passiert
ist. Und dafür bin ich zu allem bereit. Ich hasse sie nicht; und auch die
schrecklichste Gewissheit wird mich nicht umwerfen. Aber ich will es wissen!“
Der Moderator fragt weiter: „Haben Sie denn noch irgendeine
Hoffnung ...“,
„ ... sie wiederzufinden?“ vollendet Hofman den Satz,
„Nein!“
Der Moderator insistiert: „Verzeihen Sie die Frage, Monsieur
Hofman, aber warum geben Sie dann nicht auf?“
Hofmann erwidert bestimmt: „Ich kann nicht aufgeben,
Monsieur!“
Man sieht Lemorne während dieses Appells vor dem
heimischen Fernseher sitzend, mit aufmerksamem Blick jede Regung und Wendung Hofmans verfolgend.
Hofman kehrt sein Innerstes nach außen und Lemorne nimmt Maß.
Lemorne macht sich schließlich in die Niederlande
auf und erwartet Hofman vor dessen Haustür. An dieser Stelle drängt
sich die Frage auf: Warum geht Lemorne das Risiko einer Kontaktaufnahme ein?
Vordergründig gibt es für ihn nichts zu gewinnen
und auch das beste Risikomanagement kann keine Sicherheit bieten, d.h. er geht
mit dem Treffen ein unnötiges Risiko ein. Dass Lemorne diese Gefahr dennoch auf sich
nimmt erklärt sich aus zwei Bemerkungen, die er im Gespräch mit seiner
Frau und auf der Fahrt mit Hofman äußert. So erläutert er seiner
Frau im Zusammenhang mit dem Landhaus: „Das Haus in Sancome ist meine Leidenschaft.
Nach und nach wurde es meine Leidenschaft. ... Du hast irgendeine Idee, du machst
den ersten Schritt und dann den zweiten, und plötzlich wird dir bewusst,
dass du bis zum Hals in etwas Verrücktem steckst. Das macht aber nichts,
du bleibst am Ball, weil es dir ein großes Vergnügen bereitet, eine
Befriedigung wie kaum etwas anderes!“
Was hier nur auf das Landhaus gemünzt zu sein scheint,
gilt für Lemorne im Allgemeinen: Eine Leidenschaft für die Planbarkeit.
Für Lemorne gibt es keine größere Befriedigung als die gedankliche
Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse und deren anschließende Realisierung.
Folglich gibt es für ihn nichts frustriererendes als die Erfahrung, dass
ein Plan fehlschlägt, verursacht durch den größten Feind aller
Planung, den Zufall. Dies bemerkt er auch Hofman gegenüber während
der Auffahrt auf den Rastplatz, auf dem alles begann: „Jede Strategie kann von
einem Moment zum anderen in nichts zusammenbrechen, durch einen ganz dummen
Zufall, und das macht mich traurig.“ (Man denke nur an Lemornes Niesen beim
ersten potentiellen Opfer auf dem Rastplatz, was die Frau gerettet hat.)
Nach Lemornes eingehender Analyse Hofmans ist die Kontaktaufnahme
und seine Offenbarung vor Hofman ein kalkulierbares Szenario, steuerbar aufgrund
der Kenntnis von Hofmans Gemütslage. Hofman ist für Lemorne berechenbar
und nährt Lemornes Faszination vom Berechenbaren. Diesem Reiz kann er nicht
wiederstehen. Darum trifft er sich mit Hofman, trotz des nicht eliminierbaren
Restrisikos, dass seine Schuld an Saskias Verschwinden an den Tag kommen könnte.
Wenn Lemorne Rex Hofman am Ende das gleiche Schicksal wie Saskia zuteil werden
läßt, tut er dies nicht, um einer möglichen zukünftigen
Festnahme aufgrund Hofmans hartnäckiger Recherchen zu entgehen, nein, es
geht ausschließlich ums Spiel, um die ausführbare Strategie. Mathematisch,
nicht humanistisch oder kulturanthropologisch gesehen, spielt Raymond Lemorne
ein Spiel mit Rex Hofman.
Das Ziel des Spiels besteht darin, Rex Hofman gewaltlos
dazu zu bewegen, einen Weg einzuschlagen, der in Saskias Schicksal endet. Durch
die Zusage an Hofman, er werde das gleiche Schicksal erleben wie Saskia, nutzt
Lemorne die Sehnsucht Hofmans auf Vereinigung mit Saskia – symbolisiert durch
den Traum vom goldenen Ei – als Katalysator für sein Ziel, Hofman in die
Richtung zu lenken, die er haben will. Lemorne bedient mit der Aussicht auf ein gemeinsames
Schicksal nicht nur Hofmans jahrelang gehegte Neugier über Saskias Verbleib,
sondern auch dessen Sehnsucht nach schicksalhafter Vereinigung mit Saskia. Diabolische
Cleverness.
Um sein Ziel zu erreichen, muss Lemorne sich vergegenwärtigen,
wie Hofman auf eine gegebene Situation reagieren könnte. Welche Alternativen
stünden ihm in der und der Situation offen? Mindestens eine dieser Optionen
müsste ihn dem oben erwähnten Ziel einen Schritt näher bringen,
während Lemorne für alle anderen Alternativen Hofmans einen Konter
parat haben muss, der Hofman dazu bewegt, letztlich doch die (von Lemorne) gewünschte
Wahl zu treffen. Wie erreicht Lemorne das? Er nutzt Hofmans emotionale Bindung
an Saskia. Er kann darauf bauen, dass Hofman dem Versprechen, über Saskias
Schicksal aufgeklärt zu werden, alles andere unterzuordnen bereit ist. Und er kann sich darauf verlassen,
dass er trotz der Offenbarung, für Saskias Verschwinden verantwortlich
zu sein, nichts von Rex Hofman zu befürchten hat, solange dieser über
ihr Schicksal im Ungewissen ist.
Konkret sehen Lemornes Überlegungen so aus: Wenn
er sich Hofman als Entführer Saskias zu erkennen gibt, könnte Hofman
die Kontrolle verlieren und Lemorne umbringen. Tatsächlich geht er auch
zunächst auf Lemorne los und prügelt auf ihn ein ohne dass Lemorne
Gegenwehr leistet. Lemorne weiß, dass Hofman sich trotz aller Verzweiflung
bewusst ist, dass er sich um jede Chance bringen würde, zu erfahren, was
mit Saskia geschehen ist, wenn er ihn umbrächte. Lemorne setzt darauf,
dass Hofmans Neugierde größer ist als seine Vergeltungssucht. Er
behält recht.
Ferner könnte Hofman sich mit der Absicht tragen,
Lemorne bei der Polizei zu melden. Aber was könnte er den Ermittlungsbehörden
erzählen? Er hat nichts gegen Lemorne in der Hand. Er hat keine Zeugen,
es gibt kein Motiv, es besteht nicht die leiseste Verbindung zu Saskia und Rex.
Und er ginge wiederum das Risiko ein, nie zu erfahren, was Saskia zugestossen
ist, falls Lemorne aus einem Mangel
an Beweisen frei käme. Hofman hält still und Lemornes Strategie funktioniert
wie erwartet.
Schlussendlich könnte Hofman auf Lemornes Vorschlag
eingehen, zu ihm in den Wagen steigen und mit ihm nach Frankreich fahren. Nur
dann würde Lemorne ihm alles erzählen. Hofman willigt ein und Lemornes
Rechnung geht auf.
Die nächste entscheidende Situation nach der Kontaktaufnahme
ergibt sich, als Lemorne Hofman vor die Wahl stellt mit Schlafmittel versetzten
Kaffee zu trinken. Die Szene spielt sich auf der Raststätte ab, wo alles
begann. Dort entspinnt sich folgender Dialog, in dem sich Punkt für Punkt
die Dynamik von Lemornes Vorstoß, Hofmans Reaktion und Lemornes Konter
abspielt:
Hofman nach langer Pause: „Was haben Sie ihr angetan?“
Lemorne erwidert: „Ich erzähl‘s Ihnen, ich hab‘s
versprochen, ich erzähl’ es Ihnen, indem ich Sie genau das erleben lasse,
was sie erlebt hat ... Sie haben keine [andere] Wahl.“
Hofman bekniet Lemorne: „Gibt es denn keine andere Möglichkeit?
Ich will nicht, dass Sie betraft werden. Ich werde Sie nicht anzeigen. Sie sind
mir völlig gleichgültig. Was ist ihr zugestossen? Mehr will ich gar
nicht wissen!“
Lemorne ungerührt: „Das ist mir klar, Monsieur Hofman.
Ich kann mich gut in ihre Lage versetzen. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie mich
nicht anzeigen wollen, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, ihnen zu
glauben. Verstehen Sie? Ich glaube Ihnen, aber ich bin verpflichtet so zu tun,
als glaubte ich Ihnen nicht. Also trinken Sie, nur so finden Sie die Wahrheit
heraus.“
In einem Anflug von Verzweiflung und Irrationalität
kippt Hofman Lemorne den Kaffee ins Gesicht und entreißt ihm die Autoschlüssel.
Lemorne reagiert gelassen: „Monsieur Hofman, wann begreifen Sie es endlich?
Was nutzen Ihnen denn die Schlüssel? Sie können mir nicht das Geringste
beweisen.“
Hofman hält ihm entgegen: „Sie bluffen!“
Aber Lemorne pariert auch diesen Vorstoss: „Nehmen wir
an, Sie haben recht, aber sind Sie sicher? Genau das ist Ihr Problem. Sie müssen
die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass man mir nicht das Geringste nachweisen
kann und damit haben Sie Ihre Chance verpaßt. Das, was sich in Ihrem Kopf
abspielt, analysiere ich seit drei Jahren.Von mir aus gehen Sie,
bringen Sie die Schlüssel zur Polizei, aber dann erfahren Sie niemals,
was Mademoiselle Saskia zugestossen ist. Wenn Sie das aber trinken, erfahren
Sie es.“
Müde vor Verzweiflung erwidert Hofman: „Ich weiß
schon genug, der Rest ist mir völlig egal, ich gehe jetzt!“, und wendet
sich ab.
Lemorne ruft ihm nach: „Aber diese Ungewissheit! Diese
ewige Ungewissheit, Monsieur Hofman! Damit werden Sie nicht fertig. Ich wollte
Ihnen nur einen Dienst erweisen.“ Hofman besinnt sich und trinkt. Als er wieder zu sich
kommt, weiß er endlich, was Lemorne mit Saskia angestellt hat ...
Auf der Fahrt nach Frankreich plaudert Lemorne aus dem
Nähkästchen, in dem Bewusstsein, die Situation jederzeit unter Kontrolle
zu haben. Er beginnt, Hofman über seine Motive für Saskias Entführung
ins Bild zu setzen, indem er einiges von sich preisgibt: „Als ich 16 war, machte
ich eine Entdeckung: [wir sehen die Szene auf dem Balkon und Lemornes Sprung]
Jeder trägt sich einmal mit diesem Gedanken, aber kaum einer springt wirklich.
Ich habe mir gesagt: Ich stelle mir vor, dass ich springe. Es kann doch nicht
vorherbestimmt sein, dass ich nicht springe. Wer oder was hat das Recht vorherzubestimmen,
dass ich nicht springe? Also, um diese Vorherbestimmung ad absurdum zu führen,
muss man springen ... ich schlug verdammt hart auf und brach mir den linken
Arm und zwei Finger. Wieso bin ich gesprungen? Eine kleine Anomalie in meiner
Persönlichkeit, nicht wahrnehmbar für die Mitmenschen. Sie finden
mich in den Enzyklopädien unter „Soziopath“, in den neueren Ausgaben.“
Hofman wirkt desinteressiert und fragt nur tonlos: „Haben
Sie Saskia vergewaltigt?“
Lemorne erwidert leicht indigniert: „Wofür halten
Sie mich?“, und fährt fort: „Es dauerte 26 Jahre, bis mir die Idee für
ein neues Experiment [man achte auf die Wortwahl!] kam ...“. Es folgt
die Szene auf der Brücke, wo Lemorne gerade ein Foto seiner Familie aufnimmt
als ein kleines Mädchen in den Kanal fällt. Lemorne reagiert sofort
und springt ins Wasser. Nachdem die Kleine von Lemorne geborgen wurde, nennt
die jüngere Tochter Lemornes ihn einen Helden, was Lemorne mit der Erklärung
kommentiert: „Natürlich mein Schatz, ich bin ein großer Held ...
aber misstraue jedem Helden. Ein Held ist nur ein Mensch, der zu einem Exzess
fähig ist ...“
Lemorne zu Hofman: „Meine
Tochter war voller Bewunderung für mich, aber ich sagte mir, dass ihre
Bewunderung für mich überhaupt keinen Wert hat, solange ich mir nicht
selbst bewiesen habe, dass ich absolut unfähig bin, eine schlechte Tat
zu vollbringen [eigentlich sollte es richtig heißen: „... , dass ich auch
fähig bin, ...“].“
Lemorne
erinnert mit dieser Überzeugung an Nietzsche, der meinte, damit
der Mensch vor sich Achtung haben kann, muss er fähig sein, auch böse
zu sein. Es ist allerdings nicht bekannt, ob Nietzsche in der
Umsetzung seiner Überzeugungen so weit ging wie Lemorne ...
Lemorne fährt in
seinen Erläuterungen fort: „Und so wie schwarz ohne weiss nicht existieren
kann, habe ich mir logischerweise vorgenommen, die schrecklichste Tat zu begehen,
die ich mir vorstellen konnte. Sie sollten vielleicht wissen, dass Mord für mich nicht das
Schlimmste ist.“
Als Lemorne mit 16 vom Balkon springt, geht es ihm um
die Entscheidung zwischen Fatalismus und Selbstbestimmung - zugunsten der letzteren;
Lemorne ist überzeugt von der Fähigkeit bzw. Möglichkeit zur
freien Entscheidung und will es sich nur noch beweisen. Die Frage ist also für
ihn nicht offen. Die Antwort steht für ihn außer Zweifel, er verlangt
von sich nur noch den Beweis. Moralische Kategorien spielen hier keine Rolle.
Insofern macht ein Sprung vom Balkon ohne äußerlich zwingenden Anlaß
einen Menschen noch nicht zum Soziopathen. Diese Disposition ergibt sich erst
aus seinem nächsten „Experiment“. Als er 26 Jahre später in einen
Kanal springt, um ein kleines Mädchen vor dem Ertrinken zu retten, veranlasst
ihn die Entscheidung gesprungen zu sein und damit Gutes vollbracht zu haben
zu der Überlegung, dass der moralische Wert dieser Handlung von der verbürgten Fähigkeit abhängt, auch Böses tun zu
können. Lemorne gibt sich mit dem Potentialis Ich könnte ja, wenn ich nur wollte ... (wie beim Balkonsprung) nicht zufrieden. Dem naturwissenschaftlichen
Grundsatz verbunden, dass das Denkmögliche nur dann als reale Möglichkeit
gilt, wenn es (im Experiment) realisiert wurde und nach Belieben realisierbar
ist (eine Messung muss reproduzierbar sein), akzeptiert Lemorne die Möglichkeit
des Bösen als Alternative zum Guten nur dann, wenn sie auf der geprüften
und erwiesenen Fähigkeit Böses tun zu können beruht.
Der
Gedanke, der Wert des moralisch Guten hänge wesentlich von der Existenz
unmoralischer Alternativen ab, ist nur schwerlich in Zweifel zu ziehen und noch
kein Beleg für abseitige Dispositionen, in diesem Fall Soziopathie. Was Lemorne zum Soziopathen
macht, ist ein Tausch der Gewichtung von Erkenntnis und Moral. Raymond Lemorne
holt die Moral ins Labor. Er verabsolutiert die Position des Experimentatoren
und des Experimentes, indem er alles andere dem unterordnet, also auch moralische
Kategorien - das stempelt ihn zum Soziopathen. Sinn und Bedeutung moralischer Werte
bestehen ja gerade darin, dass sie über allem stehen, was die Gestaltung von Lebenswelten bestimmt,
also Technologie, Administration, Ökonomie, Wissenschaft, Kunst, ...
Raymond Lemorne begeht die Tat wie ein Experiment, weil
sie für ihn ein Experiment darstellt. Man hat Lemorne geradezu vor Augen, wie er nach
erfolgreichem Tun sein Unternehmen mit einem quod erat demonstrandum quittiert. Das Schicksal von Rex Hofman und Saskia Wagter
ist nur eine Folge, zynisch gesprochen ein Kollateralschaden von Lemornes Aktivitäten,
nicht sein eigentliches Ziel, wie es bei vergleichbaren Kapitalverbrechen der
Fall ist. Lemorne sieht sich aufgrund einer metaethischen Fragestellung zu einem,
wie er es nennt, Experiment veranlasst, das mit einem hohen Preis verbunden
ist (nur leider nicht für ihn, hier kommt der moralische Aspekt ins Spiel).
Lemorne trifft diese
Entscheidung nicht leichtfertig, er weiß, was er da macht – die moralische
Schwere ist ja gerade der Sinn des Ganzen – und er würde den Preis wohl
selbst zahlen, wenn er nur könnte (siehe Balkonsprung). Es stellt sich
bei Lemorne allerdings die Frage, ob er Saskia verschwinden läßt, weil er diese
Tat als böse empfindet, weil sie sein Gewissen strapaziert oder auch sein Mitleid
herausfordert, über das er sich mit der Tat hinweg setzt, oder aber weil
sie in seiner Vorstellung das denkbar Schlimmste wäre, wenn er denn Mitleid empfände. Man erinnere sich, dass Lemorne im Zuge der Vorbereitungen
zu Saskias Verschwinden nach den Versuchen, geeignete Opfer zu ködern,
die Relaxationszeit seines Pulses misst; sein Puls ist erhöht, es läßt
ihn also nicht kalt! Angesichts dessen kann man nicht ausschliessen, dass Lemorne
sich selbst zu der Tat zwingt und die Ausführung derselben ihn einige Überwindung
kostet; eher untypisch für einen pathologischen Täter. Lemorne handelt
auch nicht triebmotiviert, er handelt nicht aus einer Kränkung heraus, er handelt nicht aus Gründen der Minderwertigkeit (sozial unterpriviligiert)
und er ist auch nicht von
Affekten getrieben.
Das
Böse geht für gewöhnlich mit niederen Beweggründen einher
(Bereicherung, Verdecken einer anderen Straftat, Rache, ... ), nicht so bei Lemorne. Lemorne ist auch
keine zweigeteilte, schizophrene Persönlichkeit wie etwa Stevensons Dr.
Henry Jekyll. Abgesehen von seiner
Neigung moralische Kategorien wissenschaftlichen Standards unterzuordnen, ist
Lemorne ein Mensch wie alle anderen auch; in mancherlei Hinsicht vielleicht
sogar mit mehr Größe. Nur in jenem Punkt unterscheidet er sich von
anderen Menschen ohne jede pathologische Ausprägung. Raymond Lemorne ist
ein Musterbeispiel für die bloße Faktizität des Bösen.
Er verkörpert ein Diktum Kafkas:
Das Böse ist manchmal
in der Hand wie ein Werkzeug,
erkannt oder unerkannt läßt
es sich, wenn man den Willen
hat, ohne Widerspruch zur Seite
legen.
Während das Böse zur Gänze diesseitig
ist, ist die Idee des Guten metaphysisch. Das Böse gibt es nicht in dem Sinne wie es das Gute gibt. Man kann zwar an das Gute glauben, aber nicht
an das Böse, wie Kafka anmerkt
Es kann ein Wissen vom Teuflischen
geben, aber
keinen Glauben daran, denn
mehr Teuflisches als
da ist, gibt es nicht.
Das bedeutet, dass wir uns bei moralisch relevanten Entscheidungen
nicht auf eine jenseitige Macht des Bösen als Gegengewicht zum Guten berufen
können, an welche wir die Möglichkeit eigener böser Taten gleichsam
delegieren können, nach dem Motto „Der Weg des Bösen ist da, ich könnte
ihn jederzeit beschreiten“. Der moralische Habitus eines jeden einzelnen hängt
wesentlich von der Gelegenheit ab, von eigener Hand Böses verüben
zu können (oder Gutes zu unterlassen) – kurzum, jeder von uns ist sein
eigener Teufel. Der Mensch ist folglich ein Diener des Guten und Herr seines Bösen. Die Moral des Menschen umfaßt beides.
Das eine kann nicht ohne das andere gedacht und vor allem praktiziert werden,
wenn der Anspruch der Moralität erhoben wird. Beide Größen sind
auf eine Weise miteinander verschränkt, dass das Gute zwar seinen Wert
durch die Existenz von Alternativen des Bösen erhält, diesem Wert
sein Gewicht jedoch erst dadurch zukommt, die gegebenen Alternativen des Bösen
eben nicht zu wählen.
Das Wissen um den ersten Teil dieser Verbindung gepaart
mit dem mangelnden Bewusstsein um den zweiten bildet die Voraussetzung von Lemornes
Untaten. Wenn dieses Verständnis von Moral dann noch dem Streben nach Erkenntnis
untergeordnet wird, ist der Weg für derartig abseitige Vergehen geebnet.
Marcus
Andreasson
Spurlos
verschwunden
SPOORLOOS
Niederlande
/ Frankreich - 1988 - 107 min. - Erstaufführung: 4.1.1993 PRO 7 - Produktionsfirma:
Golden Egg/Ingrid - Produktion: Anne Lordon, George Sluizer
Regie:
George Sluizer
Buch:
Tim Krabbé, George Sluizer
Vorlage:
nach einem Roman von Tim Krabbé
Kamera:
Toni Kuhn
Musik:
Henny Vrienten
Schnitt:
George Sluizer, Lin Friedman
Darsteller:
Gene
Bervoets (Rex Hofman)
Johanna
Ter Steege (Saskia)
Bernard-Pierre
Donnadieu (Raymond Lemorne)
Gwen
Eckhaus (Lieneke)
Bernadette Le
Saché (Simone Lemorne)
Tania Latarjet
(Denise)
Lucille Glenn
(Gabrielle)
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